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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Das Mädchen von nirgend her

Es war einmal ein König, der hatte nur einen einzigen Sohn. Als der Sohn erwachsen war, lag ihm der Vater beständig an, sich zu verheiraten. Darauf antwortete er: »Ich möchte mich wohl verheiraten, aber hier gibt es keine Mädchen für mich, ich muß in die Welt ziehen, ein



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Mädchen suchen, das von nirgend her ist. Gib mir ein gutes Pferd, einen Diener und Geld, dann will ich suchen.« Auf seiner Reise kam er in einen großen Wald und traf dort auf einen schönen Brunnen; da befahl er seinem Diener, das Pferd zu tränken. Der wollte das gerade tun, aber zufällig sah er in den Brunnen hinein, und darin leuchtete es so schön, daß es lieblich anzusehen war. Da rief der Diener seinen Herrn, er möge doch auch sehen, was da in dem Brunnen leuchtet. Der Herr verwunderte sich und blickte in die Höhe, über dem Brunnen, da sah er ein schönes Mädchen auf einer Eiche sitzen, wie es schöner nicht sein konnte, goldenes Haar bis zu den Knien und funkelnd wie die Mittagssonne. Als er sie ordentlich betrachtet hatte, rief er sie herab: er wolle sich ein wenig mit ihr unterhalten, und als sie unten war, fragte er sie, woher sie sei und worauf sie da warte. Sie antwortete ihm, sie gehöre niemand an, sie sei von nirgend her und warte hier auf ihr Glück. Darauf sagte er: »O! So eine suche ich gerade, die von nirgend her ist; aber willst du mein werden?« — »Ich will.« — Da nahm er den Ring von seinem Finger und gab ihn ihr, und sie gab ihm ihren. »Jetzt bleib du hier«, sprach er weiter, »bis ich wiederkomme und das Hochzeitsgefolge mitbringe.«

Während so der Prinz nach Hause ging, tappte eine Zigeunerin zu dem Brunnen heran, sah hinein, und es leuchtete ihr hell daraus entgegen. Als sie nun hinaufblickte, bemerkte sie das Mädchen und sagte zu ihr: »Aber nein, Herrin, bist du schön! Komm herab, gib mir deine Kleider, ich gebe dir meine, dann wollen wir in den Brunnen gucken und sehen, wessen Bild schöner ist.« Das Mädchen kam herab, zog die Kleider der Zigeunerin an und die Zigeunerin ihre. Darauf bückten sie sich und sahen in den Brunnen, die Zigeunerin aber packte das Mädchen, warf sie in den Brunnen und setzte sich an ihren Platz, um abzuwarten, was nun wird. Da hörte sie auf einmal Musik spielen, und es kommt ein Hochzeitszug. Als die Herren an die Stelle kamen, betrachteten sie das Mädchen von nirgend her, was das für eine ist, und alle wunderten sich, wie schwarz sie ist, auch der Prinz selbst wunderte sich, wie häßlich sie ist. Aber was will er machen? Jetzt müssen sie sie schon mitführen. Da befahl der Prinz einem Diener, die Pferde zu tränken; der läßt den Eimer in den Brunnen hinab, und hinein springt ein Goldkarpfen. Der Diener rief seinen Herrn, der sah den Karpfen an und befahl dem Diener, ihn in ein Tuch zu wickeln und in einen Kasten zu legen. Das tat der Diener, und darauf begaben sie sich nach Hause.



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Dort wurde die junge Frau krank. Doktoren kamen, konnten ihr aber nicht helfen, doch fragten sie, was sie essen möchte, und sie antwortete, sie möge nichts als den Karpfen. Der Prinz redet ihr ab: »Laß doch, du siehst ja, es gibt nichts so Schönes wie den.« Aber vergebens, sie wollte nichts als den Karpfen. Da man jetzt nicht aus noch ein wußte, mußte man ihr den Karpfen schlachten, und der Prinz befahl demselben Diener, der ihn gebracht hatte, das zu tun. Gerade neben ihrem Garten war ein kleiner Bach, und dort schlachtete er ihn. Er hatte ihn schon abgeschuppt und wollte ihn ausnehmen, als ein altes Weib durch den Garten da vorbeikam und ihn fragte, was er mache. Er antwortete ihr: »Du siehst ja, ich nehme einen Fisch aus.« Dabei bewegte sich innen das Herz in dem Fische. »Gib mir doch das Herz, ich bitte dich.« Darauf antwortete er: »Das wage ich nicht, denn wenn der Prinz es merkt, hängt er mich auf.« Die Alte fing wieder an: »Ich bitte dich, gib es mir doch! Niemand wird davon erfahren, ich verberge es.« Da gab er es ihr, sie nahm es mit nach Hause und warf es hinter den Ofen, daß es niemand sehen sollte.

Als der Fisch gekocht war, aß die Prinzessin ihn, und ihr wurde besser, der Prinz aber hatte dem Diener befohlen, Flossen und Schuppen in den See zu werfen. Er hatte auch alles hineingeworfen, nur eine Schuppe war draußen geblieben; und sieh da! am nächsten Morgen war aus der Schuppe ein großer Birnbaum erwachsen, himmelhoch, mit goldenen Ästen und Blättern. Als der Diener am Morgen aufgestanden war, verwunderte er sich sehr, ging gleich zu seinem Herrn, es zu melden, und auch der Herr erstaunte sehr. Als aber die Frau aufgestanden war und sah, was war, sagte sie gleich: »Das ist gar zu hell, das muß abgehauen und in den Ofen geworfen werden.« Der Prinz anwortete: »Laß es doch so, wie schön ist es doch, niemand hat etwas so Schönes.« Sie blieb aber dabei: »Das ist gar zu hell, das muß abgehauen werden.« Da mußte denn der Diener den Baum abhauen, und als er dabei war, kam wieder das alte Weib und wollte ein Stück von einem Zweiglein haben. Er antwortete aber: »Ich wage es nicht, denn wenn's der Prinz hört, läßt er mich aufhängen.« — »Gib nur, ich bitte dich, es wird niemand davon erfahren, ich werde es gut verstecken.« Darauf gab er ihr ein Stück von einem Zweiglein, sie nahm es mit nach Hause und warf es dahin, wo das Karpfenherz lag. Der Diener aber hieb alles ab und warf es in den Ofen.

Eines Morgens, als die Alte aus dem Schlaf erwachte und einen Blick



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hinter den Ofen warf, sah sie dort ein schönes Mädchen, wie es nicht schöner sein kann. Die Alte erschrak, aber das Mädchen sagte: »Hab keine Angst; ich danke dir, daß du das Herz und das Zweiglein verlangt hast. Hättest du es nicht bekommen, würdest du von mir nichts gewußt haben. Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben, ich will dir alle Arbeit tun, die du brauchst.«

In dem Jahre war dem König viel Korn gewachsen, und schon zeigte sich der Kornwurm darin. Da ordnete er an, daß aus jedem Hause eins kommen solle zum Kornworfeln. Die Reihe kam auch so an die Alte, und das Mädchen sagte zu ihr: »Ich will für dich gehen, geh du nicht selbst.« Die Alte ließ sie gehen: »Also geh, Töchterchen!« Als sie so beim Kornsieben waren, kam der Prinz, nahm einen Sessel, setzte sich zu ihnen und sagte: »Jetzt muß jede eine Geschichte erzählen.« Da erzählten alle, aber als die Reihe an das Mädchen kam, sagte sie: »Ich weiß nichts.« Der Prinz befahl ihr aber: »Du mußt, du weißt schon irgendwas.« —»Nun, ich bin ein Mädchen von nirgend her und war im Walde über dem Brunnen da. Da kam ein Prinz und wollte sein Pferd tränken, bemerkte mich und rief mich herab. Er gab mir gleich seinen Ring und ich ihm meinen, dann stieg ich wieder hinauf. Danach kam eine Zigeunerin, sah in den Brunnen und bemerkte mich. Dann bat sie mich, ich möchte ihr meine Kleider geben, sie wollte mir ihre geben, wir sollten uns dann in dem Brunnen spiegeln und sehen, wie es jeder von uns ließe. Ich kam herab, und wir spiegelten uns, als sie mich auf einmal in den Brunnen stieß.«

Als der Prinz das gehört hatte, wollte er sehen, ob sie die goldenen Haare hätte; sie nahm ihr Tuch ab, und alles erglänzte von lauter Gold. Da nahm sie der Prinz zur Frau, und die Zigeunerin ließ er hinrichten.


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