Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die Bruderliebe siegt

Es waren einmal zwei Brüder. Als ihr Vater noch lebte, arbeiteten sie nach seinen Befehlen. Der eine ging auf dem Hof umher, der andere hütete die Schafe. Als der Vater starb, übernahm der ältere Sohn das Haus, der jüngere aber arbeitete immer auf dem Felde. Er gehorchte seinem Bruder, wie es sich gehört, und kam nur selten ins Haus. Der ältere Bruder aber tat nichts, sondern saß nur zu Hause, empfing



Bd-01-183_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Freunde, hielt gute Pferde, Jagdhunde und Falken und lebte wie ein Herr.

Innerhalb weniger Jahre wurden die beiden noch reicher. Der ältere Bruder hatte geheiratet, der jüngere aber nicht. Er kam nur von Zeit zu Zeit nach Hause. Als er einst nach Hause ging, begegneten ihm ein paar Bauern, die die Brüder beneideten und Zwist zwischen ihnen säen wollten. Sie sagten ihm: »Bist du nicht auch ein Sohn deines Vaters?«

»Warum sollte ich es denn nicht sein?« antwortete er ihnen. Da sagten ihm die Bauern: »Na, wenn du es bist, warum lebst du so wie ein Knecht? Immer an der Arbeit bei den Schafen und auf den Feldern. Auf dich regnet es, du stehst im Gewitter, die Sonne brennt dich, und zu deinem Unglück bist du geworden wie kein anderer. Dein älterer Bruder aber lebt wie ein Herr, schön gekleidet, ißt und trinkt sich satt, in Freuden und Ehren. Bist du vielleicht sein Diener? Daß wir es einmal sehen, sage ihm, er solle von jetzt an zur Arbeit gehen, und du sitze zu Hause. Dann wirst du sehen, ob er dein rechter Bruder ist oder nicht.«

Der jüngere Bruder sagte nichts, aber es begann an seinem Herzen zu nagen. Er ging in der Nacht nach Hause und überschlief die Angelegenheit. Als er frühmorgens erwachte, fragte ihn sein Bruder, wie er die Nacht verbracht habe.

Er antwortete: »Kein Auge habe ich zugetan.« »Warum nicht?«fragte der ältere Bruder.

»Sieh, seit unser Vater gestorben ist, bin ich bei Tag und bei Nacht unter dem klaren Himmel. Nach Hause komme ich nur einmal im Jahr. Ich kenne niemanden, ich habe keinen Freund und keinen Feind. Wird auch einmal die Zeit kommen, da ich von Hause weggehe und heirate wie du? Wie werde ich fürs Haus sorgen, da ich niemanden kenne? Und da ich mich auch nicht aufs Haus verstehe? Weil ich darüber nachgedacht habe, konnte ich die ganze Nacht lang nicht schlafen. Ich habe beschlossen, dich zu bitten, die Arbeit mit mir zu tauschen. Ich möchte einige Jahre lang zu Hause sein, während du an meine Arbeit gehst.« »Sehr gut, Bruder«, sagte der Ältere mit kaum unterdrücktem Zorn. »Bleibe du eben hier, und ich gehe an deine Arbeit. Nur heute möchte ich gern noch einmal auf die Jagd gehen und dann mit dir essen. Morgen aber werden wir tauschen.«

Er sprang wütend auf und ging, sein Pferd zu satteln. Dann rief er seine Frau in den Pferdestall und sagte ihr: »Höre, heute habe ich meinem



Bd-01-184_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa



Bd-01-185_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Bruder gesagt, daß ich auf die Jagd gehe. Ich habe meinem Bruder auch gesagt, daß ich nicht komme. Brate ein Lämmchen und gib Gift hinein. Decke den Tisch für ein feierliches Mahl und lade auch meinen Bruder zum Essen ein. Passe aber auf! Wenn ich dich nicht im Hause jammern höre, wenn ich zur Vesperzeit zurückkomme, wird es dich deinen Kopf kosten!«

So sprach er zu seiner Frau, setzte sich aufs Pferd und ritt im Galopp mit seinen Hunden und Falken auf die Jagd.

Seine Frau blieb stehen, als habe man sie vor den Kopf geschlagen. Lange stand sie wie versteinert da. Als sie wieder zu sich kam, dachte sie nach, was sie tun sollte. Sollte sie selber sterben, oder sollte sie ihren Schwager vergiften? Schließlich entschied sie sich dafür, alles dem Schicksal zu überlassen. Es sollte geschehen, wie es eben käme. Rettete sie sich vom Tode, so war es gut. Starb sie, so würde es besser sein, als wenn sie ihren Schwager vergiftete.

Sie briet das Lamm, bereitete das Mittagsmahl, und als die Zeit gekommen war, deckte sie den Tisch. Sie rief ihren Schwager, er solle zu Tisch kommen.

Er aber antwortete: »Was soll ich zu Tisch kommen, wenn mein Bruder noch nicht da ist, der mir versprochen hat, mit mir zu speisen?«

Der jungen Frau wurde es schwer ums Herz, als sie sah, wie sehr ihr Schwager ihren Mann liebte und wie sehr ihr Mann seinen Bruder haßte. Sie warf sich ihm an den Hals und weinte bitterlich, schluchzte und konnte nicht sprechen. Ihr Schwager hielt sie bestürzt fest und bat sie, sie solle ihm sagen, warum sie so weine. Da sagte sie ihm: »Ach, Schwager, ich habe nur noch heute zu leben.«

»Warum, meine Seele, sagst du das?« entgegnete er.

Da sagte sie ihm: »Ich bin so traurig, weil du nicht ohne meinen Mann zu Tisch gehen willst. Er aber hat mir aufgetragen, dich zu vergiften, und hat mir gedroht, mich zu töten, wenn er nicht Jammern und Klagen im Hause hört, wenn er von der Jagd kommt. Ich aber sage dir, ich will keine solche Sünde begehen.« Als ihr Schwager das hörte, sagte er ihr: »Ach, Schwägerin, mache du dir keine Sorgen. Solange ich meinen Kopf noch auf den Schultern habe, wirst du nicht sterben. Wir wollen aber sehen, was mein Bruder tut, wenn er mich tot sieht. Deshalb wollen wir Leute nach dem Kreuzweg senden, die aufpassen sollen, wann er zurückkommt. Wenn er heimkehrt, setze meine Mütze auf meinen Kopf, zünde neben meinem Kopf eine Kerze an und beweine mich.«



Bd-01-186_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Sie taten alles, wie sie es besprochen hatten.

Als der ältere Bruder auf die Jagd gegangen war, wohin er immer ging, mühte er sich sehr, konnte aber zu seiner großen Verwunderung kein Wild erlegen. Das war ihm noch nie widerfahren. Auf dem Heimweg aber sah er hoch am Himmel einen kleinen Adler. Auf den ließ er zwei seiner Falken los, die er mitgenommen hatte.

Wie der Blitz schnellten die Falken sich in die Höhe, nahmen den Adler in die Mitte und kämpften mit ihm. Nach einiger Zeit brachten sie ihn langsam herunter. Plötzlich war er so tief, daß der Hausherr ihn fing und ihm sagte: »Hast du gesehen? Auch du, der du so hoch unter den Wolken fliegst, kannst meinen Händen nicht entgehen.«

Der kleine Adler aber weinte bitterlich und sagte: »Ach, wenn mein Bruder noch am Leben wäre, hätten mir nicht nur deine zwei Falken nichts getan, nicht einmal zwanzig hätten mir etwas tun können. Dem soll die Hand vertrocknen, der ihn getötet hat!« »Wer hat ihn denn getötet?«fragte der Jäger.

»Ach«, antwortete der kleine Adler, »eines kalten Wintertages waren wir in einem heftigen Schneesturm mitten über dem Schwarzen Meer. Der Sturm hat ein kleines Schiff vor sich hergejagt. Wir wollten uns auf das Schiff setzen, um auszuruhen. Kaum aber hatte mein Bruder ein Seil dieses Schiffes berührt, da hat ein Matrose - die Hand möge ihm verdorren! —ihn so geschlagen, daß er ins Wasser gefallen ist. Weil ich jetzt ohne ihn bin, bin ich hilflos, und in Schwierigkeiten wie jetzt kann ich mich nicht einmal zweier Falken erwehren.«

Als der Jäger diese Worte hörte, dachte er plötzlich an seinen Bruder. Von Reue geplagt, ließ er den kleinen Adler fliegen, spornte sein Pferd und jagte, so schnell er konnte, nach Hause. Das Pferd rannte und rannte, bis es zusammenbrach. Der Jäger ließ es liegen und lief zu Fuß weiter. Als er sich seinem Hause näherte, sahen ihn die Knechte und meldeten zu Hause seine Ankunft. Der jüngere Bruder legte sich hin und tat, als wäre er tot, seine Schwägerin aber jammerte gar schrecklich und weinte. Als der Jäger das hörte, eilte er noch mehr. Kaum war er zu Hause, da zog er seinen Säbel und stürzte sich auf seine Frau, um sie zu töten. Dabei schrie er: »Oh, du hast mir meinen Bruder vergiftet!«

Als der jüngere Bruder das hörte, sprang er auf und rief: »Bruder, krümme meiner Schwägerin kein Haar! Sie hat mich nicht vergiftet, das wolltest du tun!«



Bd-01-187_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Da warf sich der ältere Bruder dem jüngeren an den Hals und rief: »Ach, Bruder, lebst du? Lebst du wirklich, Bruder? Lebst du?« Er überschüttete ihn mit Tränen, er küßte ihn, er beichtete ihm seine Sünden und erzählte ihm alles, was er mit dem kleinen Adler erlebt hatte.

Beide weinten sehr lange und küßten einander, und von dieser Zeit an lebten sie brüderlich und stritten niemals mehr miteinander.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt