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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Lügenwettstreit

Es waren einmal drei Brüder, die hatten ein Haus, das dreitausend Groschen gekostet hatte. Da war auch ein alter Mann, der hatte eine sehr schöne Tochter, die kaum zwanzig Jahre alt war. Es gab keinen Jüngling weit und breit, der sie sich nicht zur Frau gewünscht hätte,



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so schön war sie. Doch der Alte wollte sie nur einem Jüngling geben, der ihn im Lügen übertreffen könnte. Wenn er den Alten im Lügen überträfe, würde er die Tochter zur Frau erhalten. Log aber der Alte besser als der Jüngling, dann müßte dieser dem Alten dreitausend Groschen bezahlen.

Die drei Brüder wußten, daß der Alte eine sehr schöne Tochter hatte, und jeder von ihnen hätte sie gern zur Frau bekommen. Doch keiner wollte den anderen zugeben, daß er sie liebte. Da beschlossen sie, ihr Haus zu verkaufen, ihr Erbe zu teilen und sich mit dem Alten in einen Wettstreit einzulassen. Eines Tages verkauften sie ihr Haus und teilten ihr Geld. Ein jeder erhielt dreitausend Groschen.

Zuerst ging der älteste Bruder zum Alten. Er gab ihm seine dreitausend Groschen, damit der Alte sie aufbewahre, während sie um die Wette logen.

Der alte Mann brachte einen großen Fladen und tat so, als wollte er ihn brechen. Dann sagte er zum ältesten Bruder: »He, Bursche, hast du schon einmal einen so großen weißen Fladen gesehen?«

»Brüderchen, wo sollte ich einen so großen Fladen gesehen haben?« antwortete der Jüngling. »Diesen Fladen muß ja jeder Mensch bestaunen.«

»Siehst du, Jüngling, wie ich dich im Lügen übertölpelt habe?« entgegnete der Alte. »Wenn du jetzt noch dreitausend Groschen hast, dann wollen wir nochmals lügen. Hast du sie aber nicht, so gehe von hier weg, daß ich bald deine Schultern sehe. Stehe schnell auf und gehe.« Auf diese Worte des Alten stand der Jüngling auf und ging nach Hause. Zu Hause nahm er eine Haue auf die Schulter und wurde Tagelöhner in einem Weinberg.

Einige Wochen später ging auch der mittlere Bruder zum Lügenwettstreit, doch auch er konnte nicht besser lügen als der Alte, verlor seine dreitausend Groschen und kam ganz gebrochen nach Hause.

Der jüngste Bruder merkte, daß seine beiden Brüder beim Alten gewesen waren und ihr Geld verloren hatten. »Warte nur«, sagte der Jüngling, »der alte Lügner wird sehen, welch ein Mann ich bin und wie ich seine Tochter zur Frau nehmen werde.«

Eines Morgens ging er zum Alten. Als er in dessen Hof geritten kam, sah die Tochter des Alten ihn vom Fenster aus, und ihr Herz brannte für ihn. Denn er war sehr schön und hatte einen stolzen Gang. Als er den Alten begrüßt hatte, gab der Jüngling dem Alten seine dreitausend



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Groschen, so wie der Alte es gewohnt war. Sofort brachte der Alte einen großen Fladen. »He, Jüngling, hast du schon einen so großen Fladen gesehen?«fragte er ihn.

»Aber, Großvater, wenn du den Fladen gesehen hättest, den mein Vater hatte, Gott möge ihm seine Sünden verzeihen! Der war tausendmal größer und schöner als deiner. Alle Krieger des Kaisers hat er damit bewirtet, den Armen hat er davon gegeben, uns hat er davon gespeist, den Nachbarn hat er davon geliehen, er hat davon Kranken Geschenke gebracht, und dennoch ist er ganz geblieben. Hast du gehört, Alter, was ich dir gesagt habe?«

»Vielleicht war es wirklich so«, sagte der Alte. »Was es nicht alles auf der Welt gibt!«

»He, Alter, hast du noch eine Lüge?«fragte der Jüngling darauf. »Oder gibst du mir jetzt deine Tochter und meine dreitausend Groschen?« »Ach, Tochter«, sagte der Alte da zu seiner Tochter, »bringe doch das Rebhuhnpferd her, daß der Jüngling es sehe.«

Das Mädchen ging weg und holte ein großes Rebhuhn, das wie ein Pferd geschirrt war und Sattel und Steigbügel trug. »He, Jüngling, hast du schon ein solches Pferd gesehen?«

»Aber, Alter«, antwortete der Jüngling, »dein Pferd läuft ja auf der Erde. Mein Vater aber hatte ein Hahnenpferd, das flog unter dem Himmel und lief auf der Erde besser als dieses Rebhuhnpferd da.

Höre, Alter, welches Wunder mein Vater mit seinem Hahnenpferd verrichtet hat:

Wir hatten einen Bienenstock, von dem wir so viel Honig entnahmen, daß wir Süßigkeit in jedes Haus brachten. Allen unseren Nachbarn konnten wir Honig geben. Die Bienen dienten uns aber auch als Ochsen und Kühe. Die einen haben wir gemolken, andere haben wir angeschirrt, um mit ihnen zu pflügen. Jeder Biene hatte mein Vater einen Namen gegeben. Eine hieß Schwarzauge, eine andere Blässe, die dritte Birke, die vierte Grauchen und die fünfte Weißchen. So hatte mein Vater jeder einen anderen Namen gegeben. Weil er sie sehr liebte, saß er jeden Abend vor dem Bienenkorb, empfing die Bienen, die von der Weide kamen, und zählte sie, wie man die Schafe zählt, bevor sie geschoren werden. Wenn eine geflogen kam, um in den Korb zu schlüpfen, streichelte mein Vater sie mit seinen Händen. Wenn du wüßtest, Alter, wie lieb sie waren! Genau wie kleine Lämmchen!

Eines Abends zählte mein Vater sie. Da bemerkte er, daß zwei Bienen



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nicht nach Hause gekommen waren. Schwarzauge und Blässe fehlten. Am nächsten Morgen sattelte er in aller Frühe sein Hahnenpferd, setzte sich auf seine Schultern und ritt schnell aufs Feld, die Bienen zu suchen.

Er suchte sie hier, er suchte sie dort, und als er so um sich blickte, sah er, daß ein Mann auf dem anderen Ufer des Sees mit den beiden pflügte. Er wollte sie holen, doch es führte keine Brücke über den See, über die er hätte gehen können. Es war auch kein Boot da, in das er hätte steigen können. So stand er am Ufer des Sees und grübelte, wie er hinüberkäme, um seine Bienen zurückzuholen. Alter, wärest du an seiner Stelle gewesen, du hättest auch versucht, hinüberzukommen, denn sein Gut ist jedem Menschen teuer. Ist es nicht so?«

»Ja, so ist es, Jüngling«, antwortete der Alte. »Es ist wahr, sein Gut ist jedem Menschen lieb.«

»Nun, steht es so, dann gib mir deine Tochter und plage mich nicht mehr, daß ich dir noch etwas vorlüge. Doch laß mich zu Ende lügen, und dann sieh und erkenne deinen Meister, Alter«, entgegnete der Jüngling und erzählte weiter:

»Dann, Alter, als mein Vater so in Gedanken mit der Hand in der Tasche dastand, fand er einen Kürbissamen, den er sofort in die Erde steckte. Während der Zeit, da er ein wenig hin und her schaute, wuchs der Kürbis, und seine Triebe wuchsen über den See wie eine Brücke. Alter, wenn du willst, kannst du's glauben, wenn nicht, glaube es nicht!

Als mein Vater sah, daß die Kürbisranken über den See reichten, gab er dem Hahnenpferd die Sporen, es sprang von Blatt zu Blatt und kam so zu dem Mann, der meinem Vater die zwei Bienen genommen hatte. Mein Vater stritt heftig mit dem Mann. Er machte ihm seine Schande klar, weil er fremde Ochsen benützt hatte. Dann nahm er die beiden Bienen, setzte sie aufs Hahnenpferd und ritt über die Kürbisranken wieder nach Hause.

Als wir sahen, daß er die Bienen wiedergefunden hatte, liefen wir ihm freudig aus dem Hause entgegen. Wir standen um die Bienen herum, wir küßten und liebkosten sie. Weil aber das Hahnenpferd schwitzte, nahm ihm mein Vater den Sattel ab, um ihm den Schweiß abzuwischen. Als er es aber so ansah, merkte er, daß der Sattel ihm eine schreckliche Wunde gerieben hatte. Meine Großmutter war eine Ärztin, die mit Pflanzen heilen konnte. Sie nahm eine grüne Nuß, zerschlug sie mit



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einem Holzscheit auf einem Stein und legte sie auf die Wunde des Hahnes.

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wuchs daraus ein riesiger Nußbaum, wie wir noch nie einen gesehen hatte. Welch ein Wunder! Der Nußbaum schlug Wurzeln, die Nüsse wurden reif und fielen auf die Erde. Als die Dorfkinder sie aufklaubten, warfen sie noch Erdklumpen und Stöcke auf den Baum. Da entstand auf dem Nußbaum ein großes Feld, weil von den Erdklumpen so viel Erde dort zusammengekommen war.

Als mein Vater sah, daß dort ein Feld entstanden war, kletterte er mit zwei Bienen hinauf, pflügte und legte einen Melonengarten an. Wenn du willst, glaube es, wenn nicht, mußt du es nicht glauben, Großvater: Nach vierundzwanzig Stunden waren die Melonen schon reif.

Als ich sah, daß die Melonen reif waren, habe ich, weil ich doch noch ein Kind war, die größte abgerissen und durchgeschnitten, und was fand ich darin? Eine Schlange, die war zusammengerollt wie ein Fladen. Vor lauter Schrecken warf ich sie auf die Erde. Ich trat mitten auf sie, und in ihrer Angst hat die Schlange mir einen kaiserlichen Befehl gezeigt, sieh her, so groß war er! Hast du gehört, Großvater, was ich dir gesagt habe, oder hast du es nicht gehört?«

»Ich habe es gehört, Sohn. Doch warum hast du den kaiserlichen Befehl nicht gelesen?«fragte der Alte.

»Wer sagt dir, daß ich ihn nicht gelesen habe? Nicht einmal, nein, dreimal habe ich ihn gelesen«, antwortete der Jüngling. »Und weißt du, was in dem kaiserlichen Erlaß stand?« sagte der Jüngling weiter. »Der Alte soll dir seine Tochter geben und nicht soviel reden!«

Dem Alten blieb nichts anderes übrig, als ihm seine Tochter zu geben, und das tat er auch.


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