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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod

Es waren einmal ein großer König und eine Königin, beide jung und schön, und da sie keine Kinder bekamen, hatten sie oftmals alles getan, was dazu nötig ist; sie waren zu den Zauberern und Weisen gegangen, damit sie in die Sterne sähen und ihnen ansagten, ob sie Kinder bekämen, doch umsonst. Endlich hörte der König, in einem nahen Dorfe befände sich ein kundiger Greis, und schickte nach ihm. Der jedoch sagte dem Boten, wer ihn brauche, möge selber zu ihm kommen. So begaben sich König und Königin mit einigen Großen, Kriegsleuten und Dienern als Gefolge zum Hause des Alten. Da sie der Alte von ferne kommen sah, ging er ihnen entgegen und sagte sogleich zu ihnen:

»Seid mir willkommen! Aber weshalb kommst du, König? Der Wunsch, den du hegst, wird dir nur Schmerz bringen.«

»Nicht hiernach zu fragen, bin ich gekommen«, sagte der König, »sondern, damit du mir eine Arznei gibst, so du eine hast, auf daß wir Kinder bekommen.«

»Ich hab sie«, erwiderte der Alte. »Aber ihr werdet nur ein Kind bekommen. Es wird ein Schönkind sein und sehr lieblich, und ihr werdet es nicht bei euch behalten.«

Der König und die Königin nahmen die Arznei entgegen und kehrten fröhlich in ihren Palast zurück, und nach etlichen Tagen fühlte sich die Königin schwanger. Das ganze Königreich, der ganze Hof und alle Diener freuten sich darüber. Bevor aber noch die Stunde der Geburt da war, begann das Kind zu weinen, und kein Zauberer konnte es beruhigen. Da fing der König an, ihm alle Güter der Welt zu versprechen, aber auch das vermochte es nicht zum Schweigen zu bringen.

»Sei stille, Vaterliebling«, sagte der König, »ich will dir das und das Königreich geben; sei stille, Söhnchen, ich will dir die und die Königstochter geben«, und noch viel mehr desgleichen. Endlich, da er sah,



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es wollte nicht stille werden, sagte er: »Sei stille, mein Junge, ich will dir Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod geben.«

Da schwieg das Kind und kam zur Welt. Die Hofleute jedoch schlugen die Pauken und bliesen die Trompeten, und rings im Königreich herrschte eine ganze Woche lang Festjubel.

Und der Knabe nahm zu wie an Jahren so an Geist und Kühnheit. Er ging in die Schulen und zu den Weisen, und was andere Kinder in einem Jahr lernen, all das lernte er in einem Monat, so daß der König vor Freude außer sich war. Das ganze Königreich pries sich glücklich, einst einen König zu bekommen, so weise und gelehrt wie König Salomo.

Von einer Zeit an jedoch, wer weiß, warum, war der Knabe ganz schwermütig, traurig und in Gedanken versunken. Und eines Tages, gerade als er sein fünfzehntes Jahr vollendete und der König sich mit allen Großen und den hohen Beamten des Reiches zur Tafel setzte und alle fröhlich waren, stand Schönkind auf und sagte: »Vater, die Zeit ist gekommen, da du mir geben sollst, was du mir bei meiner Geburt versprochen hast.«

Als der König das hörte, wurde er sehr bekümmert und sprach: »Aber woher, mein Söhnlein, soll ich dir etwas so Unerhörtes geben? Ich hab' es dir damals nur versprochen, damit du ruhig wurdest.« »Wenn du, Vater, es mir nicht geben kannst, so muß ich durch die ganze Welt ziehen, bis ich das Versprochene, weshalb ich zur Welt kam, finde.«

Da fielen der König und alle Großen auf die Knie und baten ihn, das Reich nicht zu verlassen. »Denn«, sagten die Großen, »dein Vater ist jetzt alt, und wir wollen dich auf den Thron erheben und dir die schönste Königin unter der Sonne zur Gemahlin geben.« Aber felsenfest blieb er bei seinen Worten.

Als nun der Vater all das sah, gab er ihm Urlaub und ging, ihm für den Weg Mundvorrat, und was er sonst noch brauchte, vorzubereiten. Hierauf begab sich Schönkind in die königlichen Ställe, wo die schönsten Rosse des ganzen Königreichs standen, um sich eines auszusuchen. Doch sowie er eines mit der Hand beim Schweife nahm, warf er es hin, und alle Pferde stürzten derart zu Boden. Schließlich, als er schon hinausgehen wollte, blickte er noch einmal im Stalle umher und bemerkte in einem Winkel ein rotzkrankes, schwäriges, elendes Pferd und trat zudem. Als er jedoch dieses mit der Hand am Schwanze ergriff, wandte es den Kopf nach ihm und sagte:



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»Was befiehlst du, Herr? Dank sei Gott, daß er mir dazu verhalf, noch einmal die Hand eines Helden auf mir zu spüren.«

Und es stemmte die Füße auf und blieb kerzengerade stehn. Da sagte ihm Schönkind, was er beabsichtige, und das Pferd sprach zu ihm: »Damit dein Wunsch in Erfüllung gehe, mußt du von deinem Vater das Schwert, die Lanze, den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen und die Kleider, die er als Jüngling trug, verlangen. Mich aber mußt du sechs Wochen lang mit eigner Hand versorgen und mir den Hafer in Milch kochen.

Er verlangte nun vom König die Sachen, die ihm das Pferd angeraten hatte, und der ließ den Haushofmeister rufen und befahl ihm, alle Kleidertruhen aufzuschließen, damit sein Sohn sich daraus wähle, was ihm gefalle.

Schönkind suchte drei Tage und drei Nächte; am Ende fand er auf dem Grunde einer alten Truhe die Waffen und Gewänder, die sein Vater als Jüngling getragen hatte, aber arg verrostet. Er ging daran, sie mit eigener Hand vom Roste zu reinigen, und nach sechs Wochen war er so weit, daß die Waffen wie ein Spiegel glänzten. Währenddessen besorgte er auch das Pferd, wie es ihm gesagt hatte. Viel Mühe hatte er, aber nicht umsonst.

Als das Pferd von Schönkind erfuhr, Kleidung und Waffen seien wohl gesäubert und hergerichtet, zur Stunde schüttelte es sich auch, und Geschwüre und Rotz wichen von ihm, und es wurde ganz so, wie es seine Mutter geboren hatte: ein wohlgenährtes, stattliches Roß mit vier Flügeln.

Da Schönkind es also sah, sprach er zu ihm:

»In drei Tagen reiten wir.«

»Glückauf, Herr! Ich bin heute schon bereit, wenn du befiehlst«, antwortete das Pferd.

Am dritten Tag früh war der ganze Hof und das ganze Königreich voll Trauer. Schönkind, in ritterlicher Tracht, das Schwert in der Hand, hoch auf dem Pferde, das er sich ausgesucht hatte, nahm Abschied vom König, von der Königin, von allen großen und kleinen Herren, von den Kriegsleuten und allen Hofbediensteten, die ihn unter Tränen baten, er möge doch von dieser Fahrt abstehen, damit er nicht etwa in sein Verderben gehe. Er aber gab seinem Rosse die Sporen und ritt aus dem Tore, und hinter ihm die Wagen mit Vorrat und Geld und an die zweihundert Kriegsleute, die auf des Königs Befehl ihn begleiteten.



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Nachdem so Schönkind die Marken des Reiches seines Vaters überschritten hatte und in die Wüste gekommen war, verteilte er alle seine Habe unter die Kriegsleute, verabschiedete sie und sandte sie zurück; sich selbst aber nahm er nur so viel Vorrat mit, als das Pferd tragen konnte. Dann schlug er den Weg nach Osten ein und ritt und ritt drei Tage und drei Nächte, bis er auf ein weites Feld kam, wo viele menschliche Gebeine herumlagen. Da er anhielt, um zu rasten, sagte das Pferd:

»Wisse, Herr, daß wir hier auf dem Gebiet einer Spechtin sind, die so böse ist, daß sie jeden, der ihr Gebiet betritt, umbringt. Augenblicklich ist sie bei ihren Kindern, morgen aber wird sie aus dem Walde, den du dort siehst, dir entgegenkommen, um dich zu verderben. Sie ist furchtbar groß, aber erschrick nicht, halte vielmehr den Bogen bereit und schieß nach ihr, aber auch Schwert und Lanze behalte zur Hand, damit du dich ihrer bedienen kannst, wenn es not tut.«

Sie legten sich zur Rast hin; aber bald der eine, bald das andere blieb wach.

Am andern Tag, als sich eben der Morgen rötete, machten sie sich bereit, um durch den Wald zu ziehen. Schönkind sattelte und zäumte das Roß und zog den Gurt fester an als sonst und saß auf. Da aber hörte er auch schon ein schreckliches Hacken. Nun sagte das Pferd: »Halte dich bereit, Herr, denn die Spechtin kommt.«Und wie sie kam, Bruder, riß sie die Bäume nieder; so schnell fuhr sie daher. Aber das Pferd erhob sich wie der Wind, bis es fast genau über ihr war, und Schönkind schoß ihr mit dem Pfeil einen Fuß ab, doch als er den zweiten Pfeil auf sie abschießen wollte, schrie sie:

»Halt ein, Schönkind! Ich tu dir nichts.«

Und als sie sah, daß er ihr nicht glaubte, gab sie es ihm mit ihrem Blute geschrieben.

»Glück zu deinem Pferde, Schönkind«, sprach sie weiter; »das ist mir ein Zaubertier! Wär das nicht, verspeiste ich dich gebraten. Jetzt aber hast du mich zur Strecke gebracht. Wisse, bis heute hat kein Sterblicher sich über meine Grenzen gewagt; ein paar Tolle, die sich's erkühnten, sind gerade noch bis in die Blache gekommen, wo du die vielen Gebeine gesehen hast.«

Sie gingen mit ihr in ihr Haus, und da bewirtete die Spechtin Schönkind und nahm ihn auf wie einen Reisegast. Als sie jedoch am Tische saßen und lustig waren, stöhnte die Spechtin neuerlich vor Schmerz. Zur



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Stunde nahm er den aufbewahrten Fuß aus dem Ranzen und setzte ihn an seine Stelle; und sogleich heilte er an. Die Spechtin hielt vor Freude drei Tage hintereinander Tafel und bat Schönkind, er möge eine ihrer Töchter, die alle schön wie Zinen waren, zur Frau nehmen. Er aber wollte das nicht, sondern sagte ihr offen, was er suche. Darauf sagte sie zu ihm: »Mit dem Pferde, das du hast, und deiner Tapferkeit wirst du es, glaube ich, finden.«

Nach drei Tagen machten sie sich bereit und zogen weiter. Schönkind ritt und ritt wieder, lang und immer länger. Doch als sie über die Grenzen des Reiches der Spechtin gekommen waren, begab er sich auf eine schöne Wiese, die zur Hälfte voll Blüten stand, zur anderen Hälfte ganz versengt war. Da fragte er das Pferd, warum das Gras verbrannt sei, und das Pferd antwortete:

»Hier sind wir auf dem Gebiet einer Skorpionin, der Schwester der Spechtin. Böse, wie sie sind, können sie nicht an einem Ort zusammen leben. Ihre Feindschaft ist entsetzlich, über alle Maßen, eine will der anderen das Land entreißen. Wenn die Skorpionin gar ergrimmt ist, speit sie Feuer und Pech. Man sieht es, sie hat mit ihrer Schwester einen Streit gehabt, und um sie von ihrem Gebiete zu vertreiben, hat sie, wo sie zog, das Gras verbrannt. Sie ist noch schlimmer als ihre Schwester und hat drei Köpfe. Laß uns etwas rasten, und morgen früh seien wir zeitig bereit.«

Am anderen Tage rüsteten sie sich ganz so wie damals, als sie zur Spechtin kamen, und zogen aus. Da hörten sie auch schon ein Geheul und ein Gebrause, wie sie es nie vorher gehört hatten. »Halte dich bereit, Herr, denn die Greifin der Skorpione kommt daher.«

Die Skorpionin, den einen Kiefer am Himmel und den anderen an der Erde, Flammen speiend, kam heran so schnell wie der Wind. Aber geschwinde wie ein Pfeil erhob sich das Pferd, bis es fast genau über ihr war, und stürzte dann etwas seitlich von ihr herab. Schönkind schoß auf sie und riß ihr einen Kopf ab. Als er ihr den zweiten Kopf herunterschießen wollte, flehte die Skorpionin unter Tränen, er möge ihr verzeihen, sie tue ihm nichts, und da er ihr nicht glaubte, gab sie es ihm mit ihrem Blute geschrieben.

Die Skorpionin bewirtete Schönkind noch reichlicher als die Spechtin. Auch ihr gab er den Kopf, den er ihr mit dem Pfeile abgeschossen hatte, zurück; sowie er ihn an seine Stelle tat, wuchs er wieder an. Und nach drei Tagen zogen sie weiter. Bald hatten sie das Gebiet der Skorpionin



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hinter sich und ritten, bis sie an ein ganz von Blüten überdecktes Feld kamen, wo es nur Frühling gab. Jede Blume war ungewöhnlich schön und duftete, daß es dich berauscht hätte. Ein leichter Wind, der kaum zu spüren war, wehte. Da hielten sie an, um sich auszuruhen. Das Pferd aber sagte: »Bis hierher ist es gegangen, wie es ging, Herr, aber noch sind wir nicht zu Ende; wir haben noch eine große Gefahr zu bestehen. Mit Gottes Hilfe werden wir auch sie überwinden, dann sind wir Helden. Nicht mehr weit von hier steht der Palast, wo Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod wohnen. Dieses Haus ist von einem dichten, hohen Wald umgeben, worin die wildesten Tiere hausen, die es gibt; Tag und Nacht halten sie schlaflos Wache und sind sehr zahlreich. Mit ihnen zu kämpfen ist unmöglich und durch den Wald zu dringen desgleichen. Wir müssen sehen, ob wir nicht vielleicht darüber hinwegspringen können.«

Nachdem sie an die zwei Tage gerastet hatten, machten sie sich wieder bereit. Da hielt das Pferd den Atem an und sagte: »Herr, zieh den Gurt an, so straff du nur kannst, und wenn du sitzest, halte dich gut fest in den Steigbügeln und an meiner Mähne. Die Beine halte eng an meinen Hals gedrückt, damit du mich in meinem Sprunge nicht behinderst.« Er schwang sich in den Sattel, machte einen Versuch, und in einem Hui war er beim Walde.

»Herr«, fuhr das Pferd fort, »jetzt ist gerade die Zeit, da die wilden Tiere des Waldes ihr Futter bekommen, und sie sind alle im Hof versammelt. So springen wir!« —»Springen wir«, erwiderte Schönkind, »und Gott erbarme dich unser.«

Sie schwangen sich empor und sahen den Palast derart glänzen, daß du schauen konntest ins Sonnenlicht, aber auf den Palast nicht. Sie sprangen über den Wald, und eben als sie sich zu der Treppe des Palastes herunterlassen wollten, berührte das Pferd ein ganz klein wenig den Wipfel eines Baumes, und sofort begann der ganze Wald in Bewegung zu kommen; die wilden Tiere heulten, daß sich einem die Haare auf dem Kopfe sträubten. Sie ließen sich geschwind hinab, und wäre die Herrin des Palastes nicht draußen gewesen, da sie eben ihre Küchlein fütterte (denn so nannte sie das Waldgetier), so wäre es um sie geschehen gewesen. Rein aus Freude über ihre Ankunft ließ sie ihn verschonen; denn bis dahin hatte sie noch keine Menschenseele bei sich gesehen. Sie hielt die Tiere ab, besänftigte sie und schickte sie an ihren Platz zurück. Die Herrin war eine hohe, liebholde und über die Maßen



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schöne Zine. Da Schönkind sie erblickte, war er ganz sprachlos. Sie aber sah ihn freundlich an und sagte: »Willkommen, Schönkind! Was suchst du hier?«

»Wir suchen«, sagte er, »Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod.« — »Suchet ihr dies, wie du sagst, nun wohl - es ist hier.« Da saß er ab und trat in den Palast ein. Dort fand er noch zwei Mädchen, eine wie die andere jung; es waren die Schwestern der Älteren. Er begann der Zine zu danken, daß sie ihn aus der Gefahr befreit habe; jene aber bereiteten ihm ein köstliches Nachtmahl ganz und gar in goldenen Geschirren. Das Pferd ließen sie frei nach seinem Belieben herumgehen; schließlich machten sie es mit allen wilden Tieren bekannt, so daß es unbesorgt im Walde umherstreifen konnte.

Die Frauen baten Schönkind, er möge fortan bei ihnen bleiben, denn sie sagten, es sei ihnen langweilig allein. Er jedoch ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern nahm es mit allem Danke an, als habe er sich gerade das gewünscht.

Nach und nach wurden sie miteinander vertraut. Er erzählte ihnen seine Geschichte und was er zu bestehen gehabt hatte, bis er zu ihnen gekommen war, und nicht lange darauf vermählte er sich mit der jüngsten der Schwestern. Bei ihrer Vermählung erteilten ihm die Herrinnen des Hauses die Erlaubnis, nach Belieben überall in der Runde umherzustreifen; und nur ein Tal, das sie ihm zeigten, solle er nicht betreten, denn es wäre nicht zu seinem Guten, und jenes Tal, sagten sie, heiße das Tal der Tränen.

Er verbrachte bei ihnen eine ungerechnete Zeit, ohne es gewahr zu werden; denn er blieb ganz so jung, wie er hingekommen war. Er zog durch die Wälder, ohne daß ihm nur der Kopf weh tat. Er ergötzte sich an den goldenen Palästen, lebte in Ruhe und Frieden mit seiner Gemahlin und deren Schwestern, erfreute sich an der Schönheit der Blumen und an der sanften reinen Luft wie ein Glückseliger. Oftmals ging er auf die Jagd; eines Tages aber verfolgte er einen Hasen, schoß nach ihm einen Pfeil, schoß den zweiten und traf ihn nicht. Voll Grimm eilte er ihm nach und schoß noch einen dritten Pfeil ab, und mit dem traf er ihn. Aber der Unselige hatte in seinem Eifer nicht darauf geachtet, daß er auf der Verfolgung des Hasen in das Tal der Tränen gekommen war.

Mit seinem Hasen kehrte er heim. Da jedoch, auf einmal ergriff ihn die Sehnsucht nach seinem Vater und seiner Mutter. Er getraute sich nicht,



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dies den hohen Frauen zu sagen; sie aber erkannten es an der Traurigkeit und Unruhe, die sie an ihm sahen.

»Du bist, Unglücklicher, im Tal der Tränen gewesen!« sagten sie zu ihm ganz erschrocken.

»Ich war dort, meine Lieben, aber ohne daß ich diese Torheit begehen wollte; und jetzt vergehe ich vor Sehnsucht nach meinen Eltern, aber auch von euch kann ich mich nicht trennen. Ich bin schon viele Tage bei euch und kann mich über nichts beklagen. So will ich denn gehen um noch einmal meine Eltern zu sehen, und dann zurückkehren und nie wieder fortziehen.«

»Verlaß uns nicht, Geliebter! Deine Eltern leben schon seit Jahrhunderten nicht mehr, und wenn du fortgehst, fürchten wir, du wirst nicht wieder zurückkehren. Bleib bei uns, denn eine Ahnung sagt uns, du werdest umkommen.«

Alle Bitten der drei Frauen wie auch des Pferdes waren nicht imstande, seine Sehnsucht nach den Eltern, die ihn ganz verzehrte, zu stillen. Endlich sprach das Pferd zu ihm:

»Wenn du nicht auf mich hören willst, Herr, wird, was dir zustößt, allein deine Schuld sein. Ich muß dir nun etwas sagen, und wenn du meine Bedingung annimmst, bringe ich dich zurück.« — »Ich nehme sie mit Dank an«, sagte er, »laß hören.«

»Wenn wir bei deines Vaters Palaste sind, so steig ab, ich aber kehre zurück, wenn du nur eine Stunde lang dort bleibst.« — »Gut denn«, sagte er.

Sie machten sich reisefertig, er umarmte die Frauen, und nachdem sie voneinander Abschied genommen hatten, ritt er hinweg, während sie schluchzend mit Tränen in den Augen zurückblieben. Sie kamen an Orte, wo das Gebiet der Skorpionin gewesen war. Sie fanden da Städte. Die Wälder hatten sich in Felder gewandelt. Er fragte den und jenen nach der Skorpionin und wo sie wohne, sie aber antworteten, ihre Großväter hätten von ihren Urgroßvätern von dergleichen Märchen erzählen hören.

»Wie kann das sein?«sprach Schönkind zu ihnen. »Erst neulich bin ich hier durchgekommen«, und er sagte ihnen, was er wußte. Die Leute lachten über ihn, als redete er irre oder träumte im Wachen. Voll Zornes ritt er weiter und beachtete nicht, daß ihm Bart und Haare weiß wurden.

Im Gebiet der Spechtin fragte er dasselbe wie im Gebiet der Skorpionin



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und erhielt dieselben Antworten. Er konnte nicht begreifen, daß sich die Stätten in wenigen Tagen so verändert haben sollten, und wieder zog er voll Zornes hinweg, aber der weiße Bart reichte ihm schon bis an den Gürtel, und er fühlte, daß ihm die Beine zu zittern begannen.

So kam er in das Reich seines Vaters. Hier gab es andere Menschen, andere Städte, und die alten waren so verändert, daß er sie nicht mehr wiedererkannte. Am Ende kam er in die Paläste, wo er geboren worden war. Er stieg ab, und das Pferd küßte ihm die Hand und sprach: »Leb wohl, Herr, denn ich kehre zurück, woher ich gekommen bin. Willst auch du mitkommen, so steig sogleich auf, und wir reiten.« — »Leb wohl. Auch ich hoffe, bald zurückzukehren.« Das Pferd flog schnell wie ein Pfeil von dannen.

Als er die Paläste in Trümmer gefallen und von Unkraut überwachsen sah, seufzte er, und mit Tränen in den Augen suchte er sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie strahlend diese Paläste einst gewesen waren und wie er seine Kindheit darin verbracht hatte. Zwei-, dreimal ging er um sie herum und suchte jedes Gemach, jedes Winkelchen auf, um sich die Vergangenheit wiederzuerwecken, den Stall, wo er das Pferd gefunden hatte, und stieg dann in den Keller hinab, dessen Eingang von herabgefallenen Trümmern verrammt war.

Wie er mit seinem Bart, der ihm bis zu den Knien reichte, da und dort herumsuchte -seine Augenlider mußte er mit den Händen heben und konnte kaum noch gehen -, fand er nur eine vermoderte Truhe. Die öffnete er, fand aber nichts darin. Er hob den Deckel des inneren Fachs auf, und eine schwache Stimme sprach zu ihm:

»Willkommen; denn wenn du noch länger ausgeblieben wärst, so wäre auch ich gestorben.«

Und der Tod, der da im Fache lag und rein zu einem Haken zusammengeschrumpft war, legte die Hand auf ihn, und er sank tot hin und zerfiel zur Stunde zu Staub.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
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