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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die Hexe, die Menschen in Steine verwandelt

Es waren einmal drei Brüder. Als teure Jahre eintraten, eins böser als das andre, besprachen sich die Brüder, sie wollten in die Fremde ziehen und sehen, wie sie sich ernähren könnten. Jeder nahm seinen Ranzen auf die Schulter, und nun ging's in die Fremde. Als sie an einen Kreuzweg kamen, wollten sie sich trennen nach drei verschiedenen Seiten,



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fragten sich aber: »Wie wollen wir uns wiederfinden?« — »Wißt ihr was«, sagte der älteste Bruder, »wir wollen jeder sein Messer in den Baum da schlagen« —nahe bei dem Kreuzweg stand eine Linde -, »und wenn einer von uns aus der Fremde nach Hause kehrt, soll er auf die Messer sehen; sieht er aus einem Messer Blut tropfen, so soll er wissen, daß sein Bruder in Lebensgefahr ist, und ihm zu Hilfe kommen.« Das beschlossen die Brüder, und jeder steckte sein Messer in den Baumstamm, darauf umarmten sie sich, und jeder ging seines Weges, der älteste nach rechts, der zweite nach links und der jüngste geradeaus. Mit dem jüngsten ging auch der Haushund, ein Tier so groß wie ein Bär. Der älteste Bruder ging nun in die Weite und kam spät in einen Wald; es wurde finstre Nacht, man sah nicht Weg noch Steg. Da machte der Wanderer unter einem großen Baume halt, suchte schnell noch Dürrholz und Reisig zusammen und machte Feuer an. Er wollte dort übernachten. Der Wind blies kalt, das Feuer kam in Gang. Der Wanderer hatte unterwegs Pilze aufgelesen, die briet er auf der Glut zum Abendessen. Im Ranzen hatte er etwas Maisbrot, das er von guten Leuten unterwegs bekommen hatte, und etwas Salz. Er machte sich daran, zu essen, aber da stöhnte und seufzte etwas in der Dunkelheit. Der Mann sah sich nach allen Seiten um, wurde aber nichts gewahr. »Ach, ach!« hörte er jammern und jemand aus der Dunkelheit sagen: «Laß mich zum Feuer, daß ich mich wärme, ich sterbe vor Kälte.« Dem Wanderer kam es vor, es sei jemand auf dem Baume; er blickte hinauf und sah eine alte Zigeunerin, struppig und ganz in Lumpen wie eine Vogelscheuche, und zittern wie in starkem Fieber.

»So komm herab und hierher zum Feuer und wärme dich«, sagte der Wanderer zu der Zigeunerin, »da hast du auch etwas gebackene Pilze und kannst essen.«Die Zigeunerin stieg nun vom Baume herab; in der Hand hatte sie eine Gerte. Sowie sie ans Feuer trat, schlug sie den Wanderer mit der Gerte über den Rücken, und der wurde zu einem Steinbild.

Der zweite Bruder war den ganzen Tag in die Weite gegangen, gegen Abend kam er in den Wald und legte auch ein Feuer unter dem Baume an. Als das Feuer in Brand kam, zog er zwei frische Maiskolben aus seinem Ranzen, die hatte er unterwegs auf dem Felde gepflückt. Da hörte er auch jemand stöhnen und seufzen und mit den Zähnen klappern, als würde er vom Fieber geschüttelt, und sagen: »Ach, ach! Laß mich zum Feuer, daß ich mich wärmen kann.« Der Wanderer hörte die



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Stimme von dem Baume herab, unter dem er saß, und als er auf sah, erblickte er die alte Zigeunerin, struppig und zerlumpt wie eine Vogelscheuche. »Komm zum Feuer und wärme dich«, rief er ihr zu, »ich brate gerade Maiskolben, du kannst mitessen.« Die Alte stieg vom Baume herab, die Gerte trug sie in der Hand, und sowie sie zu dem Feuer kam, gab sie dem Wanderer einen Hieb mit der Gerte über den Rücken. Er verwandelte sich in ein Steinbild.

Der jüngste Bruder wanderte den ganzen Tag und gelangte in eine große Stadt. Dort verdang er sich bei einem Herrn als Kutscher, mit Pferden wußte er sehr gut umzugehen, und blieb da lange als Kutscher, verdiente und ersparte dabei ein schönes Geld. Eines Nachts träumte ihm, er sähe seine Brüder tot daliegen, im Gesicht bleich wie Leinwand. Da zog ihn das Herz, sie aufzusuchen, er kündigte seinem Herrn den Dienst tat sein verdientes und erspartes Geld in den Ranzen und nahm den Weg unter die Füße. Sein Hund ging mit ihm; der war noch größer geworden, denn er war bei dem Herrn gut gefüttert worden; alle mochten ihn gern, weil er das Haus gut hütete.

Der jüngste Bruder ging nun geradewegs zu dem Kreuzweg, wo die drei ihre Messer in den Lindenstamm gesteckt hatten. Als er da ankam, sah er, daß aus den Messern der beiden Brüder Blut tropfte; die Tropfen waren schon geronnen und schwarz geworden. Darauf zog er mit dem Hunde weiter des Weges, auf dem der älteste Bruder in die Fremde gegangen war, und gegen Abend gelangte er in den Wald. Er hatte auch unterwegs Pilze aufgelesen. Der Zufall brachte ihn gerade unter den Baum, wo sein Bruder Feuer angemacht hatte und zu Stein geworden war. Als das Feuer aufflammte, bemerkte er das Steinbild; es sitzt da ein Mensch von Stein, hält in der Hand gebackene Pilze und ein Stück Maisbrot. Er betrachtet das Bild, und es kommt ihm vor, als gliche es seinem ältesten Bruder. Er macht die Augen weit auf und sieht näher zu, erkennt seinen Bruder, wundert sich sehr und denkt bei sich: >Was mag das sein?<

Er setzte sich nun zum Feuer, sein Hund neben ihn und briet die Pilze auf der Glut. Der Wind heulte. Auf einmal hörte er jemand auf dem Baume über dem Feuer stöhnen und seufzen: »Ach, ach! Wie ist mir kalt, laß mich zum Feuer, daß ich mich wärmen kann.«

Der Wanderer sah an dem Baum hinauf, der Hund fletschte die Zähne. Auf dem Baume war die alte Zigeunerin, struppig und zerlumpt wie eine Vogelscheuche im Weinberg oder im Maisfeld.



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Das Zigeunerweib klapperte mit den Zähnen vor Kälte, als hätte sie starkes Fieber, und bat immer, ob sie sich am Feuer wärmen dürfte. Der Hund aber sprang herum wie wütend, fletschte die Zähne und bellte. »Komm herab zum Feuer«, rief der Wanderer, »wärme dich.« — »Ich wage es nicht«, antwortete sie, »der Hund wird mich beißen.« — »Fürchte dich nicht«, sagte der Wanderer, »ich halte den Hund.« Darauf stieg die Alte vom Baume, die Gerte in der Hand, und trat zum Feuer; sie schlich sich heran, um dem Wanderer mit der Gerte einen Hieb über den Rücken zu geben, aber der Hund sprang schnell zu und packte das alte Weib an der Kehle. Sie schrie wie rasend, der Hund aber hielt sie fest, wie wenn sich ein Ertrinkender anklammert, und das Weib konnte sich nicht rühren. Der Wanderer zerrte an dem Hunde. Oje, der gehorchte nicht. Sein Herr packt ihn am Halshaar, er läßt sich aber nicht wegreißen, so wenig wie eine Zecke. Da dachte der Wanderer: »Die Sache geht nicht mit rechten Dingen zu; das Weib ist eine Hexe, sonst würde mein Hund mir gehorchen, er hat mir ja immer gehorcht; es muß eine Hexe sein; sie hat wohl auch meinen Bruder in Stein verwandelt. Halt sie fest, Hund!« Der spaßt nicht, sondern würgt das Weib, daß ihm die Augen aus dem Kopfe treten. Da sagte die Alte zu dem Wanderer: »Laß den Hund mich nicht beißen und erwürgen, ich will dir alles sagen.«Der Wanderer lief herbei und wollte das Weib von dem Hunde losmachen, der Hund aber gehorchte nicht. Darauf sagte das Weib: »Nimm meine Rute, diese Gerte, und schlag mit dem dicken Ende an das Steinbild, dein Bruder wird dann aufwachen und wieder zu einem lebendigen Menschen werden. Spute dich, vielleicht könnt ihr beide zusammen mich von dem Hunde freimachen.«Der Wanderer ergriff die Gerte der Alten und gab zuerst ihr einen Hieb über den Rücken; sie wurde zu Stein. Den Stein ließ der Hund los. Dann schlug er mit dem dicken Ende den Bruder auf den Rücken, und der wurde wieder lebendig.

Da saßen nun die beiden am Feuer, brieten Pilze, aßen zu Abend und erzählten sich, wie es jedem in der Fremde ergangen war. Sie konnten sich gar nicht genugtun mit Erzählen bis zur Morgenröte. Als es Tag geworden war, bemerkten sie im Walde umher fast unter jedem Baume Menschen, Hunde, Pferde und andre Tiere stehen, sitzen und liegen, alle von Stein.

Der jüngste Bruder schlug nun mit dem dicken Ende der Gerte des alten Weibes der Reihe nach an die Steinbilder im Walde. Alle wurden wieder



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lebendig. So fand er auch den zweiten Bruder, und auch der wurde wieder lebendig. Die Menschen, die wieder lebendig geworden waren, stellten sich um die versteinerte Zigeunerin und zerschlugen sie in kleine Stücke. Darauf wählten sie den jüngsten Bruder zum Oberhaupt, und dann vergnügten sie sich, schmausten, aßen und tranken. Ich bin auch dabeigewesen und habe Wein getrunken, noch jetzt ist mir die Zunge feucht.


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