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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Kopf

Es waren einmal eine Gärtnerin und eine Königin, die wurden beide zur selben Zeit schwanger, und das gab der Königin zu denken. Sie ließ darum die Gärtnerin bitten, sie möge zu ihr kommen, damit sie ihr etwas sage. Die Gärtnerin kam also zu ihr und fragte: »Ihr befehlt, Frau Königin? Was wollt Ihr von mir, einer einfachen Gärtnerin?«

Diese antwortete: »Höre, was ich dir sage, wir beide sind gleichzeitig in andre Umstände gekommen. Darum also, wenn du eine Tochter bekommst und ich einen Sohn, werden wir beide verheiraten. Umgekehrt, wenn du einen Sohn bekommst und ich eine Tochter, verheiraten wir sie auch.«

Sagte die Gärtnerin: »Frau Königin, werdet Ihr Euch denn herablassen wollen, mit mir verschwägert zu sein?« — »Ich will mich mit dir verschwägern -was kümmert's dich?« — »Aber wenn wir beide eine Tochter oder beide einen Sohn bekommen, was dann?« — »Wenn wir beide das gleiche bekommen, werden wir dennoch gut Freund bleiben und uns gern haben. Aber wenn du jetzt nicht auf mich hörst und gegen meinen Willen handelst, lasse ich dich köpfen.«

Die Gärtnerin ging fort und ging nach Hause. Und als drei weitere Monate vergangen waren, kam sie nieder und gebar einen Kopf.

»He«, sagte sie zu den Frauen, die dabei waren, »werft ihn weg! Wahrscheinlich hatte ich eine Krankheit, daß ich nur einen Kopf zur Welt gebracht habe. Wie dem auch sei - so oder so -, wird man mich doch enthaupten.«

Um diese Tage kam auch die Königin nieder. Und man verkündigte den Hof leuten, daß sie eine Tochter geboren habe. Die Königin aber sagte zu ihren Kammerfrauen: »Ich möchte doch gern wissen, was die Gärtnerin



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zur Welt gebracht hat. Geht und seht, ob sie auch schon ein Kind hat!«

So gingen sie denn zu der Gärtnerin, aber als man sie danach fragte, sagte sie immer nur: »Was immer ich euch sagen werde -die Königin wird mich ja doch köpfen lassen.«

»Aber warum denn - was hast du denn gemacht?«

»Ich habe nur einen Kopf zur Welt gebracht, und ich habe ihn in den Häusertrümmern wegwerfen lassen.«

Kaum hatten die Dienerinnen das der Königin berichtet, als diese sagte: »Lauft schnell, und holt mir den Kopf!«

Und die Dienerinnen gingen wieder zu der Gärtnerin, damit diese ihnen den Kopf gäbe, um ihn zu ihrer Herrin zu nehmen.

Sie fanden den Kopf und brachten ihn ihr. Die Königin befahl sofort, Wasser heiß zu machen, ließ den Kopf baden und salben - und schön geschmückt setzten sie ihn auf die Kommode.

Als nun die Königstochter herangewachsen war und in das Alter kam, um verlobt zu werden, ließ die Königin der Gärtnerin wiederum sagen, sie möge zu ihr kommen.

»So«, sagte sie, »nun werden wir unsere Kinder verloben und werden verschwägert sein.«

»Wie machen wir das bloß, Frau Königin, wo es doch nur ein Kopf ist!?« wandte die Gärtnerin ein.

»Ich will es so, daß wir sie verloben, und so machen wir es!«entgegnete die Königin. Sie ließ den Priester holen, und der verlobte sie*. Und nachdem sie ein, zwei Jahre verlobt gewesen waren, wurde die Hochzeit gerichtet.

Am Abend, als die Jungverheirateten in ihrer Kammer allein gelassen wurden, siehe -da schüttelte sich der Kopf, und heraus kam ein schöner Jüngling, der sagte: »Verrate niemandem, daß ich ein junger Mann bin, denn wenn du mich verrätst, verlierst du mich!« Das Mädchen sagte niemandem, daß es einen so schönen Mann hatte, und sie verlebten ihre Nächte und ihre Tage in Einsamkeit.

Nun begab es sich einmal, daß der Vater der Prinzessin ein Dschirritai



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veranstalten wollte*. Die Rennbahn wurde vor dem Palast gerichtet, und als alle Vorbereitungen getroffen waren, kam der Jüngling aus dem Kopf heraus, tat herrliche rote Kleider an und sagte: »Ich werde auch spielen gehen, aber verrate nicht, daß ich dabei bin!«

Er nahm einen schönen Rotfuchs und ritt in die Bahn - und das Mädchen setzte sich ans Fenster, um zuzuschauen, wie er mit den andern Dschirritai spielte. Ihrer Mutter mißfiel das, und sie sagte: »Komm herein ins Zimmer und sitze ruhig bei deinem Kopf, nicht daß der Anblick eines anderen dich etwa betöre!«Die Prinzessin aber antwortete: »Keiner wird mich je betören -ich bleibe meinem Kopf treu. Laß mich hier sitzen.«Sie erfreute sich an dem Spiel, und als es zu Ende war, kam der Jüngling zurück, verschwand in dem Kopf - und keiner hatte ihn gesehen.

Als wiederum ein Dschirritai veranstaltet wurde, nahm er wieder daran teil, aber diesmal in einem weißen Anzug und auf einem weißen Pferd. Und wieder rief die Mutter ihre Tochter: »Komme herein, sitze bei deinem Kopf, nicht daß dich jemand betört!« Sie aber antwortete: »Fürchte nichts, kein anderer wird mich je betören, ich bin glücklich mit meinem Kopf.«Als das Spiel vorüber war, schlüpfte der Jüngling hinein, verschwand in seinem Kopf - und keiner hatte ihn gesehen.

Nach einigen Tagen gab der König wieder ein Dschirritaispiel. Diesmal legte der Jüngling schwarze Kleider an und bestieg einen Rappen. »Jetzt«, sagte er, »wirst du mich verraten, denn du wirst es nicht mehr aushalten. Und wenn du mich verrätst, muß ich von hier verschwinden, weder der Kopf noch irgendeine Spur wird von mir bleiben. Wenn du mir nachgehen wirst, um mich zu finden, wirst du lange gehen müssen, so lange, bis die Krähen ein Nest auf deinem Kopfe bauen werden. Du mußt weitergehen, bis die jungen Krähen flügge werden und das Nest zerfällt. Und da, wo das Nest zerfällt, bleibe stehen und errichte eine Herberge. Erst danach kannst du mich finden.«



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Während er also wieder Dschirritai spielte, fing die Mutter wieder an, das Mädchen mit ihren Reden zu quälen, so daß diese ärgerlich wurde und ausrief: »Was habe ich nötig, einen anderen Mann anzusehen, mein Mann ist wie ein Engel so schön und so gut - und siehe, wie er da unten Dschirritai spielt!«Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, als sowohl Reiter als auch Kopf verschwanden. Als sie dessen gewahr wurde, fing sie an zu weinen und zu wehklagen, und wollte nur gehen, um ihn zu finden. Die Mutter jammerte und bat: »Bleibe doch, wir werden schon einen andern finden und dich wieder verheiraten!« Aber diese wollte von nichts hören und sagte nur immer, sie wolle gehen, um ihren Mann zu finden. Man machte ihr ein Paar eiserne Schuhe, und sie begab sich auf ihren einsamen Weg.

Sie ging und ging - und auf ihrer langen Wanderschaft bauten die Krähen ein Nest auf ihrem Kopfe. Sie ging und ging -während die Vögel brüteten -, sie ging und ging, und die jungen Krähen krochen aus, wuchsen, wurden groß und flogen. Das Nest zerfiel. Und da, wo es von ihr abfiel, baute sie eine Herberge und einen jeden, der vorbeiging und eine Geschichte erzählen konnte, den nahm sie auf, gab ihm zu essen und ließ ihn umsonst übernachten.

Zu dieser Zeit kam ein Mädchen mit seinem blinden Großvater vorbei. Sie setzten sich an den nahen Fluß, um ihr trockenes Brot anfeuchten zu können und zu essen. Aber im Augenblick, als die Kleine das Brot ins Wasser tauchte, riß das Wasser es ihr aus der Hand. Erschrocken lief sie hinter dem Brot her, das schnell und schneller wegschwamm. Wie sie so hinterherlief, fiel sie in ein Loch, sank tiefer und tiefer und landete in einer großen Halle, in der ein Koch stand und einhundertundein Portionen Essen in einem Kessel kochte. Er gab ihr eine davon zu essen, sie aß, doch als sie fertig war, gab er ihr eine Ohrfeige, verwandelte sie in eine Stecknadel und steckte sie in die Matte.

Da sah sie, wie Wassernixen ankamen, die brachten einen Kopf, rollten ihn herum und sagten dabei: »Für deine Gesundheit und die Erlösung der Liebe, die du genossen und verloren hast!« Darauf nahmen sie ihn wieder auf, legten ihn an einen Platz und gingen in die Halle, um zu essen.

»Es riecht nach Menschenblut«, sagten sie. »Das Menschenblut bin ich«, antwortete der Koch, »und wenn ihr mich essen wollt, dann eßt mich!«

»Na, das geht ja nicht, daß wir unsern Koch essen«, erwiderten sie,



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setzten sich hin und aßen weiter. Als sie gegessen hatten, aufgestanden und wieder mit dem Kopf gegangen waren, gab der Koch der Nadel einen Klaps, und sie wurde wieder zum Mädchen.

»Jetzt geh und lauf«, sagte der Koch, »denn wenn du hierbleibst, kannst du dich nicht vor ihnen retten.«

Das Mädchen lief, was es konnte, bis es seinen Großvater wiederfand. Der schimpfte: »Wie lange bleibst du eigentlich und läßt mich hier allein, und ich sehe nicht, wohin ich gehen kann?«

»Sei still, Großvater, ich will dir erzählen, was ich gesehen habe, denn was ich gesehen habe, ist besser als ein Märchen!«

»Halt deinen Mund, du Hundebastard! Läßt mich hier, und ich muß frieren. Und willst mir noch obendrein erzählen, was du heute gesehen hast?!«Und er machte sich auf, und sie gingen zum Gasthaus und setzten sich. Der Alte fing an, eine Geschichte zu erzählen, aber die Kleine verging vor Unruhe, um auch zu erzählen. Er wurde ärgerlich mit ihr und fuhr sie an: »Ich sage dir, halte deinen Mund!«

»Aber ich will doch nur sagen, was ich heute gesehen habe!« »Nein, du wirst gar nichts sagen!«

Die Königstochter wurde aufmerksam und sagte zu dem Alten: »Laß sie ruhig sagen, was sie zu sagen hat, vielleicht hat sie Glück und gewinnt die ganze Herberge!« Und so geschah's.

Die Kleine fing an zu erzählen, wie ihr das Brot aus der Hand gefallen war, wie sie vergebens versucht hatte, es zu erhaschen, wie sie plötzlich in ein Loch gefallen war und sich in einer Halle wiederfand. »Und wie ich da zu dem Koch kam, legte er mir zu essen vor, und nachdem verwandelte er mich in eine Stecknadel und steckte mich in die Matte . da kamen viele Nixen, die hielten einen Kopf, den kullerten sie rum und sagten zu ihm: >Für deine Gesundheit und die Erlösung der Liebe, die du genossen hast!«

»Ach«, sagte die Königstochter, »erzähle nur, erzähle, denn das Gasthaus ist dein!« und nahm sie auf den Schoß, um die ganze Geschichte zu hören. ». . . Und nach dem«, fuhr die Kleine fort, »gab er mir einen Klaps, da wurde ich wieder ein Mädchen, lief zu meinem Großvater und kam her, um es dir zu sagen.«

Sofort ging die Königstochter und überschrieb das ganze Gasthaus auf die Kleine, gab ihr so viel Geld, wie nötig war, und ließ sie mit dem Alten im Gasthaus. Das Mädchen mußte ihr noch den Platz zeigen, wo alles geschehen war; sie gingen zusammen an den Fluß und mit dem



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Wasser bis zu der Stelle, wo sie versunken war. Die Prinzessin ging hinein, versank bis in die große Halle und fand den Koch.

»Ach«, sagte der Koch, »was bist du hergekommen, jetzt werden sie dich und mich fressen!«

»Ich bin vom Weg abgekommen und gestürzt.«

Er legte auch ihr zu essen vor, sie aß, doch kaum war sie fertig, da gab er ihr einen Schlag, und sie wurde zur Stecknadel, die steckte er in die Matte.

Da kamen auch schon die Nixen, hatten den Kopf bei sich, warfen ihn herum und sagten dabei: »Für deine Gesundheit und die Erlösung der Liebe, die du genossen und verloren hast!«

Als sie dann zum Essen gingen, sagten sie: »Es riecht nach Königsblut!«

»Das Königsblut bin ich«, sagte der Koch, »und wenn ihr mich fressen wollt, freßt mich!«

»Wo werden wir unsern Koch essen!« riefen sie, setzten sich hin und aßen weiter. Als sie wieder fort waren, gab er der Nadel einen Klaps, und sie wurde wieder zum Mädchen.

»Fliehe«, sagte er, »denn sie werden dich und mich fressen!«

»Nein«, sagte sie, »ich muß erst sehen, wo sie den Kopf hingelegt haben.«

Sie ging und fand den Kopf, weinte und jammerte: »Oh mána mou*, was du gesagt hast, ist mir widerfahren!« Da stieg er aus dem Kopf. »Oh, bist du gekommen und hast mich endlich gefunden!«sagte er beglückt.

»Ja, aber nun sage mir, wie ich dich von hier wegbekomme.«

»Du mußt gehen, da ist ein Berg und bei dem Berg ist ein großes Wasserbecken bei einem Myrtenstrauch. Du mußt es gut reinigen, mit Myrten ausreiben und Wohlgerüche hineingießen. Danach verstecke dich, bis die Nixen kommen, um dort zu baden. Sie werden mich als kleines Kätzchen bei sich haben und werden sich wundern, wer ihnen das Bad so schön gerichtet hat. Da mußt du hervorkommen und ihnen sagen: ich habe das alles so schön gemacht. Sie werden dich fragen: was willst du, das wir dir geben? Dann antworte ihnen: du wollest das Kätzchen. «



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So machte sie sich denn wieder allein auf, fand den Berg, scheuerte das Brunnenbecken, rieb es mit Myrten aus und goß Wohlgerüche hinein, so daß das Becken duftete. Dann versteckte sie sich hinter dem Myrtenstrauch und wartete.

Die Nixen kamen mit dem Kätzchen und riefen: »Oh, wer hat uns diesen Gefallen getan, dem wollen wir einen noch größeren tun!«

Die Königstochter sprang hinter dem Myrtenstrauch hervor und sagte: »Ich habe es gemacht.«

»Was willst du, das wir dir für deine Wohltat geben? Was du uns sagen wirst, werden wir dir schenken.«

»Ich möchte, daß ihr mir das Kätzchen gebt. Ich bin so ganz allein. Da habe ich wenigstens dieses zum Spielen.« Die Nixen berieten.

Eine sagte: »Wir werden es ihr geben.«Die andere: »Warum sollen wir ihr's geben?«Noch eine: »Es macht nichts, gib es ihr ruhig, denn sie weiß ja nicht, was es ist. Es wird doch von ihr weglaufen und wieder zurückkommen. «

Und sie gaben es ihr. Sie waren nicht weit gegangen, da schüttelte sich das Kätzchen, und siehe -da ward es der schöne junge Mann.

»Jetzt brauchen wir uns nirgends mehr zu verstecken, das ist vorbei!« Sie gingen zurück zu dem kleinen Mädchen in der Herberge. Die war voll mit Gästen, die Dienstboten halfen, und so war es versorgt.

Da machten sie sich auf und gingen zurück zu Vater und Mutter der Königstochter. Die riefen die Gärtnerin, die nicht ahnte, was für einen schönen jungen Sohn sie hatte.

»Nun brauchen wir uns nicht mehr zu verbergen!«

Da gab's eine große Feier, es wurde gegessen und getrunken, es wurde Dschirritai gespielt. Und so lebten sie alle fröhlich, bis an ihr Ende - und wir leben noch besser!


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