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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


ZUR ENTSTEHUNG UND GESCHICHTE VON TAUSENDUNDEINER NACHT

Wer die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten aufmerksam liest, der wundert sich bald über die mannigfaltige Verschiedenheit ihres Inhalts; sie gleichen einer Wiese im Morgenland, die mit Blumen von vielerlei Art und Farbe übersät ist und freilich auch einiges Unkraut trägt. Und ferner wird es dem nachdenklichen Leser bald auffallen, daß diese Erzählungen einen weiten Zeitraum umspannen; da sind einerseits Geschichten von König Salomo, von den alten Perserkönigen und den ersten Kaufen, andererseits solche, in denen Schießwaffen, Kaffee und Tabak vorkommen. Die Fragen, die sich aus diesen Beobachtungen ergeben, sollen hiernach dem augenblicklichen Stande der Wissenschaft beantwortet werden.

Zunächst muß kurz dargestellt werden, wann und wie das Buch von Tausendundeiner Nacht nach Europa gekommen ist; es ist ja eins der am meisten gelesenen Bücher, ist in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und löst auch noch heute bei den Erwachsenen nicht nur die Freude am Studium fremder Kulturen und Literaturen aus, sondern auch die schönsten Erinnerungen an die Märchenwelt der Jugend. Schon früh kam die sogenannte Rahmenerzählung, die das ganze Werk umschließt, nach Italien. In einer Novelle des Giovanni Sercambi (1347 —1424) und in der Geschichte von Astolfo und Giocondo, die im 28. Gesang von Ariosts Orlando Furioso (also Anfang des 16. Jahrhunderts) erzählt wird, sind deutliche Spuren von ihr zu erkennen; sie wird schon längere Zeit vorher durch Reisende, die sie im Orient gehört hatten, in Italien bekannt geworden sein. Aber das eigentliche Werk kam erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach dem Abendland und trat



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von Frankreich aus seinen Siegeslauf durch die europäischen Literaturen an. Der französische Gelehrte und Reisende Jean Antoine Galland (1646 —1715) veröffentlichte es zum ersten Male. Er hatte auf Reisen im vorderen Orient zunächst als Sekretär des französischen Gesandten, dann als Sammler von Museumsstücken im Auftrage von Liebhabern die Welt des Morgenlandes kennen gelernt, und dabei wurde seine Aufmerksamkeit auch auf die erstaunliche Menge von Geschichten und Fabeln der Morgenländer gelenkt. Als er dann nach Frankreich zurückgekehrt war, veröffentlichte er sein Werk »Les milles et une Nuits traduits en François«vom Jahre 1704 ab. Für dies standen ihm eine arabische Handschrift, die er aus Syrien erhalten hatte, sowie mündliche Erzählungen eines Maroniten Hanna, der bei ihm in Paris war, zur Verfügung. Er bemühte sich, seine Übertragung dem Geschmack seiner europäischen Leser anzupassen, indem er manches ausließ, anderes hinzufügte, den Wortlaut änderte und Dinge, die dem Abendländer fremd waren, im Texte selbst umschrieb. Dies tat er mit großer Kunst, und der ungewöhnliche Erfolg, den Tausendundeine Nacht in Europa hatte, ist somit auch ihm zu verdanken; eine wörtliche Übersetzung hätte damals nicht den gleichen Eindruck gemacht. Sein Werk erschien in zwölf Bändchen. In den ersten sechs Bändchen hat er die Einteilung der Nächte beibehalten, in den folgenden aber nicht mehr. Nur in den ersten beiden Bändchen findet sich die Über leitungs formel, in der Dinarzade zu Scheherazade spricht: »Liebe Schwester, wenn du nicht schläfst, so bitte ich dich, mir eine von diesen schönen Geschichten zu erzählen, die du kennst. « Das hatte nämlich einen besonderen Grund. Es wird erzählt, daß nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände in einer sehr kalten Winternacht einige junge Leute - es werden wohl lustige Studenten



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gewesen sein - an die Haustür des Verfassers klopften. Als er im Hemd ans Fenster trat, sagten sie: »Ah, Monsieur Galland, wenn Sie nicht schlafen, so erzählen Sie uns doch eine von diesen schönen Geschichten, die Sie so gut kennen. «Galland sagt selber, er habe die Übergangsformel ausgelassen, »comme cette répétition a choqué plusieurs personnes d'esprit».

Zunächst gingen natürlich alle Übersetzungen in fremde Sprachen auf Gallands Werk zurück; von ihm wurde sogar auch in orientalische Sprachen übersetzt. Erst als im 19. Jahrhundert die arabischen Urtexte gedruckt wurden, übersetzte man mehrfach nach ihnen. Aber schon vor Erscheinen dieser Texte begann die wissenschaftliche Forschung nach dem Ursprung von Tausendundeiner Nacht. Lange Zeit hatte das Werk nur zur Unterhaltung gedient. Erst seit Herders bahnbrechenden Forschungen erkannte man im Abendlande immer mehr, welche Schätze an Gütern des Verstandes, der Einbildungskraft und des Gemütes in der Volkskunde geborgen sind, und diese Erkenntnis hatte dann auch ihren guten Einfluß auf die Beschäftigung mit den orientalischen Erzählungen. Die hauptsächlichsten Ausgaben der arabischen Texte seien hier zuerst genannt.

1. Die erste CALCUTTAER Ausgabe: The Arabian Nights Entertainments; In the Original Arabic. Published under the Patronage of the College of Fort William; By Shuekh Uhmud bin Moohummud Shirwanee uI Yumunee. Calcutta, Band I 1814; Band II 1818. Sie enthält nur die ersten zweihundert Nächte, dazu die Geschichte von Sindbad dem Seefahrer.

2. Die erste BULAKER Ausgabe, eine vollständige arabische Ausgabe, gedruckt 1835 in der Staatsdruckerei zu Bulak bei Kairo, die von Mohammed Ah, dem Schöpfer des modernen Ägypten, eingerichtet war.



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3. Die zweite CALCUTTAER Ausgabe: The Alif Laila or Book of the Thousand Nights and one Night, Commonly known as 'The Arabian Nights Entertainments', nüw, for the first time, published complete in the original Arabic, from an Egyptian manuscript brought to India by the late Major Turner, editor of the Shah-Nameh. Edited by W. H. Macnaghten, Esq. In four volumes. Calcutta 1839-1842.

4. Die BRESLAUER Ausgabe: Tausend und Eine Nacht Arabisch. Nach einer Handschrift aus Tunis herausgegeben von Dr. Maximilian Habicht, Professor an der Königlichen Universität zu Breslau usw., nach seinem Tode fortgesetzt von M. Heinrich Leberecht Fleischer, ordentlichem Prof. der morgenländischen Sprachen ander Universität Leipzig. Breslau 1825 —1843.

5. Spätere BULAKER und KAIROER Ausgaben. In der zweiten Hälfte des 1.Jahrhunderts und zu Anfang des 2.Jahrhunderts wurde der vollständige Text der ersten Bulaker bzw. der zweiten Calcuttaer Ausgabe öfters wieder neu herausgegeben. In Beirut erschien eine Ausgabe in der Jesuiten-Druckerei; sie ist aber stark gekürzt worden.

Zu diesen Drucken kommen noch verschiedene Handschriften, die in Bibliotheken des Abendlandes und des Morgenlandes aufbewahrt werden, unter denen die von Galland benützte die wichtigste ist. Alle diese Ausgaben und Handschriften weichen zum Teil sehr stark voneinander ab. Denn es ist selbstverständlich, daß bei Werken, die nicht der höheren Literatur angehören und die weder durch einen Kanon noch durch einen berühmten Verfassernamen geschützt sind, große Schwankungen vorkommen. Die Erzähler und Schreiber halten sich für berechtigt, Änderungen, Auslassungen und Zusätze vorzunehmen, wie es ja auch die Sänger der sogenannten Volkslieder getan haben und noch tun. So enthält z. B. die Breslauer



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Ausgabe vieles, was gar nicht zu Tausendundeiner Nacht gehört, und die »Handschrift aus Tunis«ist willkürlich von dem Herausgeber nach anderen Quellen ergänzt worden. Und in den orientalischen Drucken fehlen mehrere Erzählungen, die durch Galland bekannt und uns in der Jugend lieb geworden sind, wie »'Alâ ed-Dîn und die Wunderlampe«und »Ah Baba und die vierzig Räuber«. Wir stehen somit vor einer verwirrenden Fülle von Einzelheiten. Der amerikanische Orientalist D. B. Macdonald bereitete eine Ausgabe der Gallandschen Handschrift vor; er hat auch bereits Proben aus ihr veröffentlicht und hat den arabischen Text von Ali Baba in Oxford wiedergefunden und herausgegeben. Vor allem hat er sich um die Aufklärung des Verhältnisses der verschiedenen Textgestalten zueinander und um die Geschichte des ganzen Werkes große Verdienste erworben. Ebenso haben sich der Franzose Zotenberg, die deutschen Gelehrten Nöldeke und Horovitz sowie der Däne Oestrup durch ihre Untersuchungen zu Tausendundeiner Nacht sehr verdient gemacht.'

Aus der bisherigen Aufzählung ergibt sich, daß eine unvollständige ägyptische Handschrift von Tausendundeiner Nacht, die Gallandsche, vorhanden ist, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, und daß vollständige Ausgaben, in denen manches fehlt, was sonst zu diesem Werke gerechnet wird, im 19. Jahrhundert erschienen sind; diese Ausgaben scheinen eine Textgestalt wiederzugeben, wie sie in Handschriften des 18. Jahrhunderts sich zeigte. Dazu kommt nun eine von H. Ritter in Stambul entdeckte Handschrift aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. die zwar nicht als »Tausendundeine Nacht«bezeichnet wird, aber doch manche Geschichten aus ihr enthält; diese, die



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mir in einer Photographie vorlag, und ein Fragment aus dem 9. Jahrhundert sind die ältesten Handschriften. Wir haben vorläufig dies Fragment und wissen, welchen Text einzelne Geschichten hatten, die im 13. Jahrhundert bekannt waren, aber nicht zu Tausendundeiner Nacht gerechnet wurden, ferner, wie das Werk selbst etwa im 15., 18. und 19. Jahrhundert ausgesehen hat. Daß aber dies Werk nicht etwa erst in der Zeit vom 15. bis 18. Jahrhundert entstanden ist, dafür haben wir Zeugnisse aus der arabischen Literatur, die schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts von europäischen Gelehrten entdeckt wurden; auf sie wird in allen neueren Untersuchungen hingewiesen, und sie müssen auch hier mitgeteilt werden. Ich gebe sie in wörtlicher Übersetzung nach den Originalen.

Der arabische Schriftsteller el-Mas'ûdi sagt in seinem 947 vollendeten und 957 neubearbeiteten Buch, das den Titel trägt »Die Goldfelder und Edelsteinminen«': »Es ist mit ihnen (das heißt: mit gewissen erdichteten Erzählungen) wie mit den Büchern, die aus dem Persischen, Indischen und Griechischen zu uns gekommen und für uns übersetzt sind, und die so entstanden sind, wie wir schon gesagt haben, zum Beispiel dem Buche Herâr Efsâneh, oder, aus dem Persischen ins Arabische übersetzt ,Tausend Abenteuer', denn ,Abenteuer' heißt auf persisch Efsâneh. Das Volk nennt dies Buch ,Tausend Nächte' (nach einer anderen, wohl späteren Lesart ,Tausendundeine Nacht'). Dies ist die Geschichte von dem König, dem Wesir sowie dessen Tochter und ihrer Dienerin, die Schirazâd und Dinazâd heißen (in anderen Handschriften heißt es ,und ihrer Amine', in noch anderen ,sowie dessen beiden Töchtern').« Neben den Tausend Nächten erwähnt el-Mas'ûdi hier auch



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noch das Buch von Farza und Simâs und das Buch von es-Sindibâd. Dies sind Geschichten, die jetzt Teile von Tausendundeiner Nacht bilden, und zwar die Geschichte des Königs Dschali'âd und seines Sohnes Wird Chân (oben Band VI, S. Wf.) und die Geschichten von der Tücke der Weiber oder von dem König, seinem Sohne, seiner Odaliske und den sieben Wesiren (Band IV, S. 259ff.).

Ferner heißt es in dem Buche el-Fihrist (Der Katalog) von Mohammed ibn Ishâk ibn Abi Ja'kûb en-Nadîm, das im Jahre 987 verfaßt wurde': »Die ersten, die Abenteuer verfaßten, Bücher aus ihnen machten und sie in den Schatzhäusern niederlegten, auch in einigen davon die Tiere reden ließen, waren die alten Perser. Dann beschäftigten sich eifrig mit ihnen die arsakidischen Könige; sie sind die dritte Dynastie der Perserkönige. Darauf vermehrte und erweiterte sich jene [Art von Büchern] in den Tagen der sasanidischen Könige, und die Araber übertrugen sie in die arabische Sprache. Und die Männer von Beredsamkeit und Sprachkenntnis übernahmen sie, feilten an ihnen und schmückten sie aus und verfaßten, was ihnen dem Sinne nach ähnlich war. Das erste Buch, das in diesem Sinne ausgearbeitet wurde, war das Buch Hezâr Efsân, das heißt ,Die tausend Abenteuer'. Die Veranlassung dazu war die folgende: Einer von ihren Königen pflegte, wenn er sich mit einer Frau vermählt und mit ihr eine Nacht verbracht hatte, sie am nächsten Morgen zu töten. Nun vermählte er sich einmal mit einer Königstochter, die Verstand und Wissen besaß und Schehrazâd genannt war. Als die bei ihm war, begann sie ihm Abenteuer zu erzählen; dabei ließ sie die Geschichte am Ende der Nacht so weit gelangen, daß der König veranlaßt



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wurde, sie zu schonen und sie in der nächsten Nacht um Vollendung der Geschichte zu bitten, bis tausend Nächte darüber vergangen waren. Während dieser Zeit wohnte er ihr bei, und ihr ward durch ihn ein Kind geschenkt; das zeigte sie ihm, und dann teilte sie ihm die List mit, die sie wider ihn gebraucht hatte. Da bewunderte er ihre Klugheit, neigte sich ihr zu und ließ sie am Leben. Der König hatte auch eine Hausmeisterin, des Namens Dinarzâd, und die war ihre Helferin dabei. Es wird gesagt, dies Buch sei für Humâi (andere Lesart: Humâni), die Tochter des Bahman verfaßt worden; und man bringt darüber auch andere Angaben vor.

Mohammed ibn Ishâk [das ist der Verfasser]sagt: ,Das Richtige ist -so Gott will -, daß der erste, dem bei Nacht Geschichten erzählt wurden, Alexander der Große war, und daß er Leute hatte, die ihn zum Lachen brachten und ihm Abenteuer erzählten, wobei er nicht das Vergnügen suchte, sondern nur wachsam und auf der Hut sein wollte. Nach ihm benutzten die Könige dazu das Buch Hezâr Efsân; es umfaßt tausend Nächte und weniger als zweihundert Erzählungen, da an einer Geschichte in mehreren Nächten erzählt wird. Ich habe es mehrere Male vollständig gesehen; es ist aber in Wirklichkeit ein wertloses Buch törichter Geschichten.'

Mohammed ibn Ishâk sagt: ,Abu 'Abdallâh ibn 'Abdûs el-Dschahschijâri, der Verfasser des ,Buchs der Wesire', begann ein Buch zu schreiben, in dem er tausend Geschichten auswählte von den Geschichten der Araber. der Perser. der Griechen und noch anderer, und zwar so, daß jeder Teil für sich selbst bestand und nicht mit einem anderen verbunden war. Er ließ die Geschichtenerzähler kommen und nahm von ihnen das Beste, was sie wußten und gut verstanden, und er wählte aus den Büchern, die über Erzählungen und Abenteuer verfaßt



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waren, das aus, was nach seinem eigenen Geschmack war und was trefflich war. So brachte er daraus vierhundertundachtzig Nächte zusammen, von denen eine jede Nacht eine vollständige Geschichte enthielt, die ungefähr fünfzig Blätter umfaßte. Aber das Todesgeschick ereilte ihn, ehe er sein Vorhaben ausführen konnte, nämlich tausend Geschichten zu vollenden. Ich habe von jenem [Buch] eine Anzahl von Teilen gesehen in der Handschrift des Abu et-Taijib, des Bruders von esc-Schâfi'i' «

Diese Angaben beziehen sich im wesentlichen auf die arabische Literatur von Baghdad im io. Jahrhundert. Wir erfahren aus ihnen, daß man dort zu jener Zeit ein Buch der tausend Nächte kannte, das aus dem Persischen übersetzt war, und daß dies Buch eine Rahmenerzählung enthielt, die einem Teile der uns jetzt bekannten Rahmenerzählung entsprach. Ferner erfahren wir, daß ein Schriftsteller namens el-Dschahschijâri ein Buch der Tausend Nächte verfaßte, für dessen Titel ihm sicher jenes andere Buch ein Vorbild gewesen war; sein »Buch der Wesire«hat sich in Wien wiedergefunden und ist durch Prof. H. y. Mzik veröffentlicht worden, und so kann man vielleicht hoffen, daß auch sein Erzählungswerk noch einmal wieder zum Vorschein kommen möge. Was aber die Tausend Nächte der Hezâr Efsân und die von el-Dschahschijâri enthielten, davon wissen wir nichts außer der Rahmenerzählung. Es ist nicht anzunehmen, daß die Zahl 1000 ursprünglich wörtlich gemeint war, wenn auch el-Dschahschijâri sie bereits im buchstäblichen Sinne zu nehmen beabsichtigt haben mag. Für den einfachen Verstand ist schon 100 eine große Zahl, und vor »100 Jahren« bedeutet daher -auch bei orientalischen Geschichtsschreibern oft soviel wie »vor langer Zeit«. Aber 1000 ist fast soviel wie »unzählbar«. Daß man später »Tausendundeine Nacht«sagte,



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beruht neben der Furcht vor der runden Zahl wohl auf türkischem Sprachgebrauch, was nicht zu verwundern wäre, da seit dem . Jahrhundert die Länder des islamischen vorderen Orients unter türkischen Einfluß gerieten. Im Türkischen sagt man bin bir (mit dem Stabreim b) »tausend und eins« für eine große Anzahl. In Kleinasien gibt es eine Ruinenstätte, die von den Türken »Tausendundeine Kirche«genannt wird, in Konstantinopel eine Stätte »Tausendundeine Säule«, wo sich jetzt Seilerwerkstätten befinden; aber in Wirklichkeit sind weder soviele Kirchen noch soviele Säulen an jenen Stätten. Von der Erzählerin Schehrezâd wird gesagt, sie habe »tausend Bücher« gesammelt; ein arabisches »Buch der 1001 Sklaven«und ein »Buch der 1001 Sklavinnen«ist aus dem 13. Jahrhundert bekannt. Später, als man die Zahl 1001 wörtlich nahm, mußten natürlich auch wirklich tausend Nächte und eine Nacht vorhanden sein.

Das nächste Zeugnis ist eine Stelle aus dem Werke eines ägyptischen Geschichtsschreibers des 12. Jahrhunderts. Dieser Mann wird al-Kurtubi genannt, hieß aber wohl, wie Macdonald vermutet hat, al-Kurti und schrieb eine Geschichte Ägyptens zwischen den Jahren 1160 und 1172. Eine Bemerkung von ihm hat der Schriftsteller Ibn Sa'îd übernommen, der 1274 oder 1286 starb, und aus einer seiner Schriften ging sie in die Geschichtswerke von el-Makrîzi (gest. 1442) und el-Makkari (gest. 1632) über. El-Kurti verglich die Geschichten von den Liebesabenteuern des Fatimidenkalifen el-Ämir biahkâm Allâh mit Tausendundeiner Nacht, indem er sagte: »Das Volk erweiterte die Geschichte von der Beduinin [das ist der Geliebten jenes Kalifen]..., bis bei ihm die Überlieferung davon gleich wurde den Geschichten von el-Battâl und von Tausendundeiner Nacht und dergleichen mehr. «Die Geschichten



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von el-Battâl beziehen sich auf den großen Ritterroman von el-Battâl, der früher nur in türkischer Überlieferung bekannt war, von dem aber der arabische Text in einer Berliner Handschrift und einem Kairoer Druck vorliegt. Wir erfahren also weiter, daß die Sammlung der Geschichten von Tausendundeiner Nacht um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Ägypten wohlbekannt war. Was sie damals im einzelnen enthielt, wissen wir nicht; wir können aber mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die meisten Geschichten östlichen Ursprungs, das heißt indische, persische und baghdadische, bereits in ihr enthalten waren. Mit dem Zeugnisse von el-Kurti kommen wir schon näher an die handschriftliche Überlieferung heran. Von jetzt ab entwickelt sich das Werk auf ägyptischem Boden weiter, bis es die Gestalt annimmt, in der wir es kennen. —

Wie sah es aber in seiner Urgestalt aus? Es enthielt von Anfang an eine Rahmengeschichte, die der gegenwärtigen ziemlich ähnlich gewesen sein muß. Jetzt wird in ihr folgendes erzählt. König Schahzamân von Samarkand wollte seinen Bruder König Schehrijâr von Indien besuchen. Er fand, als er bei der Abreise noch einmal in seinen Palast zurückkehrte, seine Gemahlin in den Armen eines Negers. Sofort erschlug er beide und ritt dann traurig zu seinem Bruder. Dort entdeckte er, daß die Gemahlin Schehrijârs es ebenso trieb, wie seine eigene Gemahlin es getrieben hatte. Nun ward er wieder froh. Sein Bruder wunderte sich über sein verändertes Aussehen und erfuhr auf sein dringendes Bitten hin die ganze Wahrheit von Schahzamân. Darauf legten beide ihre königliche Würde ab und zogen als Pilger durch die Welt auf der Suche nach jemandem, dessen Leid noch größer wäre als das ihrige. Sie fanden einen solchen in einem Dämon, der von seiner Frau in unerhörter Weise betrogen wurde. So kehrten sie denn in die



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Hauptstadt zurück. Dort schlug Schehrijâr seiner Gemahlin sowie den Sklaven und Sklavinnen, die an ihrem Treiben teilgenommen hatten, den Kopf ab, und von da ab ließ er sich jeden Tag eine Jungfrau bringen, mit der er sich vermählte und die er am nächsten Tage enthauptete. Nachdem er das drei Jahre getan hatte, murrte das Volk, und alle Jungfrauen flohen aus der Stadt. Wieder befahl er seinem Wesir, ein Mädchen zu bringen; doch dieser konnte keines finden und ging betrübt nach Hause. Seine kluge Tochter Schehrezâd sprach ihm Mut zu und veranlaßte ihn, sie zum König zu führen. Als sie beim König war, bat sie ihn, ihre jüngere Schwester Dinazâd kommen zu lassen. Diese bat, als sie beim König war, Schehrezâd möchte eine Geschichte erzählen. Dann folgen im bunten Wechsel alle die Erzählungen, durch die Schehrijâr veranlaßt wird, die Hinrichtung immer von einem Tag auf den andern zu verschieben, da er stets die Geschichte zu Ende hören will. Nachdem Schehrezâd inder 1001. Nacht ihre letzte Geschichte beendet hat, führt sie dem König die drei Söhne vor, die sie ihm inzwischen geboren hatte. Der König bewundert ihre Klugheit, läßt ihr das Leben und gibt sein früheres Tun auf. Dann werden große Feste gefeiert, und alles endet in Herrlichkeit und Freuden, »bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt und die Freundesbande zerreißt«.

über die Herkunft dieser Rahmenerzählung ist viel geschrieben worden. In Wirklichkeit zerfällt sie, wie der französische Volkskundler Cosquin' nachgewiesen hat, in drei Teile, die alle aus Indien stammen. Diese drei Teile sind ursprünglich selbständige Erzählungen gewesen, die von Indien nach Osten und Westen und Norden gewandert sind.



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1. Die Geschichte von einem Manne, der von seiner Frau betrogen wird, dann aber von seinem Schmerz darüber geheilt wird, als er sieht, daß es einer hohen Persönlichkeit ebenso ergeht wie ihm; sie kommt auch noch heute als selbständige Geschichte im Arabischen vor.

2. Die Geschichte von einem Dämon oder einem Riesen, den seine Frau oder seine Gefangene in kühner Weise mit anderen Männern hintergeht. Es ist dieselbe wie »die Geschichte von dem Prinzen und der Geliebten des Dämonen«, die noch einmal in Tausendundeiner Nacht erzählt wird, und zwar als Teil der Geschichte von der Tücke der Weiber (oder: dem weisen Sindbad), oben Band IV, S. 353 — 357. Zu den vielen Parallelen, die Cosquin angeführt hat, kommt jetzt noch ein neuaramäisches Märchen, in dem freilich aus dem Dämon ein Fellache geworden ist.'

3. Die Geschichte von der klugen Jungfrau, die durch ihre geschickte und unerschöpfliche Erzählerkunst ein Unglück abwendet, das ihr oder ihrem Vater oder den beiden droht.

Von diesen drei Teilen hat, nach dem alten Fragment, nach el-Mas'ûdi und dem Fihrist, nur der dritte zur ursprünglichen Rahmenerzählung gehört; und zwar hat dieser wohl nur den grausamen König, die kluge Wesirstochter und die treue alte Dienerin gekannt. Da keine persischen Handschriften der Tausend Erzählungen und nur ein altes arabisches Fragment von Tausendundeiner Nacht erhalten sind, ist man auf Vermutungen angewiesen. Es ist wahrscheinlich, daß die Geschichte von der klugen Wesirstochter schon früh von Indien nach Persien kam, wo sie »nationalisiert«wurde, wie die echt persischen Namen beweisen; Schehrijâr ist altpersisch Chschathradâra, das ist Reichs-



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halter, Träger der Herrschaft, Schehrezâd ist persisch Tschihrazdd, das ist edel von Art, und Dinazâd bedeutet im Persischen edel von Religion. Darüber, ob Dinazâd die Schwester oder die Dienerin war, schwanken die Angaben; es ist aber wahrscheinlicher, daß die junge Königin ihre alte Dienerin mit in den Palast bringt oder daß sie eine Hausmeisterin des Königs bei sich hat, als daß sie ihre Schwester dorthin führt. Als dann nach der Einfügung der ersten beiden Teile in die Rahmenerzählung das Brüderpaar Schehrijâr und Schahzamân vorhanden war, stellte man ihm um der literarischen Symmetrie wegen ein Schwesternpaar entgegen. Der Name Schahzamân ist eine künstliche Bildung und kommt nicht als persischer Personenname vor; er soll nach Absicht des Erfinders »König der Zeit«, das ist »der größte König seiner Zeit«bedeuten. Ursprünglich mag Schehrijâr nur ein grausamer Ritter Blaubart gewesen sein; als man nach einem Grunde für seine Grausamkeit suchte, fügte man die beiden ersten Teile hinzu. Das mag erst geschehen sein, als das arabische Buch bereits vorhanden war; wenn bei el-Mas'ûdi Dinazâd nach einer anderen Lesart schon als Schwester bezeichnet wird, so kann diese Angabe von einem späteren Abschreiber stammen. Auch darauf ist noch hinzuweisen, daß im Fihrist Schehrezâd nur einen Sohn zum König bringt, während sie in unseren Texten am Schlusse mit drei Söhnen zu ihm kommt. Wenn in der ursprünglichen Gestalt des Textes 1000 oder 1001 nur eine große Anzahl von Nächten bezeichnete, so konnte man nicht gut mehr als einen Sohn geboren werden lassen. Doch als man die Zahl 1001 wörtlich nahm, verteilte man auf jedes der drei Jahre einen Sohn; und so wurden es »drei Knaben, einer von ihnen ging, der andere kroch, und der dritte lag an der Brust« (Band VI, Seite 644 unten).



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Welche anderen Geschichten aber haben in der ursprünglichen Tausendundeinen Nacht gestanden innerhalb der Rahmenerzählung? Unter den jetzt vorhandenen kann für eine ganze Anzahl indischer oder persischer Ursprung nachgewiesen werden. Von manchen ist es sicher, daß sie erst später eingefügt wurden, bei anderen kann man im Zweifel sein. Wir begegnen im ganzen Laufe der Entwicklung immer wieder der Tatsache, daß Geschichten aus Tausendundeiner Nacht anderswo als selbständige Geschichten oder in anderen Sammlungen vorkommen. In moderner Zeit sind mir in Drucken aus Ägypten und Syrien unter anderem die folgenden bekannt:

1 Die Geschichte von der Sklavin Tawaddud.

2. Die Geschichte von 'Adschîb und Gharîb.

3. Die Geschichte von der listigen Dafîla und ihrer Tochter Zainab der Gaunerin.

4. Die Geschichte von dem Hauptmann 'Alî ez-Zaibak.

5. Die Geschichte des Juweliers Hasan von Basra. Dazu kommt noch

6. Die Geschichte des weisen Haikâr, die in einige Rezensionen von Tausendundeiner Nacht aufgenommen ist, aber in der vorliegenden Insel-Ausgabe fehlt.

Dergleichen Drucke wird es noch viele andere geben. Da sie aus neuester Zeit stammen, ist es kaum wahrscheinlich, daß sie alle auf eine eigene Überlieferung zurückgehen; sie werden zum großen Teil erst aus Tausendundeiner Nacht entnommen sein. Aber das ist noch genauer zu untersuchen. Anders steht es. wenn uns aus früherer Zeit Handschriften erhalten sind, in denen sich solche selbständigen Geschichten finden. Das ist vor allem bei der oben, Seite 659, genannten Stambuler Handschrift der Fall. Sie hat aus zwei Bänden bestanden, aber nur der erste ist uns vorläufig bekannt geworden. Die ganze Handschrift



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enthielt 42 Geschichten, deren Titel in der Einleitung angegeben werden. Der erste Band geht bis zur 19. Geschichte; da aber im Text die 15. Geschichte fehlt, so sind es im ganzen nur 18 Geschichten. Von diesen 18 finden sich 4 in unserer Tausendundeinen Nacht wieder, und zwar:

1. Die Geschichte der sechs Leute. Dies sind die Geschichten der sechs Brüder des Barbiers von Baghdad; sie haben hier aber nichts mit dem Barbier zu tun, sondern sie werden von der Hausmeisterin eines Königs vor diesen gebracht und erzählen ihre Geschichten.

2. Die Geschichte von Dschullanâr der Meermaid. Sie ist der oben, Band V, S. 87 if., übersetzten Geschichte sehr ähnlich und weicht nur in kleinen Einzelheiten von ihr ab.

3. Die Geschichte von Budûr und 'Umair ibn Dschubair. Sie ist ausführlicher erzählt als oben, Band III, S. 258ff.

4. Die Geschichte von Abu Mohammed dem Faulpelz. Sie ist am Anfang ausführlicher, am Schlusse kürzer als oben, Band III, S. 172 ff. if; auch die Gedichte sind zum Teil anders. Der Anfang scheint hier dem Anfang der Geschichte von dem falschen Kalifen (oben, Band III, S. 130ff.) nachgebildet zu sein.

Dazu kommt noch die Geschichte von Sûl und Schumûl, die in der Stambuler Handschrift als Nr. 10 erscheint, in einer Tübinger Handschrift aber als ein Stück von 1001 Nacht ausgegeben wird. Sie hat sicher nie dazu gehört, da sie auf die Bekehrung eines Muslims zum Christentum hinausläuft, was dem Geiste von 1001 Nacht durchaus widerspricht; ein christlicher Schreiber hat den mißglückten Versuch gemacht, sie in das Werk einzuführen. Aus dem bisher noch nicht gefundenen zweiten Bande der Stambuler Handschrift gehört jetzt die Geschichte vom Ebenholzpferde zu 1001 Nacht (oben, Band III, S. 350ff.). Mehr läßt sich aus den Überschriften nicht erkennen;



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vielleicht sind aber auch darin noch einige Geschichten unter anderem Namen vorhanden.

In Handschriften, die in europäischen Bibliotheken aufbewahrt werden, finden sich des öfteren Geschichten aus 1001 Nacht. Um deren Verhältnis zu unserem Werk aufzuklären, müßte man feststellen, ob sie als eigene Geschichten ausgegeben werden, aus welcher Zeit sie überliefert sind und welche Texte sie bieten im Vergleich mit unserer 1001 Nacht. Auf alle diese Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Es genügt die Tatsache, daß wir sehr viel aus dem Inhalte von 1001 Nacht anderswo in der arabischen Erzählungsliteratur nachweisen können. Zu diesen gehören vor allem auch die Liebesgeschichten. zu denen R. Paret in seinem Buche »Früharabische Liebesgeschichten« (Bern 1927), S. 73, Parallelen aus der arabischen Literatur nachgewiesen hat.

Da in den meisten uns bekannten Handschriften und Drucken die ersten Geschichten, bis zum Roman von 'Omar ibn en-Nu'mân, das heißt also die oben in Band J, S. 19-500 übersetzten Geschichten, ungefähr übereinstimmen und an der gleichen Stelle stehen, hat man früher wohl angenommen, daß sie wenigstens zum Urbestande des Werkes gehören. Aber Macdonald hat mit Recht betont, daß wir bei unserer Beurteilung viel zu sehr von der vns vorliegenden späteren ägyptischen Redaktion ausgehen und daß wir in Wirklichkeit über die Geschichte der Sammlung erst etwa seit dem Jahre 1500 etwas Sicheres aussagen können. Dazu kommt, daß die Geschichte von Ghânim ibn Aijûb, die oben Band I, 5. 460 — 500 vor dem 'Omar-Romane steht, in anderen Handschriften in diesen einbezogen wird; daß die Geschichten von den Brüdern des Barbiers (Band I, 5. 363 —402) in der Stambuler Handschrift in ganz anderem Zusammenhange stehen; daß die Geschichte



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des christlichen Maklers (Band I, S. 300 —318) auf ägyptischen Ursprung hinweist und so nicht in einem alten Baghdader Werk gestanden haben kann; daß endlich die erste Geschichte in 1001 Nacht, die Geschichte von dem Kaufmann und dem Dämon (Band T, S. 32 —48), obwohl sie deutliche indische Motive enthält, schon Parallelen in der altarabischen Literatur hat, wie Macdonald nachwies. Es ist also nicht sehr wahrscheinlich, daß alle jene ersten Geschichten zum Urbestande des Werks gehören. Prof. Macdonald nimmt fünf Entwicklungsstadien von 1001 Nacht an:

J. Die ursprünglichen persischen Hezâr Efsân.

II. Eine arabische Übersetzung der Hezâr Efsân.

III. Eine Form, in der die Rahmenerzählung aus den Hezâr Efsân übernommen wurde; die dann folgenden Geschichten waren arabischen Ursprungs und standen nun an Stelle der ursprünglichen persischen Geschichten. Diese arabischen Geschichten waren kurz und unbedeutend, und vermutlich gehört zu ihnen der Kaufmann - und Dämon - Zyklus, wie er von Galland überliefert wurde.

IV. Die Tausendundeine Nacht der späteren Fatimidenzeit (also etwa 1100 —117O). Diese Form mag dieselbe gewesen sein wie III; sie war jedenfalls sehr beliebt in Ägypten.

V. Die Tausendundeine Nacht, für die das Gallandsche Manuskript das älteste handschriftliche Zeugnis war. Dies war sicherlich, was die in ihr enthaltenen Geschichten betrifft. ein von IV stark verschiedenes Buch. Es ist nahe verwandt mit der von Zotenberg gekennzeichneten »ägyptischen Rezension« und ebenso mit all den anderen Handschriften, die uns erhalten sind.

Macdonalds Urteil, daß in Nr. III die Geschichten kurz und unbedeutend gewesen seien, ist wohl durch die Bemerkung im Fihrist (oben S. 662) veranlaßt. Ob dessen Verfasser recht



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gehabt hat, können wir nicht mehr feststellen. Es wäre aber weiter zu fragen, ob es überhaupt nötig ist, Nr. II anzunehmen, mit anderen Worten, ob es wirklich eine arabische Übersetzung der ganzen Hezâr Efsân gegeben hat. Es ist denkbar, daß für eine altarabische Geschichtensammlung »Tausend Nächte« nur die Rahmenerzählung aus den Hezâr Efsân genommen wurde und daß die in ihr gesammelten Erzählungen von Anfang an islamisch-arabischen Charakter hatten und in arabischer Sprache bekannt waren, mochten sie auch vielfach fremden Ursprungs sein. Dann wäre also das einzige, was »Tausendundeine Nacht«mit den »Tausend Erzählungen«der Perser im Anfang äußerlich gemeinsam hatte, die Rahmenerzählung und das Wort »Tausend«. Doch da weder die Hezâr Efsân noch ganze Handschriften der ältesten 1O01 Nacht uns überliefert sind, kann darüber nichts Sicheres ausgesagt werden. Eines aber ist sicher, daß wir deutlich erkennbare 1 Baghdader und 2. ägyptische Bestandteile von 1001 Nacht haben. Die Baghdader umfassen natürlich auch all das indisch-persische Gut, das zur Abbasidenzeit nach Westen gewandert war, und die ägyptischen mögen, da Syrien und Ägypten während der Mamlukenzeit und unter der türkischen Herrschaft eng verbunden waren, einiges aus Syrien enthalten. Ferner können wir mehrfach erkennen, daß Baghdader Geschichten in Ägypten umgearbeitet und daß ägyptische Geschichten späteren Datums in die »herrliche Zeit«des Kaufen Harûn er-Raschîd zurückdatiert worden sind. Wir haben zwar kein Mittel, um festzustellen, zu welcher Zeit die »Baghdader Bestandteile«, das heißt die Märchen persischen Ursprungs, die Erzählungszyklen indischer Herkunft, all die Anekdoten aus dem Baghdader Hofleben, der Seefahrer-Roman von Sindbad usw., in 1001 Nacht aufgenommen wurden. Es ist mir aber doch wahrscheinlich,



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daß sie zum großen Teile schon in der »Baghdader Rezension«standen, ehe diese nach Ägypten kam, und dort erweitert und umgearbeitet wurden. Ob demnach Nr. IV der obigen Liste gleich Nr. III war und auch nur »kurze und unbedeutende Geschichten«enthielt, ist mir sehr fraglich. —

Unsere Tausendundeine Nacht enthält Stoffe aus mancherlei Ländern, Indien, Persien, Mesopotamien, Syrien, Arabien, Ägypten. Das einigende Band für alle ist der Islam und die arabische Sprache. Alle Geschichten sind von dem islamischen Firnis bedeckt. Ebenso verschieden wie die Herkunft der Stoffe ist auch die literarische und die sprachliche Form. Mehrfach treffen wir Geschichten, die mit großer Kunst erzählt sind; doch sie wechseln mit anderen, die nur bescheidenen literarischen Ansprüchen genügen. Viele Geschichten sind in einfacher Prosa erzählt, deren Sprache nicht mehr das klassische Arabisch ist, sondern sich stark der Sprache des täglichen Lebens nähert; in den Drucken -mit Ausnahme der Breslauer Ausgabe herrscht das Streben vor, die Sprache einigermaßen literarisch zu gestalten, in den Handschriften tritt die arabische Umgangssprache stärker hervor. Auf viele Geschichten ist jedoch hohe sprachliche Kunst verwendet, die sich namentlich in der Reimprosa äußert. Die Reimprosa war die Sprache der Wahrsager im heidnischen Arabien gewesen, und sie wurde daher in den ersten Jahrhunderten des Islams nicht angewandt, zumal auch das heilige Buch, der Koran, in ihr abgefaßt war. Aber sie kam später wieder in Aufnahme und feierte im Io. Jahrhundert wahre Triumphe. In den Geschichten, die mit größerer sprachlicher Kunst ausgearbeitet sind, kommt sie vor, wenn es sich um folgende Dinge handelt: 1 Beschreibungen von schönen Mädchen, von Palästen, Gärten, Landschaften, besonders auch von Schlachten oder von plötzlich eintretenden



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Ereignissen; 2. Briefe; 3. Dialoge, die manchmal an Opern oder Operetten erinnern; 4. Gebete; 5. Predigt; 6. Parodien von Reimprosa höheren Stils; 7. Sprichwörter. In dieser Reimprosa zeigt sich echt arabischer Geist. Etwa 1420 poetische Einlagen finden sich nach Horovitz in der zweiten Calcuttaer Ausgabe; wenn davon die 170 Wiederholungen ausscheiden, so bleiben etwa 1250 verschiedene Gedichte übrig, von denen freilich bei weitem nicht alle vollständige, in sich abgeschlossene Gedichte sind, da manchmal nur wenige Verse angeführt werden. Prof. Horovitz hat festgestellt, daß diejenigen Liedereinlagen, von denen er den Verfasser nachweisen konnte, in ihrer Mehrzahl aus dem 12. bis 14. Jahrhundert n. Chr. stammen, also in die ägyptische Periode der Entwicklung von 1001 Nacht gehören. Die Verbindung von Poesie und Prosa ist auch ein echt arabischer Charakterzug. Freilich sind die dichterischen Einlagen in Tausendundeiner Nacht fast alle derart, daß sie fehlen könnten, ohne den Gang der Handlung zu stören; daraus erkennen wir, daß sie meist später hinzugefügt sind.

Mögen nun auch die Zeitpunkte für die Aufnahme der einzelnen Geschichten noch so unsicher sein, für ihre Herkunft haben wir doch mancherlei Anhaltspunkte. Daß die Rahmengeschichte aus Indien stammt, wurde schon oben S. 666 angeführt. Indisch sind aber auch manche Erzählungen von frommen Männern. die an buddhistische und dschinistische erbauliche Geschichten erinnern; ebenso werden manche Tierfabeln aus Indien stammen, wie ja solche Fabeln schon zur Ptolemäerzeit nach Ägypten gekommen sind und indische Stilelemente sich in der koptischen Kunst finden. Ferner sind die Zyklen von dem weisen Sindbad und von Dschali'âd und Schimâs indisch, und indische Motive finden sich fast durch



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das ganze Buch zerstreut; vor allem beruht die Geschichte von dem fliegenden Ebenholzpferd auf einem indischen Motiv. Alles ist aber durch das Persische hindurchgegangen, ehe es zu den Arabern kam.

Aus Persien stammen vor allem die Märchen, in denen die guten Geister und Feen selbständig handelnd in das Leben der Menschen eingreifen; diese Geisterwelt ist durchaus verschieden von der unheimlichen Dämonenwelt der arabischen Wüste und von der ägyptischen Zauberwelt. Die Anekdoten von persischen Königen sind natürlich ursprünglich von Persern erzählt worden, mögen sie auch im Laufe der Zeit umgestaltet oder von einem Herrscher auf den anderen übertragen sein. Für ihre Aufnahme in Tausendundeine Nacht kommen wohl nur schriftliche Quellen in Betracht. Etwa fünfzig persische Namen kommen in den hier übersetzten Geschichten vor. Baghdad liegt im Gebiete des alten Babyloniens; es ist daher von vornherein wahrscheinlich, daß sich dort altbabylonische Anschauungen durch die Zeiten der Griechen und Perser hindurch bis zu den Arabern erhalten haben und gelegentlich auch in 1001 Nacht noch durchschimmern. Sogar eine ganze Erzählung, die in einigen Handschriften zu dem Werke gerechnet wird, ist altmesopotamischen Ursprungs. Das ist die Geschichte vom weisen Haikâr, die etwa im 7. Jahrhundert Chr. in der assyrischen Hauptstadt Ninive entstanden ist und durch die jüdische und christliche Literatur hindurch ihren Weg in die arabische gefunden hat. Chidr, der Ewig-Junge, der uns in den Geschichten von Bulûkija, von der Messingstadt und von 'Abdallâh ihn Fâdil und seinen Brüdern begegnet, hat ein babylonisches Vorbild; in den Wanderungen Bulûkijas und in dem Lebenswasser, das Prinz Ahmed holt, mögen Reflexe des babylonischen Gilgamesch-Epos enthalten



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sein. Aber Chidr und das Lebenswasser sind den Arabern wohl erst durch den Alexander-Roman überliefert worden; und die Wanderungen Bulûkijas sind aus der jüdischen Literatur zu ihnen gekommen. Vor allem stammen aus der Baghdader Zeit die meisten der Anekdoten, die sich um die Abbasiden und ihren Hof gruppieren; auch einige Anekdoten aus bürgerlichen Kreisen sind dort zu Hause. Der Roman von Sindbad dem Seefahrer wird dort entstanden sein; der Roman von 'Omar en-Nu'mân ist in Syrien und Baghdad zu Hause; der Roman von 'Adschîb und Gharîb weist nach Mesopotamien und Persien; die Geschichte von der klugen Sklavin Tawaddud ist in Baghdad entstanden und in Ägypten überarbeitet worden. Desgleichen sind die Geschichten von Bulûkija, von dem weisen Sindbad und von Dschali'âd und Wird Chân sicher in Baghdad bekannt gewesen. Das »Buch der Lieder«, aus dem einige Geschichten in Tausendundeine Nacht übergegangen sind, wurde zuerst in Baghdad bekannt. Doch wir haben für alle diese Erzählungen keinen sicheren Beweis, daß sie bereits in das Baghdader Werk von Tausendundeiner Nacht aufgenommen waren.

Für Ägypten sind in unserem Werke besonders charakteristisch die meist mit Humor und Geschick erzählten Streiche von Dieben und Schelmen sowie die Zaubermärchen, in denen die Geister den Menschen durch Talismane dienstbar gemacht werden. Auch einige Geschichten, die man als bürgerliche Novellen bezeichnen kann, sind dort geschaffen; einige von ihnen nehmen sich fast wie moderne Ehebruchsromane aus. Alle diese Geschichten stammen natürlich in ihrer jetzigen Form aus dem Ägypten der Mamlukensultane oder dem der türkischen Herrschaft. Es fragt sich nun, wieviel Ältägyptisches in ihnen enthalten ist. Das Volk der ägyptischen Hauptstädte



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ist von alter Zeit bis zur Neuzeit sehr lebensfroh und leichtlebig gewesen; es hatte von jeher Freude am Erzählen, an Wundern, die oft nicht grotesk genug sein können, an komischen Situationen und humorvollen Ausdrücken. So haben denn unsere arabischen Schelmengeschichten und Zaubermärchen ihre altägyptischen Vorgänger gehabt. Prof. Nöldeke wies bereits darauf hin, daß die Geschichte vom Schatz des Rhampsinit sich in der Geschichte von 'Alî ez-Zaibak wiederfindet. Ein Vorgänger dieses Räuberhauptmannes 'All ez-Zaibak und seines Genossen Ahmed ed-Danaf ist der kühne Kondottiere Amasis', der es bis zum Pharao brachte, wie ja auch 'Alî ez-Zaibak in einem neuaramäischen Märchen (Bergsträßer, Neuaramäische Märchen, S. 90) sogar Sultan wird. Dazu kommen noch einzelne altägyptische Züge, wie die Gestalt des schreibenden Affen in der Erzählung des zweiten Bettelmönches innerhalb der Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Baghdad. Diese erinnert, wie Prof. Spiegelberg mir mitteilte, gewiß an den altägyptischen Götterschreiber Thoth, der oft als Affe dargestellt wird. Man hat auch vermutet, daß die Geschichte des ägyptischen Schiffbrüchigen mit Sindbads Reisen und die Geschichte der Einnahme von Jaffa durch ägyptische Krieger, die in Säcken verborgen waren, mit der Geschichte von Ah Baba zusammenhängen. Aber das ist sehr unwahrscheinlich, wie ich in meinem Vortrag »Tausendundeine Nacht in der arabischen Literatur«(Tübingen 1923) S. 22f. näher ausgeführt habe.

Die Anlage des ganzen Werkes als Rahmenerzählung mit den darin eingefügten Geschichten ist typisch indisch. Zwar



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findet sich diese Art auch im alten Ägypten und, innerhalb der einzelnen Geschichten, auch in den später entstandenen, ist sie oft nachgeahmt. Aber wo es innerhalb einer Erzählung heißt: »Es ergeht (erging) ihm (ihr, ihnen) so wie dem und dem«und dann gefragt wird: »Wie war denn das? «(oder ähnlich), können wir fast immer mit Sicherheit auf indischen Ursprung schließen, denn dies ist in den indischen Erzählungen die stehende Ausdrucksweise. Auch in altägyptischen Märchen werden Geschichten vor dem König erzählt, geradeso wie vor den indischen Königen und vor den Kalifen aus dem Hause von el-'Abbâs. Der Filirist (oben S. 662) führt diese Sitte auf Alexander den Großen zurück, »so Gott will«. In Wirklichkeit ist sie in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten aufgekommen, und ein innerer Zusammenhang zwischen ihren einzelnen Erscheinungsformen braucht nicht zu bestehen. Im allgemeinen unterscheiden sich die aus fremden Literaturen stammenden Erzählungen, vor allem die indischen und persischen, von den in arabischer Zeit entstandenen oder niedergeschriebenen dadurch, daß in ihnen wenig Gedichte und wenig Reimprosa vorkommen. Aber es gibt auch Erzählungen solcher Art, die aus der Baghdader und der ägyptischen Zeit stammen; sie gehören mehr der Gruppe der mündlich erzählten Geschichten an. Für eine Anzahl von Geschichten jedoch ist ein einheitlicher Kunststil charakteristisch, der sich namentlich in stehenden Reimprosaformeln für Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, für Schlachtenereignisse usw. zeigt. Freilich ist die Sprache in den Handschriften sehr verschieden, und in den Drucken ist sie vielfach korrigiert. Das alles wäre noch genauer zu untersuchen.


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