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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Schwiegersohn aus der Fremde

In alten Zeiten lebte ein reicher und mächtiger König, der glücklich und friedlich regierte. In hohem Alter erkrankte er, und da er merkte, daß es mit seinem Leben zu Ende gehe, rief er seine Frau, seine beiden Söhne und seine Tochter zu sich, um ihnen seinen Letzten Willen kundzutun. Alle brachen in Tränen aus, er aber sprach zu ihnen: »Lebt miteinander in Liebe und Eintracht, die Tochter aber gebt dem ersten Fremden, der um sie anhält.« Damit starb der König.

Seit seinem Tode waren schon drei Jahre vergangen, als eines Morgens im Königspalast ein Mensch erschien, der etwas sonderbar und wild aussah und verlangte, die Brüder sollten ihm ihre Schwester zur Frau geben. Der ältere, der jetzt König war, wollte ihm schon eine Tracht Prügel geben, aber der jüngere erinnerte sich dessen, was der Vater ihnen



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befohlen hatte. So führte der Fremde die Schwester davon und sagte noch, er werde die Brüder bald besuchen. Sobald sie fort waren, ließ der König überall herumfragen, ob man wisse, was und woher der sonderbare Mensch sei. Aber niemand wußte es.

So waren drei Jahre vergangen, und der Schwager hatte sie noch nicht besucht, wie er versprochen hatte. Dem König war es leid, daß er die Schwester nur so weggeworfen hatte, Gott weiß wohin, darum ging er zu seiner Mutter: »Mutter, ich gehe die Schwester suchen.« Sie wollte ihn nicht lassen, aber er gab nicht nach und ging. Schon hatte er viele Länder und Städte durchwandert, aber von seinem Schwager nichts gesehen und gehört. Als er nun immer weiter wanderte, kam er auf eine große wüste Ebene, schon hungrig und durstig, aber er konnte nirgends weder Stadt noch Haus finden. Ganz ermüdet, erblickte er auf einmal in der Nacht ein Licht, auf das ging er zu und gelangte zu einer kleinen Hütte. Eine alte Frau öffnete ihm die Tür und redete ihn an: »Königssohn, du hast nicht klug getan, daß du dich auf eine so weite Reise begeben hast; du hättest besser getan, deiner Mutter zu gehorchen und zu Hause zu bleiben.« »Und woher weißt du, Alte, daß ich der Königssohn bin?« —»Ich«, antwortete sie, »weiß auch, wie es dir gehen wird. Du wirst freilich deine Schwester finden, aber erst in drei Tagen. Dann wirst du viel Übles und viel Not erleiden. Darum höre auf mich und bleibe einige Tage bei mir, bis du dich erholt hast, und dann geh hübsch wieder hin, wo du hergekommen bist. Das sagt dir die Alte; hier bei mir wird dir nichts geschehen, nur geh niemals weiter als zweitausend Schritt vom Hause weg.«

Eines Tages spazierte der König um die Hütte der Alten herum und erblickte einen Baum mit schönen Früchten; davon wollte er pflücken und ging dahin, aber sobald er dem Baume nahe kam, wich der zurück. Er hatte sich nun in den Kopf gesetzt, er müsse von der Frucht des Baumes essen, und ging ihm weiter nach. So lief er den ganzen Tag. Auf einmal blieb der Baum stehen, und er kam an ihn heran. Sowie er sich anschickte, die Frucht zu pflücken, stieg ein Alter von dem Baum herab und fragte ihn: »Was machst du da?« Der König antwortete: »Ich bin ein Hirt und hatte Lust zu dem schönen Obst, jetzt will ich wieder zurück dahin, woher ich gekommen bin.« Darauf sagte der Alte zu ihm: »Mein Sohn, dahin, woher du heute gekommen bist, wirst du nicht mehr zurückkehren. Die Gegend dort ist von einem bösen Geist verzaubert, und die Alte, bei der du gewesen bist, ist eine seiner Dienerinnen.



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Wärst du länger bei ihr geblieben, hätte sie dich sicherlich ausgeliefert. Jetzt danke Gott und erhole dich ein wenig.« Darauf tat der Alte einen Pfiff, und vor dem Könige erschien ein Tisch mit mancherlei Speisen. Als er sich erquickt hatte, fragte ihn der Alte: »Willst du mit mir, mein Sohn?« —»Ja, lieber Alter.«

So gingen sie, aber auf dem langen Wege wurde der König so müde, daß er nicht mehr weiterkonnte. Da nahm ihn der Alte auf den Rücken und erhob sich in die Luft. Nach einer Weile setzte er ihn ab vor einer schönen Burg und verschwand. Der König ging um die Burg herum, aber nirgends war ein Tor, und er war nun so müde geworden, daß er sich vor der Burg niederwarf. Da sah ihn eine Magd aus dem Fenster und meldete es ihrer Herrin; die ließ ihn in die Burg tragen, und sowie er die Augen aufschlug, erkannte er seine Schwester. Sie küßten sich und begannen zu erzählen, und er berichtete ihr alles von seiner Wanderung. Da wurde die Schwester betrübt und sagte zu ihm: »Der Alte ist ja kein andrer als mein Mann; er hat dich nur darum hierhergebracht, um dich hier umzubringen.« Sie waren noch in der besten Unterhaltung, als sie auf einmal ein Geräusch hörten; es war der Geist, ihr Mann, der ankam. Der König versteckte sich, aber sobald der Geist in die Stube trat, rief er sogleich seiner Frau zu: »Wo ist mein lieber Schwager, daß ich ihn bewirte und ihm Vergnügen mache?« Da mußte die Schwester den Bruder herzeigen. Sie verbrachten nun drei Tage mit Schmausen und Lustbarkeit; als der vierte Tag anbrach, gingen König und Geist auf einen Spaziergang. Der Geist aber kam allein zurück und ging dann gleich wieder vom Hause fort. Die Schwester wartete und wartete betrübt auf den Bruder, aber er kam nicht. Da wußte sie, daß der Geist ihn aus der Welt geschafft hatte. Unterdes war des Königs Mutter erkrankt und gestorben, und der jüngere Bruder wurde König, denn alle dachten, der wirkliche König wäre umgekommen.

Der neue König beschloß nun, Bruder und Schwester zu suchen, durchwanderte viele Städte, fand aber nichts. Am Ende kam er zu einer Stadt, die war ganz aus Eisen; er ging hinein, aber es war keine lebende Seele darin; alle Häuser waren geschlossen, und auf der Straße war niemand. Nur vor ein großes Haus kam er, das offen war; als er hineintrat, sah er auf einmal einen großen Drachen ein Lamm am Spieß braten, zu dem ging er hin und begrüßte ihn mit Gott helfe. Der Drache antwortete darauf nicht. Da wurde der junge König zornig und versetzte dem Drachen einen Hieb, und nun erhob sich zwischen ihnen ein blutiger



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Kampf. Der König zog sein Schwert und brachte dem Drachen eine böse Wunde bei. Der lief in die Burg, der König auf der Blutspur hinter ihm her. Oben im Zimmer warf der Drache sich aufs Bett, in der Ecke aber saß ein junges Mädchen und weinte. Der König sprang noch einmal auf den Drachen los und gab ihm noch einen tüchtigen Schlag, dann fragte er das Mädchen, was mit ihr sei. Sie antwortete ihm: »Mein Vater war König dieser Stadt, und der Drache war ein Zauberer; er bewarb sich bei meinem Vater um mich, und da der Vater mich ihm nicht geben wollte, machte er die ganze Stadt eisern, und mich entführte er. Um den Hals hängt ihm eine kleine Schachtel, darin ein Vögelchen; töte das, dann wird die ganze Stadt wieder lebendig.« Das tat der König, die Stadt lebte wieder auf, die Häuser taten sich auf, und die Leute gingen in den Straßen auf und ab. Von da ging nun der König weiter und kam zu einer großen Wüste, zu derselben alten Frau, bei der sein Bruder gewesen war. Sie begrüßte ihn ebenso wie seinen Bruder und gab ihm denselben Rat. Er hörte aber nicht auf sie, sondern ging weiter bis zu einer andern Hütte, darin war der Alte, der seinen Bruder entführt hatte. Von dem ließ er sich verleiten, und der Alte brachte ihn zu derselben Burg, dann verschwand er.

Der König suchte lange nach dem Tor, fand es glücklich und ging in die Burg. Als er da durch die Stuben ging, fand er seine Schwester; die fing gleich an zu weinen und erzählte ihm, wie der ältere Bruder verlorengegangen war. Als er nun den Geist kommen hörte, versteckte er sich nicht, sondern erwartete ihn. Den Tag über verbrachten sie die Zeit sehr vergnügt, am Abend aber versteckte sich der König in der Schlafstube des Geistes. Als der Geist eingeschlafen war, schlich er sich heran und wollte ihm den Kopf abhauen. Da bemerkte er aber am Halse des Drachen etwas Rotes, das nahm er; das war eine kleine Schachtel, und darin ein Vögelchen. Sowie er das Vögelchen in die Hand nahm, erwachte der Drache, und als er das Vögelchen in der Hand des Königs sah, bat er ihn, er möge ihn nicht umbringen. Darauf fragte ihn der König, wo sein Bruder sei; der Geist gab ihm eine Salbe, damit solle er in den Pferdestall gehen und dort das Pferd damit bestreichen. Der König ging und tat alles so, wie ihm der Geist gesagt hatte, und plötzlich stand statt des Pferdes sein Bruder vor seinen Augen. Sie begrüßten sich und gingen beide in die Stube und weckten ihre Schwester. Darauf drehte der jüngere Bruder dem Vogel den Hals um, sogleich verschwand der Geist, und plötzlich trat ein schöner junger Mann in die



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Stube. Der sprach: »Ich bin der Geist, der eben verschwunden ist. Es war mir verhängt, ein Übeltäter zu sein, bis mich jemand in dem Geisterleib erschlagen würde. Ihr habt mich erlöst, nun gebt mir eure Schwester zur Frau.« Die Brüder willigten ein, und darauf zogen sie alle zusammen in ihr Reich. Als sie durch die Wüste kamen, war die Alte nicht mehr da. Der jüngere Bruder blieb nachher in der eisernen Stadt und heiratete die junge Königin, die er erlöst hatte, der ältere und die Schwester lebten friedlich und ruhig in der Vaterstadt.


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