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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Arme und sein Schicksal

Es war einmal ein armer Mann, der hatte fünf kleine Kinder. Bei Tag und Nacht arbeitete er, aber trotzdem ging er so manchen Abend hungrig zu Bett. Einst ging er Getreide mähen. Alle Arbeiter stellten sich in einer Reihe auf, um das Korn zu schneiden. Alle Mäher erreichten gemeinsam das andere Ende des Feldes und setzten sich dort nieder, auf den Armen zu warten, denn der war zurückgeblieben.

Der Arme schämte sich sehr, daß er beim Mähen zurückgeblieben war. Er war schweißgebadet, zum Teil von der schweren Arbeit, zum größten Teil aber vor Scham. Alle Landarbeiter neckten und verspotteten ihn. Abends gingen sie zurück ins Dorf.

Als sie an den Dorf rand gekommen waren, sah der Arme nach, ob er die Sichel auf der Schulter habe. Da sah er, daß er sie auf dem Felde vergessen hatte. Er ging sofort zurück, um sie zu suchen, denn er brauchte sie am nächsten Morgen wieder, um auf einem anderen Felde zu arbeiten. Als er aufs Feld kam, dämmerte es schon.

Er suchte und sah sich um, da bemerkte er eine Frau, die Ähren auf las und dabei etwas vor sich hin murmelte. Ganz leise ging er an den Rand des gemähten Feldes und versteckte sich dort, da er gern hören wollte, was die Ährenleserin sagte.

»Ich habe genug Mühe mit diesem Ährenlesen für meinen Hausherrn, dessen Schicksal ich bin«, sagte die Ährenleserin vor sich hin. »Aber ich habe auch einen Zorn auf das Schicksal des Armen, das stärker ist als ich. Immer liegt es auf der Seite und klimpert auf seiner Tamburitza, statt für ihn zu arbeiten, so wie ich für meinen Hausherrn arbeiten muß.«

Als der Arme das Schicksal so sprechen hörte, sprang er über den Graben, lief ihm nach und fragte: »Wer bist du denn, Schwester, daß du



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hier Weizen stiehist?« »Ich bin das Schicksal des Herrn dieses Feldes. Ich sammle die Ähren, die ihr heute hier verstreut habt. Aber was suchst du denn hier, daß du von Hause hierher zurückgekommen bist, anstatt zu Abend zu essen?«fragte ihn das Schicksal.

»Ich habe meine Sichel auf dem Felde verloren. Ich kam, sie zu suchen«, antwortete ihm der Arme.

»Ach, Brüderchen, die hast du doch auf der Schulter«, sagte da das Schicksal. »Das ist sehr häßlich von deinem Schicksal, daß es dich in eine Lage bringt, in der du nicht mehr weißt, ob du die Sichel auf deiner Schulter hast oder nicht. Dein Schicksal liegt auf der faulen Haut und spielt Tamburitza, du aber gehst jeden Abend hungrig schlafen. Doch ich will dir erzählen, was es heute gesagt hat, als es im Graben neben dem Feld saß. Es hat sich darüber gefreut, daß du nicht mit den anderen beim Mähen Schritt halten konntest, und auch auf das, was es dir morgen antun will, wenn du mähen wirst. Da wird es sich in einen Hasen verwandeln und dir zwischen die Füße laufen, damit du mit der Sichel den Hasen schlagest und dich dabei in den Fuß treffest. Dann wirst du nicht mehr arbeiten können und noch ärmer sein. Deshalb nimm morgen einen Sack mit und binde ihn dir zwischen die Beine. Wenn dann dein Schicksal in Hasengestalt hin und her springt, wird es schließlich in deinen Sack springen, ohne es zu merken. Ergreife es und prügle es mit dem Dreschflegel, dann wirst du sehen, wie es dich reich macht.« Am nächsten Morgen tat er, wie geheißen. Er fing sein Schicksal, das Hasengestalt angenommen hatte, in seinem Sack, warf es sich auf den Rücken und ging nach Hause. Dort schloß er Tür und Fenster, nahm seinen Dreschflegel zur Hand und drosch aus Leibeskräften auf den Sack los. Dabei rief er: »So ist das, Tamburitza möchtest du spielen und auf der faulen Haut liegen! In einen Hasen hast du dich verwandelt, daß ich mich in den Fuß schneide! Jetzt werde ich sehen! Du klimpere nur weiter auf deiner Tamburitza! Ich werde dazu auf dich losschlagen wie auf eine Trommel!«So rief er, drosch auf sein Schicksal ein und versprach ihm, es in den Brunnen zu werfen und zu ertränken.

Das arme Schicksal schrie und jammerte, bat und bettelte. Es versprach ihm, er sollte von nun an Fleisch essen und sehr reich werden, nur sollte er es nicht erschlagen. Es würde seine Tamburitza zerbrechen, auf der es gespielt hatte, und sich die Haare vom Kopfe arbeiten, um ihn reich zu machen.

Als der Arme es gehörig verdroschen hatte, band er den Sack auf und



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ließ das Schicksal heraus. »So, und jetzt sage mir, was du kannst, damit ich sehe, wie ich reich werde«, sagte der Arme. »Denn aus diesem Zimmer lasse ich dich nicht heraus. Ich werde dich eine Woche lang festhalten, damit du mit mir leidest und meine Armut siehst, wie ich viele Abende samt meinen Kindern sogar ohne einen Bissen Brot schlafen gehe.«

Das sagte ihm der Arme in seinem großen Zorn, und er schlug weiter mit seinem Dreschflegel auf es los, bis seine Frau, die ein weiches Herz hatte, nicht mehr wollte, daß er weiter auf sein Schicksal losschlage. Sie fing die Hiebe auf und bat ihn, er sollte aufhören.

Das Schicksal schüttelte sich und sagte: »Schlage mich nicht, sonst werde ich noch sterben, und du wirst immer arm bleiben. Schenke mir das Leben. Stehe morgen früh zeitig auf und gehe auf den Berg, hinter dem die Sonne immer untergeht. Dort wächst ein großer, schöner Nußbaum. Unter dem Nußbaum ist eine Quelle. Schöpfe Wasser aus dieser Quelle und gehe zum Kaiser. Sage ihm, daß du ein Arzt bist. Besprenge mit diesem Wasser die Kaiserstochter, und sie wird sofort gesunden. Der Kaiser wird dir so viel Geld geben, wie du verlangen wirst. Rufe überall aus, daß du ein Arzt bist und jede Krankheit heilen kannst. Doch eines sage ich dir: Kommst du zu einem Kranken, um ihn zu heilen, und siehst du, daß ihm der Tod zu Füßen steht, so fange an, ihn zu behandeln. Siehst du aber, daß der Tod ihm zu Häupten steht, dann unterlasse die Behandlung, denn der Kranke wird sterben. Wenn du mir nicht glauben willst, was ich dir gesagt habe, so gehe morgen zur Prinzessin. Versuche, was ich dir geraten habe. Dann aber lasse mich frei.«

Der Arme und seine Frau setzten sich zum Abendbrot und luden auch das Schicksal zu Tisch, daß es mit ihnen esse. Sie legten steinhartes schwarzes Roggenbrot auf den Tisch. Das Mehl war nicht gesiebt worden, es war noch alle Kleie darin. Der Mensch kann leicht sagen: »Wohl bekomm's.«Ein solches Brot nimmst du nicht einmal in den Mund, gar nicht davon zu reden, daß du es essest. Nur ganz hungrige Menschen können eine solche Mischung von Holz und Stein verzehren.

Statt eines Zubrots gaben sie ein wenig Salz in eine kleine Holzschüssel, und der Arme sagte zum Schicksal: »Ich bitte dich, greife zu, nimm Brot und Salz. Ich möchte auch gern zu Abend essen. Morgen aber möchte ich hören, was du sagen wirst. Wenn das Ganze wahr ist, werde ich dich in Ehren freilassen, wenn du mich aber betrogen hast, werde ich dich



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erschlagen wie einen Hund.« Sie aßen Brot und Salz, der Arme aber schalt seine Kinder, wenn sie ein wenig von dem Salz nahmen, denn er hatte kein Geld, neues zu kaufen.

»Siehst du, Schicksal«, sagte die Frau des Armen, »jetzt kannst du sehen, in welche Armut du uns gebracht hast. Nicht einmal der Kinder erbarmst du dich.«

»Weine nicht, Hausfrau, mache dir keine Sorgen. Viel war da, wenig ist geblieben. Wenn ich aber heute abend nicht von dem schrecklichen Klotz sterbe, den ich da gegessen habe, dann wirst du morgen abend sehen, welch einen Haufen Geld du hast. Von jetzt ab werde ich nicht mehr auf der Tamburitza spielen, ich werde sie in dreihundert Stücke zerschlagen, weil ich ihretwegen dieses Brot essen mußte!«

Als sie schlafen gingen, sperrten sie das Schicksal in ein Kämmerchen, damit es nicht in der Nacht entfiöhe. Am nächsten Morgen ging der Arme in aller Frühe nach der Quelle. Dann ging er in die Stadt und rief: »Arzt! Ein Arzt!« Als er am Tor des Kaisers vorüberging, hörte man ihn und rief ihn, die Prinzessin anzusehen. Vielleicht könnte er sie von ihrem Hautausschlag heilen. Als er sie untersucht hatte, besprengte er sie mit dem Wasser, und zur großen Verwunderung aller wurde sie zusehends gesund. Als die Prinzessin sah, daß sie wieder gesund war, ging sie mit großer Freude zum Kaiser. Den Arzt nahm sie mit. Der Kaiser gab dem Armen einen ganzen Haufen Geld und entließ ihn nach Hause. Er kam mit dem Geld nach Hause, kaufte alles, was zum Essen und zum Trinken nötig war, lud auch sein Schicksal zu allem ein, gab ihm Wäsche und Kleider und ließ es frei. Von dieser Stunde an arbeitete der Arme als Arzt und verdiente viel Geld. Aber auch sein Schicksal arbeitete Tag und Nacht, denn es hatte seine Tamburitza zerbrochen, die es früher stets von der Arbeit abgehalten, weil das Klimpern dem Schicksal so gut gefallen hatte.


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