Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die Nachtschwärmerin

Es war einmal ein Zar, der hatte eine sehr schöne Tochter; die verdarb jede Nacht ein Kleid und zerriß ein Paar gelbe Schuhe. Das verdroß den Zaren, und er fragte alle Dienerinnen aus, ob sie wüßten, daß vielleicht seine Tochter jede Nacht irgendwohin aus dem Hause ginge und so Kleider und Schuhe zerrisse. Die Dienerinnen versicherten ihm, daß die Zarentochter nicht ausginge. Er glaubt ihnen aber nicht und stellte eine Wache auf, die die ganze Nacht vor der Tür stehen und aufpassen sollte, ob seine Tochter in der Nacht aus dem Zimmer ginge. Aber auch das half nichts. Schuhe und Kleider waren jeden Morgen, den Gott gab, zerrissen und wieder zerrissen.

Da wurde der Zar zornig, und um irgendwie auf die Spur zu kommen, schickte er einen Boten aus und ließ im Volke verkünden: wer ihm sagen könnte, wohin seine Tochter jede Nacht geht und wie sie ihre Kleider zerreißt, dem würde er sie zur Frau geben.

Als diese Botschaft sich im Reiche verbreitete, kamen von allen Seiten tapfere Burschen herzu, um die Zarentochter zu bewachen. Aber keiner konnte herausbringen, wo sie in der Nacht bleibt. Nur so viel erfuhr man, daß sie sich jeden Abend schön anzieht, dann mit einmal weg ist, ohne daß jemand sehen konnte, wann und wohin sie geht; in der Frühe



Bd-01-067_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

traf man sie wieder in ihrer Stube mit verdorbenen Kleidern und zerrissenen Schuhen.

Endlich machte sich ein armer Bursche auf den Weg, um die Zarentochter zu bewachen, ob ihm vielleicht das Glück hold wäre, daß er was erfährt. Unterwegs kam er auf ein weites Gefilde und traf dort drei Brüder, die drauf und dran waren, sich bis aufs Blut zu schlagen. Er rief sie als Bundesbrüder an und fragte sie, warum sie sich schlagen. Die Brüder antworteten: »Was fragst du uns, da du uns doch nicht helfen kannst?« —»Es kann wohl sein, daß ich es kann«, meinte der arme Bursche, »sagt mir nur, um was ihr euch schlagt.«Da erzählte ihm der älteste Bruder, wie ihnen nach dem Tode ihres Vaters drei Dinge hinterblieben wären: ein kleiner Teppich, eine Kappe und ein Stock, sie aber auf keine Weise das unter sich aufzuteilen vermöchten. Der Bursche lachte und sagte zu ihnen: »Und um solche Kleinigkeiten schlagt ihr euch?« —Darauf antworteten die Brüder: »Das sind keine Kleinigkeiten, Bruder, sondern Dinge von sehr großem Wert. Jedes von ihnen hat eine besondere Kraft: wenn man sich auf den Teppich setzt, kann man hinkommen, wohin man wünscht; wenn man die Kappe auf den Kopf setzt, kann einen niemand sehen, und mit dem Stock kann man Stein und Eisen durchschlagen.«

»Na, wenn es so steht, kann kein Friede zwischen euch sein, und ihr selbst könnt die Sachen nicht verteilen. Aber wenn ihr mir folgt, werde ich im Augenblick Frieden unter euch stiften und so teilen, daß es allen recht ist.« —»Da sag nur wie!« riefen alle drei zugleich. — »Nun so, ihr geht weg auf den Hügel da und stellt euch dort in einer Reihe auf. Wenn ich dann mit der Hand winke, rennt ihr los, und wer zuerst zu mir kommt, dem gebe ich den Teppich, wer zu zweit anlangt, dem gebe ich die Kappe, und der letzte kriegt den Stock.«

Die entzweiten Brüder bedachten sich etwas, einigten sich aber zuletzt und gingen darauf ein. Sie übergaben ihr Vatererbe dem Burschen und zogen ab auf den Hügel. So wie sie weg waren, setzte der Bursche geschwind die Kappe auf, setzte sich auf den Teppich, nahm den Stock in die Hand und dachte sich, er wolle im Zarenpalast sein, und im Augenblick war er weg. Als er vor den Zarenpalast geflogen war, nahm er die Kappe vom Kopfe, stieg von dem Teppich ab wickelte beides hübsch zusammen und steckte es in den Busen. Dann zeigte er dem Zaren an, er sei gekommen, seine Tochter zu bewachen. Der Zar gab ihm die Erlaubnis. Als nun der Abend kam und alle im Hofe zur Ruhe



Bd-01-068_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

gingen, legte sich der Bursche vor die Tür der Zarentochter, zog die Kappe aus dem Busen, setzte sie auf den Kopf und begann so unsichtbar aufzupassen und zu horchen. Zu einer Nachtstunde ging die Stubentür leise auf und aus dem Zimmer guckte die Zarentochter heraus, schön wie eine Bergesvila. Das neue Kleid schimmerte nur so an ihr. Als sie über die Schwelle getreten war, zog sie die gelben Schuhe an, machte die Tür hinter sich zu und kam unhörbar wie ein Schatten durch den Palast ins Freie, ohne daß sie einer sah, außer dem armen Burschen. Der zog gleich auch den Teppich aus dem Busen, setzte sich darauf, faßte den Stab fest an und wünschte sich, er möchte bei ihr sein.

Als sie nun aus dem Palast heraus waren, gingen sie lange Zeit eins hinter dem andern her, die Zarentochter schwebte voran und der Bursche unter der Tarnkappe hinterdrein. So kam die Zarentochter an eine schöne Wiese und sprach: »Gras, mach Platz, daß ich durchkann.« Darauf rückte das Gras auseinander, und die Zarentochter ging hindurch, der Bursche hinter ihr. Der griff nach dem Grase und pflückte davon ab, dann steckte er sich's in den Busen. Darauf fing das Gras an zu sprechen: »Bis jetzt bist du durchgegangen, Zarentochter, und hast uns keinen Schaden getan.« Die Zarentochter wunderte sich, was das bedeuten sollte, und sah sich um, aber hinter sich sah sie nichts, und ging weiter. Danach kam sie in einen wunderschönen Garten, darin wuchsen mancherlei Bäume mit Früchten aus Gold und Edelstein. Da rief die Zarentochter: »Macht Platz, ihr Bäume, daß ich durchkann.« Sogleich rückten die Bäume zur Seite und ließen ihr einen Pfad frei; der Bursche blieb immer hinter ihr, griff nach den Zweigen und pflückte Früchte von Gold und Edelstein; die steckte er sich in den Busen. Die Bäume aber begannen darauf gleich zu sprechen: »Bis jetzt bist du durchgegangen, Zarentochter, und hast uns keinen Schaden getan.«Die Zarentochter verwunderte sich wieder, was das sein könnte, und sah sich um, wurde aber hinter sich keine lebendige Seele gewahr und ging weiter. Bald darauf kam sie ans Meer und sprach: »Mach Platz, Meer, daß ich durchkann.« Das Wasser wich sogleich auseinander, und die Zarentochter ging hindurch wie auf trockenem Lande, der Bursche hinter ihr. Da sah er auf dem Grunde schöne Perimuscheln, nahm einige Perlen auf und steckte sie in den Busen. Da sprach das Meer: »Bis jetzt bist du durchgegangen, Zarentochter, und hast mich nicht beschädigt.« Darauf fuhr die Zarentochter vor Schrecken zusammen und dachte, was das bedeuten sollte, da sie doch keinen Schaden getan hatte.



Bd-01-069_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Sie sah sich wieder um, aber da sie niemanden bemerkte, beruhigte sie sich und ging weiter. Als sie ans Ufer kamen, lag ein Gefilde vor ihnen ausgebreitet, mittendrin stand ein hoher Apfelbaum, und an seiner Wurzel war eine Steinplatte; die Zarentochter klopfte dreimal mit dem Schuh auf die Platte, die hob sich, und unter ihr tat sich ein unterirdischer Gang auf. Die Zarentochter ließ sich hinab, und die Platte schloß sich über ihr. Da holte der Bursche mit seinem Stabe aus, tat einen Schlag auf die Platte, und als sie sich aufgetan hatte, stieg er auch hinab und ging in kurzer Entfernung hinter der Zarentochter her. Da unten gab es was zu sehen! Schöne Paläste, hoch und weit, Stuben und Säle fügten sich unübersehbar eins ans andre, und in ihnen schimmerte alles von Gold und Edelstein; Leuchter wie die Sonne erhellten die Paläste, alles glänzte und funkelte, daß man nicht darauf hinsehen konnte. Der Palast war ganz voll von Leuten, alles nur Vilen und ihre Genossen. Diener eilten wie beflügelt hin und her und bedienten die Gäste.

In einigen Stuben waren Tische aufgestellt, reich besetzt, für die Gäste; die schönsten Speisen und Getränke in goldenem Geschirr standen in der größten Fülle auf den Tischen. Die Gäste setzten sich zu Tisch und taten sich gütlich an Speise und Trank. Der arme Bursche sah das alles an und dachte bei sich, warum er so hungrig bei dem Essen dabeistehen soll; da langte er selber zu, nahm vom Tisch die besten Bissen, ganz wie sein Herz begehrte, und trank den funkelnden Rotwein. Die Gäste sehen, wie die Speisen vor ihnen verschwinden, wie die vollen Becher sich leeren, wundern sich, denn sie können nicht sehen, wer das tut. Noch mehr erstaunen sie, als auch die goldenen Becher aus denen sie trinken, vor ihren Augen verschwinden. Während sie so verwundert dastanden, stopfte der Bursche sich die Kostbarkeiten in den Busen. Schon an der Tür hatte ein junger Mann, schön wie gemalt, die Zarentochter erwartet; es war der Sohn des Vilenzaren. Sowie sie eintrat, nahm er sie bei der Hand und setzte sich mit ihr in eine Ecke; dort unterhielten sie sich, scherzten und lachten, während die andern aßen und tranken; sie brauchten nicht Speise noch Trank, wenn sie nur einander sehen konnten, ob auch hungrig und durstig. Da erscholl von irgendwoher himmlisches Flötenspiel. Alle Gäste standen von den Tischen auf und gingen dem Flötenklange nach; auch die Zarentochter mit dem Sohne des Vilenzaren und hinter ihnen der arme Bursche. Sie traten nun in einen großen, großen Saal, ringsum Säulen aus Elfenbein, auf ihnen erhob sich ein Gewölbe wie der Himmel, mitten daran leuchtete eine



Bd-01-070_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa



Bd-01-071_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

Sonne, um sie Mond und Sterne. Von oben ertönte die Flöte, als wenn die Engel des Himmels Harfe spielten. Die Vilen und Vilengenossen faßten sich zum Reigen an und begannen zu tanzen.

Der Vilenreigen hob an, erst langsam, dann immer schneller und schneller; es sah aus, als stünden die Tänzer nicht auf dem Erdboden, als schwebe der Reigen, als wiegten ihn die Töne der Flöte hin und her. Die Flöte tönte immer eindringlicher, und Tänzer und Tänzerinnen tanzten immer heftiger. Zuletzt kam es wie Tollheit über sie, und sie fingen an zu springen, unter ihnen die Zarentochter, als wäre sie unsinnig geworden. Sie und der Sohn des Vilenzaren umschlangen sich fest und sprangen, sprangen, bald nach rechts, bald nach links. Der Zarentochter platzte das Kleid, und die Schuh gingen in Stücke; von dem schönen Gewand, das sie zu Hause angezogen hatte, hingen nur noch Fetzen herab.

So wurde fortgetanzt bis an den lichten Tag; als aber die ersten Hähne krähten, hörte die Flöte plötzlich auf, der Reigen löste sich auf, die Vilen und Vilengenossen gingen aus dem Saal in die Zimmer daneben und waren in kurzer Zeit alle irgendwohin verschwunden. Auch die Zarentochter ging fort, und ihr Tänzer begleitete sie; beim Herausgehen aus dem unterirdischen Palast umarmten und küßten sie sich; sie ging durch den Gang ins Freie hinaus, und der arme Bursche hinter ihr her. Auf demselben Wege, den sie gekommen waren, kehrten sie zurück und kamen, gerade als es Tag wurde, in den Zarenpalast. Die Zarentochter ging unhörbar in ihr Zimmer und legte sich todmüde ins Bett. Der Bursche nahm seine Kappe ab, wickelte sie und den Teppich zusammen und steckte sie in den Busen, den Stock vor sich, und legte sich an seinen alten Platz vor der Tür nieder. Am Morgen ließ der Zar den Burschen vor sich rufen und fragte ihn, ob er was entdeckt habe. Der berichtete ihm alles, was er gesehen, und erzählte ihm, wohin seine Tochter in der Nacht geht, was sie anstellt, woher ihre Kleider zerrissen sind und wie er ihr auf ihrer Nachtreise gefolgt war. Der Zar wunderte sich nicht wenig, als er all das hörte, ließ seine Tochter rufen und befragte sie, wo sie die Nacht gewesen wäre und woher ihre Kleider zerrissen wären. Sie antwortete, sie sei die ganze Nacht in ihrem Zimmer gewesen. Da gab der Zar dem Burschen einen Wink, und der hielt dem Mädchen alles vor.

Als die Zarentochter das hörte, war sie im ersten Augenblick sehr bestürzt, dachte aber, das alles könne nur ein Fallstrick sein, denn wie



Bd-01-072_Maerchen aus dem Balkan Flip arpa

sollte der arme Bursche oder irgendein Mensch auf der Welt ihr auf ihrem nächtlichen Spaziergang folgen und in den unterirdischen Palast gelangen können. Darum leugnete sie und blieb dabei, sie sei nicht aus dem Palast gegangen. Da rechnete der Bursche ihr alles einzeln her, wohin sie gegangen war, was sie gesagt hatte, was Gras, Bäume und Meer gesprochen hatten; dann zog er aus dem Busen die Zeugnisse hervor, daß er auf demselben Wege hinter ihr hergegangen war, zeigte ihr auch Becher und Geschirr von dem Gastmahl und sagte ihr, wie sie auf dem Tanzgelage in dem unterirdischen Palast gewesen war und mit wem sie getanzt hatte. Nun erkannte die Zarentochter, warum Gras, Bäume und Meer sich beklagt hatten, was sie in der Nacht vorher nicht verstanden hatte, und sah, daß man ihr auf die Spur gekommen war und daß es keinen Ausweg gab. Da schämte sie sich und ging in ihr Zimmer. Der Zar aber überzeugte sich, daß alles, was der arme Bursche gesagt hatte, wahr sei, hielt sein Versprechen und gab ihm seine Tochter zur Frau.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt