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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die zwölf Brocken

Es war einmal ein Zar, dem starb seine Frau, und er blieb als Witwer zurück mit einem kleinen Knaben, der, wie alle kleinen Kinder, viel weinte. Einmal schickte sich der Zar an, auf die Jagd zu gehen, aber der Kleine hing sich an seinen Hals und verfiel noch stärker ins Weinen. Dem Zaren tat das sehr leid, und er beschloß, des Kindes wegen wieder zu heiraten, daß die zweite Frau für das Kind in seinem Palaste Sorge trage. Dann beruhigte er das Kind, so gut es gehen wollte, und ging auf die Jagd. Unterwegs traf er im Gebirge an einer Quelle eine schöne und kräftige Frau, die Wasser schöpfte in zwölf Kürbisflaschen. Der Zar verwunderte sich darüber und fragte die Frau, warum sie das täte. Sie antwortete: »Das tue ich, um mich damit zu ernähren; für jede Flasche Wasser bekomme ich einen Brocken Brot, und so verdiene ich jeden Tag zwölf Brocken.« Der Zar fragte weiter, ob sie daran genug hätte, und sie antwortete: »Es wäre das sogar zuviel, aber ich lasse erst meine junge Tochter davon essen, dann nehme ich selbst, und so reicht es gerade für uns aus.« Da wunderte sich der Zar noch mehr, und da sie jung und hübsch war, kam er auf den Gedanken: »Die wäre gut für mein Haus und mein Kind.«

Darauf gab er sich ihr kund, daß er der Zar des Landes sei, und fragte sie, ob sie seine Frau werden wolle. Sie ging sogleich darauf ein, und so führte sie der Zar in seinen Palast und heiratete sie, und sie wurde so die Zarin. Ihre Tochter war noch jünger als der Sohn des Zaren, die Kinder aber vertrugen sich gut miteinander und hatten sich sehr lieb. Wenn der Zar etwas besonders Schönes bekam, schenkte er es den Kindern, und die teilten es redlich und lieb unter sich. Der Zarin aber wurde ein solches Leben unlieb, denn sie hatte den Gedanken gefaßt:



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»Warum soll neben meinem Kinde auch noch das fremde Kind alles Gute mitgenießen?« Darum beschloß sie, den Vater mit dem Sohne zu verfeinden, ob dann der Vater ihn vielleicht aus dem Hause jagen würde. Das Böse, das sie ersonnen hatte, führte sie auch bald aus. Sie fing an, dem Zaren vorzuerzählen, wie sie jede Nacht schreckliche Träume hätte: sein Sohn sei auf einmal groß gewesen, habe den Zaren vom Thron gestoßen und sie alle zu Tagelöhnern gemacht. Der Zar geriet auf dieses Gerede hin in Unruhe, und als die Frau nicht aufhörte, ihm den Kopf voll zu reden, entschloß er sich, seinen Sohn aus dem Hause zu jagen. Und so mußte der Erbprinz, der schon ein ziemlich großer Junge war, Bettlerkleider anziehen und in die Fremde gehen, es tat ihm aber sehr weh, daß sein Vater so mit ihm verfahren war. Auf seiner Wanderung machte er einmal zum Nachtlager halt bei einer Höhle, in der ein Einsiedler lebte, ganz alt und weißbärtig. Um Mitternacht hörte er ein Wehklagen aus der Höhle und erschrak darüber, faßte sich aber schnell und überlegte: »Wer es auch sei, er klagt nicht aus Mutwillen, sondern aus schlimmer und großer Not.« Darum ging er zu der Höhle und sah den Einsiedler, wie er ächzte, krank und durstig. Da lief der Zarensohn schnell an den Bach, schöpfte Wasser in die hohle Hand und stieg wieder zu der Höhle hinauf. Auf dem Wege fiel er hin und zerschlug sich das Knie, brachte aber doch dem Alten etwas Wasser in der hohlen Hand. Da freute sich der Alte sehr und sprach: »Mein Sohn, ich seufzte nicht deswegen, weil ich krank und durstig bin, sondern weil ich weiß, wieviel Bosheit und Elend es in der Welt gibt, jetzt aber freue ich mich, weil ich sehe, daß es noch Leute gibt, sogar in dieser Einöde, die menschliche Leiden mitfühlen. Darum verlange, was du willst, ich gebe es dir, wenn ich es irgend habe und kann.« Darauf antwortete der Zarensohn: »Mich hat ein Kummer getroffen, und wenn du dagegen ein Mittel weißt, sage es mir, ich bitte dich.« Der Einsiedler aber reichte ihm ein kleine Flöte und sagte: »Nichts ist leichter. Dies kleine Ding wird dich immer froh machen, und wenn dein Herz vor Freude zu tanzen anhebt, wird alles Lebendige um dich herum tanzen, solange die Flöte ertönt.« Der Zarensohn bedankte sich bei dem Einsiedler, ging weiter und konnte kaum erwarten, bis er allein sein würde und anfangen könnte zu flöten. So ging er weiter und weiter, und als er sah, daß er ganz allein war, nahm er die Flöte und probierte; vor Freuden begann ihm das Herz zu tanzen, und er bemerkte in der Ferne, wie ein Eichhörnchen nach seiner Flöte tanzte. Darauf



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wanderte er weiter, und die Zeit verging, bis er sich endlich bei einem reichen Mann zum Schaf hüten verdang. Oft kam die Sehnsucht ihn an, aber er hütete sich zu flöten, wenn er mit den Schafen auf der Weide war, denn die Schafe würden die Weide liegen lassen, wenn sie die Flöte hörten, und alle herumtanzen. Als er eines Abends mit seinen Schafen auf dem Wege nach Hause war, hörte er von weitem Klagegesang, und als er zu Hause ankam, was mußte er sehen: sein Herr war in der vergangenen Nacht auf einen Vilentanzplatz getreten, und die Vilenzarin hatte ihm beide Augen ausgestochen; darum sangen er und alle die Seinigen, soviel ihrer waren, Klagelieder. Da beschloß der Zarensohn auszuziehen, und die Augen seines guten Herrn zu suchen. Seine Schafe ließ er zurück, nahm eine Tasche, tat Brot, Salz und Zwiebeln hinein, dazu die Flöte und ging der Spur nach, wie er es von seinem Herrn gehört hatte, sagte aber niemand, was er vorhabe und wohin er gehe. Als er dort ankam, erschrak er, die Vilenzarin hatte sich mitten im Gebirge auf einer Lichtung niedergelassen, und zwölf Vilen flochten und lösten ihr das Haar, das aber leuchtete im Mondenschein wie lauter Gold. Er ging noch näher heran, die Vilen hörten auf, das Haar zu flechten, und die Zarin, die halb geschlafen hatte, schlug die Augen auf. Da erkannte er, daß sie ihn bemerkt hatten, fuhr schnell mit der Hand in die Tasche, zog die Flöte heraus und fing an zu spielen, erst leise, dann immer stärker und stärker. Vor Angst drehte sich ihm das Herz im Leibe um, aber die Vilen sahen sich an, brachen dann in ein lautes Lachen aus, zuletzt stellten sie sich zum Reigen zusammen und fingen an zu tanzen wie rasend. Er flötete unaufhörlich, und ihnen ging schon ganz der Atem aus.

Das ging so weiter, bis die Zarin ausrief: »Ach, ich kann nicht mehr!« Aber mach einmal einen aufhören, wenn er überhaupt nicht will; sie konnten ihn nicht zum Nachlassen und Anhalten bringen. Da merkten sie, daß sie bös angekommen waren, und riefen laut: »Wer du auch bist, wir bitten dich, hör auf!« Er aber antwortete ihnen: »Sagt mir, wo die Augen meines Herrn sind.«Die Vilenzarin verschwor sich bei Himmel und Erde, daß sie es nicht getan habe, aber er ließ sich nichts vormachen. Da sagte sie ihm, er solle zu der Tanne gehen, über der der Mond am hellsten schiene, und von der eine goldene Umhängetasche herabschütteln; darin würde er eine silberne Dose finden, in der reine Watte und in der Watte die Augen, die er suche. Er tat so, wandte aber die Augen nicht von den Vilen, und sobald sie sich rührten, blies er die Flöte, und



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.sie fingen wieder an, rasend herumzuspringen. So kam er an die Tanne, schüttelte die goldne Tasche herab, fand in ihr die silberne Dose, in der Dose die Watte, und in der Watte die Augen seines Herrn. Darauf begab er sich, vergnügt die Flöte spielend, nach Hause. Dort gab er seinem Herrn das Augenlicht wieder, und der, als er wieder sehen konnte, umarmte seinen Diener und überschüttete ihn mit Gold und allerlei Kostbarkeiten. Der Diener aber sagte, er begehre nichts als ein gutes Pferd und tüchtige Waffen, denn er habe Lust, in die Welt zu ziehen und Gutes zutun. Der Herr gab ihm all das sehr gern, und so zog er wieder in die Welt. Da verbreitete sich sein Ruf weithin, als eines Helden, der Kämpfe bestehe und die Armen beschütze. Daher begann man jetzt, ihn bald hierhin, bald dahin zu Hilfe zu rufen, und einmal kam ein solcher Ruf an ihn von dem Zaren, seinem Vater; der ließ ihm sagen: »Wir haben von dir und deinem Ruhm gehört, unbekannter Held, und bitten dich, uns um Gottes willen zu helfen; ein feuriger Drache ist gekommen und begehrt, daß wir ihm unsere Tochter geben und mit ihr unser ganzes Reich.«

Als der Zarensohn das gehört hatte, ging er hin und überlegte dabei in einem fort, was das für eine Tochter des Zaren sein könne, und vermutete, es sei keine andre, als die seine Stiefmutter ins Haus gebracht hatte und die so gut mit ihm gewesen war. In solchen Gedanken kam er zuletzt in das Reich seines Vaters und begab sich gerade vor den Zarenpalast. Dort fand er alles, wie er es verlassen hatte, nur sein Vater war sehr gealtert, und so auch die Diener und die Stiefmutter. Ihre Tochter aber war zu einem wunderschönen Mädchen erwachsen. Da auf einmal kam der feurige Drache heran, und als er den Zarensohn erblickte, fuhr er auf ihn los und rief schon von weitem: »Du bist gerade der, den ich schon lange suche.«Feurige Pfeile gingen von ihm aus, aber das Pferd des Zarensohnes kniete nieder, und die Pfeile flogen über ihn weg. Da warf der Zarensohn seine Lanze, aber sie brach mitten entzwei und tat dem Drachen nichts.

So wurden ihm seine sämtlichen Waffen verdorben, und er stand mit leeren Händen da, der Drache aber lachte auf und ging gerade auf ihn zu. Da ergriff der Zarensohn seine Flöte und begann zu spielen. Alles Lebendige ringsum fing an zu tanzen, der Drache zischte und begann zu zittern und allmählich immer kleiner zu werden, bis er nur noch wie ein kleine Blase war, die auf und ab sprang. Da lief der Zarensohn schnell hinzu, drückte ihn mit dem linken Fuß nieder, die Blase zerplatzte,



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und die Teufeismacht war damit zu Ende. Als die Leute sahen, was geschehen war, freuten sie sich sehr, der Zar umarmte ihn und fragte ihn aus, wer und woher er sei. Der Zarensohn gab sich darauf kund und erzählte alles, was ihm widerfahren war; der Zar aber, als er das hörte, wurde zornig auf seine Frau und wollte sie gleich töten, aber der Zarensohn bat um ihr Leben, und darauf entschied der Zar, sie solle auf das Gebirge gehen, woher sie gekommen war, dort an der Quelle wieder zwölf Kürbisflaschen nehmen und sich von den Brocken, die sie damit verdiene, ernähren. Ihre Tochter aber gab er seinem Sohne zur Frau, und der kam so zu dem Thron seines Vaters, wie denn jede Fügung Gottes zuletzt sich so erfüllen muß, wie es bestimmt und wie es recht und gut ist.


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