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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Hahn und die Sonne

Schon viele Jahre sind vergangen, seit die Welt geschaffen wurde. Die Tiere haben Junge bekommen und sich vermehrt. Eines Tages gingen viele Tiere und Vögel auf einen Berg, der am Ufer eines großen Meeres stand, um einige ihrer Angelegenheiten zu besprechen. In Paaren und Gruppen standen sie beieinander und besprachen, was sie im Sinne hatten. Und da die Sonne hell leuchtete und angenehme Wärme verbreitete, wollten die Tiere nicht auseinandergehen. Da kam der Hahn auf den Gedanken, allen Tieren etwas über die Sonne zu sagen.

»Hört zu, Brüder«, sagte er ihnen,» ich will euch etwas sagen. Uns allen geht es gut, weil uns die Sonne bescheint und wärmt. Ich bin sicher, daß ihr alle ihr dafür sehr dankbar seid. Doch niemand hat noch der Sonne etwas Gutes getan, um ihr eine Freude zu machen. Nun denkt mal darüber nach, was wir Gutes tun könnten, damit die Sonne guter Laune werde.«

Als die Tiere die Worte des Hahnes gehört hatten, dachten sie nach, was sie der Sonne Gutes tun könnten. Als sie so nachdachten, fiel jedem etwas ein, und er sagte es den anderen. Doch die Tiere wollten keinen der Vorschläge annehmen, denn keiner dünkte ihnen gut genug. Schließlich stand der Igel auf und sagte: »Brüder, hört zu, was ich euch sagen will.«

»Wir hören, Igel, wir hören. Sag nur etwas, und wenn uns etwas besonders gut gefällt, werden wir alle >ausgezeichnet!<rufen«, antworteten die Tiere und spitzten ihre Ohren, um besser zu hören.

Da sagte ihnen der Igel: »Wir alle heiraten und bekommen Kinder. Schaut doch, wie viele unserer Nachkommen hier sind! Die arme Sonne aber ist immer allein, all die Zeit, seit sie erschaffen wurde. Und weil das so ist, wollen wir sie verheiraten, daß auch die Sonne erfahre, wie süß es ist, seine Kinderchen an der Hand zu führen.«

Als die Tiere dies gehört hatten, überlegten sie sehr ernsthaft und stimmten zu. Nur der Löwe war nicht zufrieden und stand weiter da, den Finger an der Stirn.

»Erleuchteter Kaiser, was sagst denn du zum Vorschlag des Igels, die Sonne zu verheiraten?«fragte der Bär. Die Sonne hörte alles und freute sich sehr, daß sie jetzt einen Bräutigam bekommen sollte. Sie hatte aber noch nicht gehört, was der Löwe sagte. Denn als der Bär ihn um seine Meinung fragte, richtete er sich vor allen auf und sagte: »Ihr alle habt



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den Worten des Igels zugestimmt, Brüder. Wenn ihr aber recht überlegt, werdet ihr sehen, daß die Worte des Igels jämmerlich sind. Habt ihr noch nicht nachgedacht, daß die Sonne, wenn sie einmal verheiratet ist, viele, viele kleine Sonnen bekommen wird? Und wenn die alle uns wärmen werden, dann werden wir alle lebend gebraten. Schon jetzt, da es nur eine Sonne gibt, können wir es oft vor Hitze nicht aushalten, wenn sie stark scheint. Was wird erst werden, wenn sie verheiratet ist? Habe ich mit meinen Worten nicht recht?«

»Ja, du hast recht, erleuchteter Kaiser«, riefen alle Tiere. »Wir dürfen die Sonne nicht verheiraten.«

Als die Sonne die Worte des Löwen hörte, wurde ihr das Herz gar schwer. Sie zwinkerte weinerlich mit den Augen, und, hast du es nicht gesehen, stürzte sie sich ins Meer, um sich zu ertränken. Als plötzlich alle Tiere im Dunkeln saßen, ohne die Wärme der Sonne, erschraken sie sehr. Sie berieten sich, und sie schalten den, der gesagt hatte, daß die Sonne heiraten sollte. Alle waren ganz niedergeschlagen und tieftraurig, aber das brachte die Sonne nicht zurück.

Da richtete sich der Hahn auf und sagte den Tieren: »Warum macht ihr euch wegen der Sonne so viele Sorgen, Brüder? Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich der Sonne ein Ständchen bringen und sie so aus dem Meere locken.« Das sagte ihnen der Hahn, und dann sang er drei Tage und drei Nächte lang. Die Sonne aber kam nicht. Sie saß im Meer und wollte nicht mehr aus ihm hervorkommen.

Als der Hahn sah, saß er mit seinem Singen nichts erreichen konnte, dachte er sich etwas anderes aus. Eines Morgens stieg er ins Meer und badete darin wie eine Katze im Salz. Dann aber stellte er sich an den Strand und schüttelte sich. Als ihn die Sonne sah, wie er sich schüttelte, ganz naß und mit hängendem Kopf und Schwanz, wunderte sie sich und fragte: »Ach, Brüderchen Hahn, warum bist du denn in einem solchen Zustand und so mißgestimmt?«

»Es wird mir noch viel schlechter gehen, Schwesterchen Sonne. Meine Freunde haben mich überredet zu heiraten, und jetzt tut mir das sehr leid. Allein ist man so glücklich, nichts auf der Welt ist besser als das Alleinsein. Ich werde alle meine Freunde auf den Knien anflehen, damit sie nicht so unglücklich werden wie ich.«Als die Sonne das hörte, nahm sie sich vor, nie zu heiraten. Sie kam aus dem Meer und ging an den Himmel. Und sie wärmte die Erde wieder. Nur am Abend stieg sie wieder ins Meer. Des Morgens aber stieg sie wieder heraus. Und bis



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zum heutigen Tage ist das so geblieben, daß die Sonne jeden Abend ins Meer sinkt und jeden Morgen wieder daraus hervorkommt. Wer's nicht glaubt, der soll selbst ans Meer gehen, da kann er es mit eigenen Augen sehen. Als die Sonne aufstand, um alles zu wärmen, schlug der Hahn mit den Flügeln, um das Wasser abzuschütteln und sich zu trocknen, und dann fing er an zu singen. Alle Tiere bedankten sich sehr bei ihm, daß er die Sonne wieder aus dem Meere geholt hatte. Zum Andenken an diesen Tag singt der Hahn noch heute an jedem Morgen. Zuvor schlägt er mit den Flügeln, weil er glaubt, daß er immer noch naß sei. Der unglückliche Igel aber, der vom Löwen und den anderen Tieren so beschämt wurde, schämt sich bis auf den heutigen Tag und versteckt sein Gesicht in seinen Stacheln, sobald er sieht, daß jemand in der Nähe ist.


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