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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Das kluge Mädchen

Ein kluger Mann hatte einen Sohn. Es kam die Zeit, daß der Sohn heiraten sollte, und weil der Vater die Mädchen aus dem eigenen Dorf kannte, sagte er sich: >Unter denen kann ich keine Braut finden, die für meinen Sohn gescheit und verständig genug ist.< Deshalb wollte er in einem anderen Dorfe eine Braut für seinen Sohn suchen.

Als er beschlossen hatte, seinen Sohn zu verloben, ging der Vater in ein anderes Dorf. Er wollte ein Mädchen ansehen, von dem es hieß, es wäre gar klug und verständig. Er kam in das Dorf und klopfte an die Tür des Mädchens. Das Mädchen öffnete und bat ihn einzutreten. Es hatte Vater und Mutter, Großvater und Großmutter. Aber gerade damals waren die nicht zu Hause, bis auf die Mutter. Alle waren an der Arbeit, nur die Mutter hockte in einer Ecke und flickte Hemden.

Weil der Alte aber gekommen war, um das Mädchen zu sehen und zu prüfen, ob es gut genug wäre, die Frau seines Sohnes zu werden, trat er ins Haus und begann ein Gespräch mit dem Mädchen.

»Hast du einen Vater?«fragte der Alte das Mädchen.

»Ja, ich habe einen«, antwortete das Mädchen.

»Wo ist er?«

»Er ging in die Mühle, ein wenig Mehl zu holen«, antwortete das Mädchen.

»Wird er bald kommen, oder wird es länger dauern?«



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»Wenn er auf dem kürzeren Wege geht, wird es länger dauern«, sagte das Mädchen. »Wählt er aber den längeren Weg, so kommt er früher.« Der Alte konnte die Antwort des Mädchens nicht verstehen, deshalb fragte er weiter: »Hast du einen Großvater!«

»Ja, den habe ich«, antwortete das Mädchen.

»Wo ist er?«

»Auf dem Felde.«

»Was macht er auf dem Felde?«

»Einen wirft er um, und zwei richtet er auf«, sagte das Mädchen.

Der Alte verstand auch diese Antwort nicht und fragte weiter: »Hast du eine Großmutter?«

»Ja, die habe ich«, antwortete das Mädchen.

»Wo ist sie?«

»Beim Nachbarn.«

»Was tut sie dort?«

»Was sie ihm jetzt tut, hat sie ihm noch nie zuvor getan und wird sie ihm auch nie wieder tun«, antwortete das Mädchen.

Auch diese Antwort verstand der Alte nicht. Er wunderte sich über die Antworten des Mädchens. Dann fragte er: »Hast du eine Mutter?«

»Ja, die habe ich.«

»Wo ist sie?«

»Hier im Hause«, sagte das Mädchen.

»Was macht sie?«

»Aus zwei Alten macht sie ein Junges«, sagte das Mädchen.

Ohne etwas von den Antworten des Mädchens verstanden zu haben, ging der Alte nach Hause. Verwundert und gedankenvoll sagte er sich: >Dieses Mädchen ist entweder sehr gescheit oder sehr dumm.<

Als er so überlegte, traf er einen Freund. Er erzählte ihm von dem Mädchen und dessen Antworten und gab zu, daß er gar nichts verstanden hatte. Er fragte seinen Freund, ob dieser ihm die Antworten erklären könnte.

Der Freund merkte sofort, daß das Mädchen sehr klug war, und er war bereit, dem Alten alles zu erklären. Er sagte dem Alten: »Du kannst gar kein klügeres Mädchen finden als sie. Es ist das klügste unter allen Mädchen auf der Welt. Seine Antworten, die du dir nicht erklären konntest, bedeuten das Folgende. Höre zu: Es sagte dir, sein Vater würde von der Mühle eher zurückkommen, wenn er den längeren Weg nähme, und daß er sich verspäten würde, wenn er den kürzeren wählte.



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Und zwar deshalb, weil die kürzeren Wege alle eng und krumm und steil sind. Da kann der Wagen leicht umfallen oder die Achsen können brechen. Da kann er natürlich viel später kommen, weil er Zeit braucht, um alles zu richten. Fährt er aber auf dem längeren Wege, der gerade und eben ist, dann kann er eher nach Hause kommen, auch wenn der Weg weiter ist.

Von seinem Großvater sagte das Mädchen, daß er auf dem Felde einen umwerfe und zwei auf richte, und es hatte recht. Warum? Der Großvater hat auf dem Felde einen Durchgang verschlossen, den die Ochsen sich durch den Zaun ins Feld gebahnt hatten. Das Mädchen hat gedacht, daß die Ochsen, die gewohnt waren, ins Feld zu gehen, sich zwei neue Durchgänge brechen würden, wenn sie den alten Durchgang verschlossen fänden. So würden sich die Rinder statt eines Durchganges zwei verschaffen. Deshalb sagte das Mädchen, sein Großvater würfe einen um und richtete zwei auf. Von seiner Großmutter sagte das Mädchen, daß sie dem Nachbarn täte, was sie ihm noch nie getan hätte und ihm auch nie mehr tun würde. Das bedeutete aber, daß der Nachbar gestorben war und die Großmutter ihm die Augen zugedrückt hatte. Deshalb tat sie ihm etwas, was sie nie zuvor für ihn getan hatte und ihm auch nie mehr tun würde.

Schließlich sagte das Mädchen von seiner Mutter, sie machte aus zwei Alten ein Junges. Die Mutter flickte Hemden und machte aus zwei alten Hemden ein neues Hemd.«

Der Alte staunte sehr über die Klugheit des Mädchens und ging freudig nach Hause, und wenige Tage später hielt er für seinen Sohn um das Mädchen an.


Copyright: arpa, 2015.

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