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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Wahrer Verdienst bleibt nicht verborgen

Es war einmal ein Armer, der hing sich an einen reichen Mann und trat bei ihm in Dienst ohne Vertrag. So diente er ein volles Jahr, und als es um war, ging er zu seinem Herrn und forderte den Lohn, den dieser glaube ihm für seinen Dienst schuldig zu sein. Der Herr zog einen Pfennig heraus und sagte: »Da, das ist dein Lohn.« Der Knecht nahm den Pfennig, dankte dem Herrn und ging dann an einen Bach mit starkem Strom. Dort sprach er zu sich: »Barmherziger Gott, was bedeutet das, daß ich für ein volles Jahr nur einen Pfennig Lohn bekommen habe? Aber Gott weiß, ob ich auch nur so viel verdient habe. Ich will das jetzt einmal probieren. Ich werfe den Pfennig ins Wasser, und wenn er nicht untersinkt, habe ich ihn verdient; wenn er aber untersinkt, habe ich ihn nicht verdient.«Darauf bekreuzigte er sich und sprach: »Barmherziger Gott, barmherziger Gott, wenn ich diesen Pfennig verdient habe, laß ihn auf dem Wasser schwimmen; wenn nicht, laß ihn auf den Grund sinken.« Damit warf er den Pfennig in den Bach, und er sank sogleich auf den Grund. Darauf bückte er sich, holte den Pfennig aus dem Wasser und brachte ihn seinem Herrn zurück mit den Worten: »Herr! Hier hast du deinen Pfennig wieder, ich habe ihn noch nicht verdient, sondern will dir noch ein Jahr dienen.«

So trat er wieder in Dienst, und als wieder ein Jahr um war, kam er zu dem Herrn und forderte den Lohn, den dieser glaube ihm schuldig zu sein. Der Herr zog wieder einen Pfennig hervor und sagte: »Da, das ist dein Lohn.« Der Arme nahm den Pfennig, bedankte sich bei dem Herrn, ging dann wieder an den Bach, bekreuzigte sich und sprach: »Barmherziger Gott, wenn ich diesen Pfennig redlich verdient habe, so



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laß ihn auf dem Wasser schwimmen; wenn aber nicht, laß ihn auf den Grund sinken.« Damit warf er den Pfennig ins Wasser, und der ging sogleich unter. Darauf bückte er sich, holte ihn heraus und brachte ihn dem Herrn wieder mit den Worten: »Da, Herr, hast du deinen Pfennig wieder, ich habe ihn noch nicht verdient, sondern will dir noch ein Jahr dienen.« So trat er wieder in Dienst, und als das dritte Jahr um war, kam er zu dem Herrn und forderte den Lohn, den dieser glaube ihm schuldig zu sein. Wieder gab ihm der Herr einen Pfennig, er nahm ihn, bedankte sich und ging wieder an den Bach, um zu sehen, ob er jetzt den Pfennig verdient habe, bekreuzigte sich und sprach: »Barmherziger Gott, wenn ich diesen Pfennig verdient habe, laß ihn auf dem Wasser schwimmen; wenn aber nicht, laß ihn untersinken.« Sowie der Pfennig aufs Wasser fiel, schwamm er obenauf; da nahm er ihn vergnügt aus dem Wasser, steckte ihn in die Tasche, ging dann in einen Wald, baute sich eine kleine Hütte und lebte fortan dort.

Nach einiger Zeit hörte er, daß sein alter Herr sich zu einer Seereise rüste, weit weg in ein anderes Reich, ging mit seinem Pfennig zu ihm und bat ihn, er möge ihm in dem andern Reiche für den Pfennig etwas kaufen. Der Herr versprach es, nahm den Pfennig und reiste ab. Unterwegs traf er am Meeresstrand auf einige Kinder, die einen Kater herausgebracht hatten und ihn ertränken wollten. Als er das sah, lief er zu ihnen hin und fragte sie: »Was macht ihr, Kinder?« Die antworteten: »Er stiftet nur Schaden an, darum wollen wir ihn ertränken.« Da zog er den Pfennig seines früheren Knechtes heraus und bot ihn den Kindern für den Kater. Die waren gleich bereit, nahmen den Pfennig und gaben dem Kaufmann den Kater; der nahm ihn mit aufs Schiff und reiste weiter. Einmal aber erhob sich ein Sturm und verschlug das Schiff Gott weiß wohin, so daß es drei Monate lang nicht wieder in den richtigen Kurs kommen konnte, und als der Sturm sich gelegt hatte, wußte der Schiffsherr nicht, wo er war, doch kam er nach einer kurzen weiteren Fahrt an eine Stadt. Als es dort bekannt wurde, daß ein Schiff aus einem unbekannten Lande angekommen sei, strömten viele Leute herbei, es anzusehen, und einer von ihnen, ein sehr reicher Mann, lud den Schiffsherrn zum Abendessen ein. Aber was muß der Schiffsherr dort sehen: Mäuse und Ratten laufen überall herum, und Diener stehen mit Stöcken da, die Tiere abzuwehren, daß sie nicht auf den Tisch stürzen. Darauf sagte er zu dem Hausherrn: »Um Gottes willen, Bruder, was ist das?«Der antwortete: »So ist es immer bei uns, Bruder, wir können



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vor diesem Getier weder mittags noch abends in Ruhe essen. Sogar zum Schlafen hat jeder von uns seinen Kasten, in den schließen wir uns ein, daß sie uns nicht die Ohren abfressen.«Da erinnerte sich der Schiffsherr des Katers, den er den Kindern abgekauft hatte, und sagte zu dem Hausherrn: »Ich habe im Schiff ein Tier, das würde in zwei, drei Tagen all das vertilgen.« Der Hausherr antwortete: »Bruder, wenn du so ein Tier hast, gib es her, ich fülle dir dein Schiff mit lauter Silber und Gold, falls es wirklich wahr ist, was du sagst.«Gegen Abend holte der Schiffsherr seinen Kater aus dem Schiff und sagte dem Hausherrn, sie möchten sich nur ohne Kasten schlafen legen, das getrauten sie sich aber nicht, sondern er allein schlief so. Dann ließ er den Kater los, und sobald der so viel Mäuse und Ratten sah, machte er sich daran, sie zu fangen, zu erwürgen und alle auf einen Haufen zu schleppen. Die Mäuse und Ratten aber, die merkten, wer da war, liefen, wohin sie nur konnten. Als es Tag wurde und die Leute aufstanden, was sahen sie: mitten im Zimmer ein großer Haufen toter Mäuse und Ratten, kaum daß noch eine durchs Zimmer lief, sie guckten nur noch aus den Löchern heraus, und nach drei Tagen war keine mehr zu sehen. Da füllte der Hausherr dem Reisenden für den Kater das Schiff voller Silber und Gold, und unser Reisender fuhr mit dem Schiff nach Hause. Dort kam sein alter Knecht zu ihm und fragte ihn, was er ihm für den Pfennig mitgebracht habe. Der Herr ließ einen Marmorstein herausbringen, an allen vier Seiten schön behauen, und gab ihm den mit den Worten: »Da, das habe ich dir für deinen Pfennig gekauft.« Der Knecht freute sich sehr darüber, trug den Stein in seine Hütte und machte einen Tisch daraus. Am andern Morgen ging er ins Holz, und als er wieder heimkam, fand er den Stein in Gold verwandelt, das glänzte wie die Sonne, und die ganze Hütte war hell davon. Darüber erschrak er, eilte zu seinem alten Herrn und sagte: »Herr, was hast du mir da gegeben; das gehört mir nicht, komm und sieh!« Der Herr ging hin, und als er sah, was Gott für ein Wunder getan hatte, sagte er: »Es ist schon so, mein Sohn, wem Gott gnädig ist, dem helfen auch alle Heiligen; komm mit, ich zeige dir, was dir gehört.«Darauf gab er ihm alles, was er in dem Schiffe hergebracht hatte, und gab ihm seine Tochter zur Frau.


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