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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Kaiser, seine Tochter und ihre drei Freier

In alter Zeit war einmal in einem fernen Lande ein Kaiser, der hatte eine sehr schöne und ehrbare Tochter. Unter anderen Freiem bewarben sich auch drei Grafen um sie, die große Freunde des Kaisers waren. Der Kaiser mochte keinem von den dreien gegen seinen Wunsch sein dadurch, daß er seine Tochter einem zuspräche. Deswegen sagte er zu ihnen: »Wenn ihr meine Tochter bekommen wollt, geht in die weite Welt, und wer mir die allererlesenste Sache bringt, der soll meine Tochter zur Frau haben.«Sie taten danach und gingen alle drei fort nach drei verschiedenen Seiten; der eine fand einen Teppich, der durch die Luft fliegen und auch Leute tragen konnte; der zweite fand ein Fernrohr, durch das man die ganze Welt sehen konnte, sogar ein Staubkorn im Meer; der dritte fand eine Salbe, die jede Krankheit heilen, ja sogar die Toten zum Leben bringen konnte. Sie waren jetzt weit voneinander; da sah der von ihnen, der das Fernrohr gefunden hatte, hinein und gewahrte seinen Genosssen, wie er gerade den Teppich auf der Schulter trug, und machte sich gleich zu ihm auf.

Als sie nun so zusammen waren, sah der mit dem Fernrohr wieder hinein und erblickte seinen dritten Genossen; zu dem machten sich die beiden dann auf den Weg. Als sie nun alle drei beisammen waren, sagten sie: »Laßt uns doch sehen, was die Kaisertochter macht.« Der mit dem Fernrohr sah hindurch und gewahrte, daß die Kaisertochter mit dem Tode kämpfte; das teilte er gleich seinen beiden Genossen mit. Als das der hörte, der die Salbe hatte, sprach er: »Ich könnte sie heilen, wenn ich nur schnell genug zu ihr hin könnte.« Darauf antwortete der mit dem Teppich: »Das ist leicht; setzen wir uns nur auf den Teppich, und gleich sind wir bei ihr.«Und wirklich, die drei setzten sich auf den Teppich, und sieh da, in einigen Stunden gelangten sie in den Kaiserpalast zu dem Mädchen. Als der Kaiser sie gewahr wurde, sagte er zu Ihnen: »Ach, meine Herren, vergebens habt ihr euch auf langer Wanderung



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bemüht; meine Tochter liegt auf dem Totenbett, darum hofft nicht, daß einer von euch sie bekommen wird.«Darauf antwortete der mit der Salbe: »Habt keine Sorge, Herr, deine Tochter wird nicht sterben«, und legte sogleich dem Mädchen die Salbe in den Mund; die fing gleich an zu sprechen und war in kurzer Zeit wieder gesund. Als der Kaiser das sah, wurde er sehr froh, und gerührt über die Genesung seiner Tochter, wollte er sie dem zur Frau geben, der sie gesund gemacht hatte. Aber jetzt brach erst unter den Grafen der Streit aus und bei dem Hin und Her sagte der, der die Kaisertochter geheilt hatte: »Wäre meine Salbe nicht gewesen, so trauerten wir jetzt schon über ihrem Grab und würden keinen Streit zu führen brauchen.« Der mit dem Fernrohr sagte darauf: »Hätte ich nicht durch mein Fernrohr gesehen, daß sie krank war, so hättest du die Salbe gar nicht anwenden können und sie nicht heilen.« Der dritte, der den Teppich hatte, sagte endlich: »Wäre mein Teppich nicht gewesen, so hättet ihr nicht so schnell herkommen können und sie nicht mehr am Leben gefunden.«

Als der Kaiser alles vernommen hatte, was die drei untereinander redeten, sagte er zu ihnen: »Meine Herren, ich kann wieder keinem von euch meine Tochter geben; ihr habt alle drei gleich wunderbare und auserlesene Dinge; ich bitte euch, geht in Frieden und Freundschaft auseinander und begehrt meine Tochter nicht mehr.« So geschah es; sie gehorchten dem Kaiser, gingen in die Einöde als Einsiedler und taten Buße. Dort lebten sie voneinander entfernt und wußten lange Jahre nichts voneinander. Der Kaiser aber gab einem andern Grafen seine Tochter zur Frau. Nach einigen Jahren trug es sich zu, daß der Schwiegersohn des Kaisers in den Krieg zog, zusammen mit seiner Frau, und als sie übers Meer fuhren, erhob sich ein schrecklicher Sturm, der das Schiff an den Felsen zerschellte. Alle, die auf dem Schiffe waren, ertranken, nur die Kaisertochter kam, auf einem Brette übers Meer schwimmend, zu der Einöde, wo die drei Grafen einsam ihr Leben mit Bußetun verbrachten. Dort nährte sie sich drei Jahre lang mit wilden Kräutern; einmal aber verlief sie sich im Walde, konnte ihren alten Unterschlupf nicht wiederfinden und traf auf eine Höhle; die hatte eine kleine Tür. Sie wollte die Tür öffnen, um die eine Nacht darin zuzubringen. Aber als sie sich an die Tür machte, vernahm sie von drinnen eine grobe, heisere Stimme: »Wer ist da?« Sie erschrak, faßte sich aber wieder und antwortete: »Unbekanntes Wesen, tue mir die Tür auf.« Da öffnete sich die Tür und heraus trat ein Greis, der graue Bart reichte



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ihm bis zum Gürtel, und das weiße Haar fiel wie eine Decke über seinen krummen Rücken. Die Kaisertochter erschrak nun erst recht, als sie den Alten vor sich sah, da sie gemeint hatte, in der Wüste sei keine lebende Seele. Lange sahen sie einander an und sagten vor Erstaunen kein Wort, denn keins von ihnen hatte gehofft, je wieder einen irdischen Menschen zu sehen.

Doch der Alte faßte sich ein wenig und sprach zuerst: »Töchterchen, bist du ein Engel Gottes oder bist du ein Menschenkind?« Darauf antwortete ihm die Kaisertochter: »Alter, laß mich hinein, dir zu Gefallen will ich alles erzählen.« Da faßte der Alte sie an der Hand, führte sie in die Höhle und bewirtete sie mit wilden Birnen; nun fing sie an zu erzählen. »Ich bin die einzige Tochter des Kaisers, mich wollten die Grafen zur Frau haben, aber mein Vater konnte mich keinem von den dreien zusprechen, denn sie waren ihm alle drei recht; so sagte er zu ihnen, sie möchten in die weite Welt ziehen, und wer ihm die auserlesenste Sache bringe, dem werde er mich zur Frau geben. Sie gingen und waren in drei Jahren noch nicht wieder da; in der Zeit erkrankte ich auf den Tod. Während ich krank zu Bett lag, waren die drei Grafen schon auf dem Heimweg gewesen und brachten ihre Sachen: der eine hatte ein Fernrohr, der zweite einen Teppich und der dritte eine Salbe.« Da unterbrach sie der Alte: »Und was war nachher? Darauf kommt es an.« —»Ach«, antwortete sie, »sie machten mich gesund, doch wurde ich keinem von ihnen zuteil, sondern mein Vater verheiratete mich an einen andern Grafen; mit dem zog ich vor drei Jahren in den Krieg; auf dem Meere ging unser Schiff unter, ich rettete mich in diese unbekannte Einöde, und beim Herumstreifen darin bin ich auf dich gestoßen.« Da schlug der Alte mit der Hand aufs Knie und rief: »Ich bin einer von den Grafen, die dich zur Frau haben wollten, und da ist das Fernrohr, durch das ich gesehen habe. Ich weiß nicht, ob meine Genossen in dieser Einöde noch am Leben sind; wir wollen durchs Fernrohr nachsehen.« Der Alte sah nun durch das Fernrohr und erblickte seine beiden andern Genossen in der Einöde; zu denen gingen sie, und er erzählte ihnen, wie sich alles begeben hatte. Da umarmten und küßten sie sich; darauf gaben sie die drei auserlesenen Dinge der Kaisertochter; die setzte sich auf den Teppich und flog zu ihrem Vater, der noch am Leben war. Wenn du wissen willst, was für ein Fest da war, geh hin und frage nach.


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