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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die Zarentochter und der Drache

Es war einmal ein Zar, der hatte drei Söhne und eine Tochter, die ließ er im Frauengemach hinter vergitterten Fenstern aufwachsen und hütete sie wie seinen Augapfel. Als das Mädchen erwachsen war, bat sie eines Abends ihren Vater um Erlaubnis, mit den Brüdern ein wenig vor dem Schloß spazierenzugehen, und er erlaubte es. Aber kaum war sie draußen, als auf einmal ein Drache vom Himmel her angeflogen kam, das Mädchen aus der Mitte der Brüder wegriß und sie in die Wolken entführte.

Die Brüder liefen so schnell wie möglich zum Vater, erzählten ihm, was



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geschehen war, und sagten, sie würden gern ihre Schwester suchen gehen. Der Vater erlaubte es, gab jedem ein Pferd und was sonst zur Reise gehört, und sie zogen ab. Nach langer Wanderung kamen sie an einen Tschardak, der weder im Himmel noch auf der Erde lag. Dort angelangt, kam ihnen der Gedanke, ob in dem Tschardak nicht ihre Schwester sein könnte, und sie begannen sogleich Rat zu halten, wie sie da hinaufklettern könnten. Nach langer Überlegung und Beratung kamen sie überein, daß einer von ihnen sein Pferd schlachten, aus der Pferdehaut einen Riemen schneiden, dessen eines Ende an einem Pfeil befestigen und aus seinem Bogen hinauf schießen sollte, daß der Pfeil sich festhake und sie so an dem Riemen hinaufklettern könnten. Die beiden jüngeren Brüder sagten nun zu dem ältesten, er möge sein Pferd schlachten, der aber wollte nicht, auch der zweite wollte nicht; da schlachtete der jüngste sein Pferd, schnitt aus dem Fell den Riemen, band das eine Ende an einen Pfeil und schoß ihn in den Tschardak. Als es nun galt, an dem Riemen zu klettern, wollten wieder der älteste und der mittlere Bruder nicht, sondern der jüngste unternahm es. Oben angekommen, ging er von einem Zimmer in das andre, und so traf er eins, in dem er seine Schwester sitzen sah; der Drache hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, und sie suchte ihm die Läuse ab. Als sie ihren Bruder sah, erschrak sie und bat ihn, leise zu fliehen, ehe der Drache munter würde; er aber wollte nicht, sondern nahm seine Keule, holte aus und schlug den Drachen auf den Kopf; der aber griff halb im Schlaf mit der Hand nach der Stelle, wo er getroffen war, und sagte zu dem Mädchen: »Gerade hier beißt mich was.« Kaum hatte er das gesagt, da schlug ihn der Zarensohn noch einmal auf den Kopf, aber der Drache sagte wieder zu dem Mädchen: »Wieder beißt mich hier etwas.« Als er nun zum drittenmal zum Schlage ausholte, zeigte ihm die Schwester mit der Hand, er solle den Drachen auf den Unterleib schlagen. Das tat er, und sowie er den Drachen getroffen hatte, war der auf der Stelle tot.

Da warf ihn die Zarentochter von ihrem Schoße ab, lief zu ihrem Bruder, küßte ihn, nahm ihn dann bei der Hand und führte ihn durch alle Zimmer. Zuerst brachte sie ihn in eines, da war ein Rappe an die Krippe gebunden mit einem Geschirr ganz aus reinem Silber; darauf in ein anderes, wo ein Schimmel an der Krippe stand mit einem Geschirr ganz aus lauterem Gold; endlich in ein drittes, wo ein Grauschimmel an der Krippe war, dessen Geschirr mit kostbaren Steinen geschmückt war. Als sie durch diese Zimmer durch waren, führte ihn die Schwester in



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eines, wo ein Mädchen an einem goldnen Strickrahmen saß und mit goldnem Faden stickte; von da in ein andres, wo ein zweites Mädchen Goldfaden spann; zuletzt in eines, wo ein drittes Mädchen Perlen aufreihte, und vor ihr pickte eine goldne Henne mit ihren Küchlein auf einem goldnen Teller die Perlen auf. Als sie alles dies begangen und besehen hatten, ging er noch einmal in das Zimmer zurück, wo der Drache tot lag, schleppte ihn hinaus und warf ihn auf die Erde hinab. Als die Brüder ihn erblickten, befiel sie beinahe ein Fieberschauer. Darauf ließ der jüngste Bruder zuerst die Schwester zu den anderen Brüdern hinab, dann die drei Mädchen, jedes mit seiner Arbeit, eine nach der andern. Während er so dabei war, die Mädchen zu den Brüdern herabzulassen, dachte er sich aus, welches jedem von ihnen zufallen solle, und als er die dritte hinabließ, die mit der Henne und den Küchlein, bestimmte er die für sich. Seine Brüder aber beneideten ihn darum, daß er sich so tüchtig erwiesen hatte, die Schwester aufzufinden und zu befreien, und schnitten den Riemen durch, damit er nicht herunterkönnte, und als sie dann auf dem Felde einen Hirten bei seinen Schafen fanden, verkleideten sie ihn als ihren Bruder und brachten ihn zu dem Vater; ihrer Schwester aber und den Mädchen verboten sie strenge, irgendwem zu sagen, was sie getan hatten. Nach einiger Zeit erfuhr der jüngste Bruder auf dem Tschardak, daß sich seine Brüder und der Hirt mit den Mädchen verheiraten wollten. An dem Tage nun, wo der älteste Bruder getraut werden sollte, bestieg der jüngste den Rappen, und gerade als die Hochzeitsgäste aus der Kirche traten, flog er zwischen sie und gab seinem Bruder, dem Bräutigam, einen leisen Schlag mit der Keule in den Rücken, so daß der gleich vom Pferde fiel; darauf flog er in den Tschardak zurück.

Als er erfuhr, daß auch der mittlere Bruder heiratete, flog er auf dem Schimmel herbei, als gerade die Hochzeitsgäste aus der Kirche kamen, gab auch diesem Bruder einen Schlag, daß er gleich vom Pferde fiel, und flog aus der Mitte der Gäste wieder davon. Zuletzt, als er erfuhr, daß der Hirt sich mit seinem Mädchen verheiraten wollte, bestieg er den Grauschimmel, flog mitten unter die Hochzeitsgäste, als sie gerade aus der Kirche traten, und traf den Bräutigam mit der Keule auf den Kopf, so daß er auf der Stelle tot hinfiel. Die Hochzeitsgäste sprangen herzu, um ihn zu fangen, er aber tat gar nicht, als wolle er fliehen, sondern blieb unter ihnen stehen und gab kund, daß er der jüngste Sohn des Zaren sei und nicht jener Hirt und daß ihn die Brüder aus Neid in dem



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Tschardak zurückgelassen hätten, wo er die Schwester gefunden und den Drachen erschlagen hatte. Das alles bezeugten auch die Schwester und die Mädchen. Als der Zar das hörte, ergrimmte er gegen die beiden älteren Söhne und jagte sie sogleich fort; den jüngsten aber verheiratete er mit dem Mädchen, das dieser sich erwählt hatte, und hinterließ ihm nach seinem Tode das Reich.


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