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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Das lügst du

Es war einmal ein König, der hatte eine kluge, aber schelmische Tochter. Als sie ins heiratsfähige Alter gekommen war, sagte sie zu ihrem Vater, dem König: »Ich will keinen andern heiraten als den, zu dem ich sagen muß, wenn er sich mit mir unterhält, daß er lügt. Wer mir so zu erzählen versteht, daß ich ihm sagen muß: du lügst, den will ich nehmen.«Der König, ihr Vater, war seiner Tochter nicht entgegen und ließ in der weiten Welt ausrufen, die Leute möchten zum Versuch mit der Unterhaltung kommen und zusehen, was sie mit der klugen Königstochter machen könnten. Da kamen Kaisersohne und Königssöhne, Grafen und Barone und unterhielten sich mit ihr, und wenn einer recht tief in der Lüge steckte, so daß man ihm hätte sagen müssen: du lügst, sagte die Königstochter nur zu ihm: »Das ist ja kein Wunder, das kann alles sein«, oder sie sagte: »Das ist gut«, oder: »Das ist schlimm.«Keiner konnte ihr so erzählen, daß sie genötigt war zu sagen: du lügst. So waren einige Jahre vergangen, und viele vornehme Herren hatten sich herzugedrängt und sich mit der Königstochter unterhalten, aber keinem hatte das genützt, obwohl sie auf jede Weise schwindelten und logen, aufschnitten und Flausen machten und sich jegliche Mühe gaben, daß die Königstochter zu einem sagen müsse: du lügst. Aber alles



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vergeblich; sie unterhielt sich mit jedem, wunderte sich über nichts, hörte alles an und nahm es kaltblütig hin.

Einmal verabredeten sich zwei reiche Edelleute, daß auch sie ihr Glück versuchen möchten, ob es nicht einem von ihnen gelänge und er des Königs Schwiegersohn würde. Nahe bei der Hauptstadt des Königreiches war ein See, durch den man bisweilen mit dem Wagen durchfahren konnte, wenn man den Weg gut kannte. Der Weg um den See war weit. Die beiden reichen Edelleute fuhren auf einem herrschaftlichen Wagen mit herrschaftlichen Pferden an den See. Gegenüber gleich am Ufer lag das Königsschloß. »Fahren wir durch«, meinten die Reisenden, »unsre Pferde sind gut, sie werden schon durchkommen.« Als sie darüber sprachen, sahen sie einen jungen Hirten zu dem See kommen und riefen ihn an: »He, wackrer Bursche, kann man mit der Kutsche durch den See kommen?« —»Das kann man schon, Herr«, antwortete der Hirt, »aber der Weg um den See ist näher.« —»Wieso?«fragten die Reisenden. — »Versucht's, dann werdet Ihr sehen, daß man beim Herumfahren eher an das Schloß kommt.« — »Ist es denn wirklich wahr?«fragten sie weiter, »was wir über die Königstochter gehört haben, daß sie den jungen Mann heiraten wird, der ihr eine Geschichte so zu erzählen versteht, daß sie zu ihm sagen müßte: du lügst.« »Das stimmt, ihr Herren, und das Mädchen ist klug und schön, man findet wohl schwer ihresgleichen.« —»Und du meinst wirklich«, sprachen die Reisenden weiter zu dem Hirten, »daß wir wohl mit unsern guten Pferden den See durchwaten können?« — »Das könnt Ihr, aber wenn Ihr schneller dahin kommen wollt, nehmt den Weg herum.« Die Reisenden hörten nicht auf den Burschen, sondern schlugen den geraden Weg quer durch den See ein; aber so wie sie die Pferde ins Wasser trieben, versank der Wagen im Schlamm. Da hatten sie die Bescherung. Der Bursche half ihnen den Wagen zurückziehen, und nun ging's um den See herum.

Im Gespräch mit dem Hirten hatten sie gemerkt, daß er ein kluger, aufgeweckter Bursche war und voller Teufeleien steckte, und einer sagte zum andern: »Höre, Freund, wir wollen den Burschen mitnehmen, er kann uns beistehen bei der Königstochter. Der Bursche steckt voll Witz und Teufelei.«Also taten sie und fragten den Hirten, ob er wohl Lust habe, sich in ein Gespräch mit der Königstochter einzulassen, sie würden ihn schön kleiden, herrschaftlich. »Willst du? Wir werden dir gut zahlen.« — »Ich will schon, aber wenn ich allen früheren Freiem im



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Lügen über werde, hilft Euch das nichts.« —Die Reisenden gingen nun zum Schloß; den Burschen hatten sie herrschaftlich angezogen und schön herausgeputzt. Er war ohnehin ein hübscher Bursche, auch im Bauernkittel, aber jetzt im Dolman sah er aus wie ein Königssohn. So ging's zu dem Königshof, und er fand den König in Person vor dem Hofe. Der Bursche kannte den Herrn König nicht und bat ihn: »Herr! Ich bin ein fremder Reisender und bin zum Gespräch mit dem Fräulein Königstochter gekommen, wo kann ich sie finden!« Der König antwortete: »Geht ans Gartentor, mein Freund, meine Tochter geht gerade im Garten spazieren; da könnt Ihr gleich mit ihr sprechen.« Der Bursche verneigte sich vor dem König und dankte ihm, dann ging er in den Garten. Dort stand die Königstochter bei den Kohlbeeten mit einem Buch in der Hand. Er verbeugte sich und begrüßte sie. Sie grüßte wieder. »Ihr habt da schönen Kohl, Fräulein.« —»Und die Stauden sind heuer groß«, erwiderte sie. — »Mein Vater hatte voriges Jahr Kohl, wie ihn noch nie einer gehabt hat; jede Staude so groß, daß zwölf Schmiede ihre Werkstätten darunter aufstellen konnten und schmieden, ohne daß einer den andern hörte.« — »Das war einmal gut.« — »Oder auch nicht gut, denn als das Kraut zum Wintervorrat zugerichtet und gehobelt werden sollte, konnte mein Vater kein Faß finden, es einzumachen.« — »Das war schlimm.« — »Schlimm gerade nicht; mein Vater kam auf den Gedanken, was zu tun sei; er ließ eine Staude zurück, die übrigen verkaufte er. Für das Geld kaufte er einen ganzen Eichwald und nahm tausend Böttcher, jeden mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen. Die hieben den Wald um und machten Faßdauben und stellten ein Faß her, drei Tagereisen im Umfang, eine halbe Tagereise hoch. Darauf boten mein Vater und ich die Nachbarn zur Hilfe auf, wir hobelten das Kraut und füllten das Faß voll.« —»Das war ja sehr gut, da hattet ihr ja wenigstens Kraut genug.« — »Es war doch nicht recht gut, wir mußten uns quälen, bis wir das Kraut mit Steinen gepreßt hatten; einen Monat lang fuhren wir Steine auf hundert Wagen, hundert Pferde fielen um, und hundert Leute wurden beim Steinegraben und -fahren lahm oder verletzten sich.« —»Das war ja schlimm.« —»Doch nicht ganz so schlimm, beim Steinegraben fanden die Leute eine Salzquelle und kamen so zu Salz.« — »Das war ja gut.« — »Das Salz war schon gut, aber schlimm stand's mit dem Faß, das Kraut darin verdarb und faulte.« — »Das war schlimm.« —»Es war nicht einmal schlimm, mein Vater und ich machten uns an das Faß, er an dem einen, ich am andern Ende; wir wälzten es



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auf den Acker, schütteten das verfaulte Kraut aus und düngten ihn so.« —»Das war doch gut.« — »Es war nicht recht gut, denn als wir das verfaulte Kraut auf den Acker schütteten und es sich über den Acker von einem Ende bis zum andern ausbreitete, merkte mein Vater, daß wir uns geirrt und einen fremden Acker gedüngt hatten. Da hoben wir den Acker wie eine Decke hoch, mein Vater an einem, ich am andern Ende, trugen so das verfaulte Kraut von dem fremden Acker auf unsern hinüber und luden es dort ab.« — »Das war ja gut.« — »Doch nicht gerade gut, denn von dem verfaulten Kraut wurde die Luft so verpestet, daß hundert Dörfer auswandern mußten.« — »Das war schlimm.« — »Nicht gerade schlimm, denn das Kraut witterte aus und das Land war damit so gut gedüngt, daß mein Vater, als er den Acker umgepflügt und mit Weizen besät hatte, so viel Korn baute, daß hunderttausend Leute es nicht bewältigen konnten.« — »Das war aber gut.« —»Doch nicht recht, denn mein Vater wurde so reich, daß er nicht wußte, wohin er mit all dem Reichtum sollte, und der Mann ganz närrisch wurde vor Überfluß an Geld und Gut. Ich will Euch nur eins erzählen. Mein Vater suchte in der ganzen weiten Welt nach dem allergrößten Pferd, und endlich fand er eine Stute, die war eine Tagesreise lang und hatte eine Blesse, einen halben Tag lang.« — »Das war mal gut.« — »Doch nicht so recht gut, denn für eine so große Stute, wie der Bleß meines Vaters, mußte man auch einen großen Wagen haben. Mein Vater mühte und quälte sich, bis er einen Wagner und einen Schmied fand, die ihm einen Lastwagen machten gut zwei Tagereisen lang und eine breit, aber dabei hatte er sich bis auf den letzten Heller verausgabt.« — »Das war schlimm.« —»Doch nicht so schlimm, wenigstens quälte sich mein Vater nicht mehr mit dem Reichtum, sondern lebte mehr in Ruhe. Was er auf hundert Wagen mit zweihundert Pferden nicht hatte verrichten können, das verrichtete er jetzt mit seiner Stute auf seinem Lastwagen mit der halben Mühe.« — »Das war aber gut.« — »Doch nicht gerade gut, denn mein Vater tat sich viel auf sein Pferd zugute und glaubte schon, es gäbe nichts, was er nicht fahren könnte, und keinen Weg, der ihm zuviel wäre. Mein Vater und ich gingen einmal in den Wald Holz holen. Die Äxte gingen klipp, klapp! Wir fällten zehn Eichen, sägten und spalteten sie und luden sie auf den Wagen. Damit hatten wir kaum den Boden bedeckt. Also wieder daran mit dem Fällen, noch zehn Buchen und noch zehn; man sieht aber kaum, daß Holz auf dem Wagen ist. So fällten wir noch Eschen, Weißbuchen, Ulmen und Eichen und hatten



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schon den halben Wald geschlagen, bis wir den Wagen voll mit Holz beladen hatten; dann ging es hierher in die Stadt. Wir konnten die ganze Stadt für den Winter mit Holz versehen.« — »Das war ja gut.« — »Doch nicht gerade gut, denn meinem Vater ließ sein Übermut keine Ruhe, er wollte nicht um den See herumfahren, sondern geradedurch und so eher zur Stadt gelangen. Als er die Stute in den See trieb, blieb der Wagen im Sumpf boden und im Schlamm stecken, die Stute stand still und konnte nicht weiter. Wir hieben mit unsern Peitschen auf die Stute ein, mein Vater von der einen, ich von der andern Seite. Die Stute zog aus allen Kräften an, und es platzte ihr an meiner Seite die Flanke, und das Eingeweide trat heraus. Es krachte wie ein Donnerschlag. Aus dem Bauch der Stute fiel ein Papier heraus; ich greife schnell danach, öffne es und lese, was darin stand: Euer Vater, Königstochter, der jetzige König, habe bei meinem Vater sieben Jahre als Hirt im Dienst gestanden.« —»Du lügst«, fiel ihm das Mädchen schnell in die Rede, »das lügst du, das ist nicht wahr.« —»Nun, wenn es so steht, gebt mir Eure Hand, Ihr seid meine Braut.«Das Mädchen reichte ihm die Hand, und sie gingen zum Vater König. Da gab es Verlobung, Ringwechsel und Festtrunk, dann war die Hochzeit, der Hirt wurde des Königs Schwiegersohn, und als der König gestorben war, wurde er selber König.


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