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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Vom wunderbaren Haar

Es war einmal ein sehr armer Mann, der hatte das Haus so voll Kinder, daß er sie nicht ernähren konnte und mehrmals schon daran gedacht hatte, sie eines Morgens umzubringen, damit er nicht den Kummer erlebe, sie Hungers sterben zu sehen; aber seine Frau wehrte ihm. Eines Nachts erschien ihm im Traum ein Kind und sprach: »Mann, ich sehe, du hast den Gedanken gefaßt, deine armen Kindlein umzubringen, und ich weiß, daß du in Not bist, aber in der Frühe wirst du unter deinem Kopfkissen einen Spiegel, ein rotes Taschentuch und ein gesticktes Kopftuch finden; alles drei nimm heimlich, sag es niemand, und geh



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in den Wald; da wirst du einen Bach finden, den geh entlang bis zur Quelle; dort wirst du ein Mädchen finden, leuchtend wie die Sonne, nackt, wie die Mutter sie geboren hat, das aufgelöste Haar fällt ihr über den Rücken; hüte dich aber, daß dich die böse Schlange nicht verstricke. Du darfst kein Wort sagen, denn sowie du einen Laut sprichst, wird sie dich verzaubern und dich in einen Fisch oder sonst etwas verwandeln und dich dann fressen. Wenn sie aber sagt, du sollst sie lausen, tu es; wenn du dann ihr Haar auseinanderlegst, merk auf, du findest dann ein Haar rot wie Blut, das reiß aus und lauf davon. Wenn sie es dann merkt und hinter dir herrennt, wirf ihr zuerst das gestickte Kopftuch hin, dann das Taschentuch und zuletzt den Spiegel. Damit wird sie sich aufhalten und zurückbleiben. Du verkaufe das Haar einem reichen Mann, aber laß dich nicht betrügen, das Haar ist unzählbares Geld wert. So wirst du reich werden und kannst deine Kinder ernähren.«

Als der Arme aufwachte, fand er alles unter seinem Kopfkissen, wie das Kind es ihm im Traum gesagt hatte, und machte sich auf in den Wald. Dort fand er den Bach, ging an ihm bis zur Quelle, und als er sich dort umsah, wo das Mädchen sein könnte, sah er sie am Seeufer sitzen und Sonnenstrahlen einfädeln und auf einem Stickrahmen einen Stoff besticken, der aus Heldenhaaren gewebt war. Sowie er sie erblickt hatte, verneigte er sich vor ihr; sie sprang auf und fragte ihn: »Woher bist du, unbekannter Held?« Er blieb stumm. Sie fragte ihn nochmals: »Wer bist du? Wozu bist du hergekommen?« und manches andre. Er aber blieb stumm wie ein Stein, zeigte nur mit der Hand, daß er stumm sei und Hilfe suche. Darauf sagte sie ihm, er solle sich ihr auf den Schoß setzen; das tat er gleich, und sie hielt ihm den Kopf hin, daß er sie lause. Er legte nun die Haare auseinander, lauste sie und fand endlich das rote Haar, trennte es von den anderen Haaren, riß es aus, sprang von ihrem Schoße auf und lief fort, so schnell er konnte. Sie merkte es, und auf der Stelle in vollem Lauf ihm nach. Als er sich umsah und bemerkte, daß sie ihm schon ganz nahe war, warf er das gestickte Kopftuch auf den Weg. Sie sah es, bückte sich danach und betrachtete es hin und her, verwundert über die Stickerei. Währenddessen hatte er sich ein gutes Stück entfernt. Aber das Mädchen nahm das Kopftuch an sich und rannte wieder hinter ihm her. Als er nun sah, daß sie ihn gleich einholen würde, warf er das Taschentuch hin. Sie hielt sich wieder so lange mit dem Besehen auf, bis der arme Mann ein Stück weitergekommen war. Da wurde das Mädchen zornig, warf Kopftuch und Taschentuch weg



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und jagte ihn in vollem Laufe nach. Als er wieder bemerkte, daß sie ihm nahe war, warf er den Spiegel hin. Als das Mädchen auf den Spiegel stieß, ein Ding, das sie noch niemals gesehen hatte, hob sie ihn auf, und als sie sich darin sah, wußte sie nicht, daß sie es ist, sondern dachte, es sei ein ihr ähnliches Mädchen, und sah starr in den Spiegel. Dabei kam der Mensch so weit fort, daß sie ihn nicht mehr einholen konnte. Sie kehrte um, und der Mann ging gesund und munter nach Hause. Dort zeigte er seiner Frau das Haar und erzählte ihr alles, was ihm widerfahren war. Sie lachte und spottete nur über ihn. Er hörte aber nicht auf sie, sondern ging in eine Stadt, um das Haar zu verkaufen. Dort versammelten sich allerlei Leute, auch Kaufleute, um ihn; einer bot einen Dukaten, ein anderer zwei, und so immer höher, bis sie auf hundert Dukaten kamen. Währenddes hörte der Zar von dem Haar, ließ den Mann zu sich rufen und bot ihm tausend Dukaten dafür. Da verkaufte er es dem Zaren. Und was hatte es mit dem Haar auf sich? Der Zar spaltete es der Länge nach von einem Ende bis zum andern und fand darin geschrieben viele wichtige Dinge, was alles und wann es geschehen war von Erschaffung der Welt an. So wurde der Mann reich und konnte mit Frau und Kindern sein Leben fristen. Das Kind aber, das im Traum zu ihm gekommen war, war ein Engel von Gott dem Herrn gesandt, der da wollte, daß dem armen Manne geholfen werde und daß Geheimnisse, die bis dahin verborgen waren, offenbar würden.


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