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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Bettler und das Paradies

Als noch unser Herrgott auf Erden wandelte, kam er einmal als Bettler in ein Dorf auf einem zweirädrigen Karren mit einem elenden Gaul und zog bettelnd von Schwelle zu Schwelle, von Haus zu Haus. Als er so das ganze Dorf abgemacht hatte, bat er bei einem reichen Mann um Nachtlager. Aber da war kein Platz für sein Pferd, die Ställe des reichen Mannes waren übervoll von Vieh. Der Bettler geht zu einem andern; es ist überall so. Schon wird es dunkel, und der Bettler hat noch keine Unterkunft für sich selber, seinen Gaul und seinen Karren gefunden, steht auf der Straße und sieht sich um; dabei weht ein kalter Wind, die Luft sieht nach Schnee aus, und schon geht das Schneegestöber los. Da kommt ein armer Mann vom Felde nach Hause, sieht den Bettler auf der Straße stehen und fragt ihn: »Freundchen, was stehst du in dem schlechten Wetter so spät draußen und gehst nicht ein Unterkommen suchen?« — »Ich habe danach gesucht«, antwortete der Bettler, »kann aber keins finden, wo ich mein Pferd unterbringen könnte; alle Ställe im Dorfe sind voll Vieh.«Darauf sagte der Mann: »Komm nur mit mir in mein Haus, Freund. Ich habe nicht viel Vieh, habe zwar auch keinen großen Stall, aber wir werden uns behelfen, wie es Gott gegeben hat.«



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Darauf nahm der arme Mann den Bettler mit in sein Haus, zog seinen eigenen Wagen halb aus dem Wagenschuppen ins Freie, um den Karren des Bettlers unterzubringen, stellte dessen Pferd zu seinem Esel in den Stall und stopfte die Krippen voll Grummet, damit Pferd und Esel zusammen schmausen könnten. Den Bettler nahm er zu sich in die warme Stube und bewirtete ihn mit allem, was er hatte, so gut er konnte. Dazu breitete er ihm eine Strohschütte am Ofen aus und bereitete ihm ein weiches Lager. Vor der Mahlzeit und nachher und vor dem Schlafengehen betete der Arme mit Frau und Kindern mit lauter Stimme zu Gott, und der Bettler stimmte ein. So beherbergte und bewirtete der Arme den Bettler freundschaftlich.

Am andern Morgen sagte der Bettler zu dem Armen: »Höre, Bruder, komm auch einmal zu mir in mein Haus, damit ich dir die Liebe vergelten und dich bewirten kann, wie du mich freundschaftlich bewirtet und beherbergt hast.« — »Wie soll ich dein Haus finden?«fragte der arme Mann den Bettler. —»Das wirst du leicht finden, geh nur an den Fahrweg, wo mein Karren gegangen ist, das Geleise ist daran zu erkennen, daß es breiter ist als jede andre Wagenspur und niemals zuwächst.« — »Schön, Bruder, ich danke dir, ich komme, wenn ich Zeit habe, ich oder eins von den Meinigen. Ich habe noch zwei Stiefbrüder von Mutterseite im Dorf, die sind reicher als ich.« — »Komme, wer da will, es soll mir lieb sein«, sagte der Bettler und ging fort.

Als er fort war, ging der arme Mann in den Stall, um ihn zu kehren. Drinnen sieht er etwas in der Streu glänzen, bückt sich danach und hebt vier goldne Hufeisen auf. Die müssen von dem Pferde des Bettlers sein. Er gerät ins Nachdenken: »Lieber Gott, was ist das für ein Bettler, beschlägt sein Pferd mit Gold! Das ist eine Versuchung. Ich will die Hufeisen verwahren, damit ich sie dem Bettler zurückgeben kann, wenn er wieder hierherkommt oder ich zu ihm gehe.«Darauf geht er unter den Wagenschuppen, da liegen auf der Erde zwei silberne Schrauben. »Sieh an«, denkt er, »die müssen von des Bettlers Karren sein. Wie konnten ihm die nur herausfallen; da kann ihm unterwegs ein Unfall passieren, ein Rad kann ihm ablaufen, und die Achse kann brechen.«Und wieder versank er in Gedanken: »Mein Gott, ein sonderbarer Bettler, der an seinem Karren silberne Schrauben hat. Es ist vielleicht ein verkleideter großer Herr, vielleicht ein Prinz oder gar der König.«Auch die Schrauben legte der arme Mann zu den Hufeisen. Als er nun unter dem Schuppen näher nachsieht, wo die Räder des Karrens eingeschnitten



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haben, da glänzt die Wagenspur wie versilbert, und so erscheint sie auch weiter durch den Hof und im Felde. »Mein Gott, ein sonderbarer Bettler«, muß er wieder bei sich denken.

Als er dann mit seinen Stiefbrüdern zusammenkam, erzählte er ihnen von dem Bettler, seinem Pferde, seinem Karren, von den goldnen Hufeisen und von den silbernen Schrauben. Die Brüder gingen auch hin und besahen die Wagenspur, die von dem Karren des Bettlers geblieben war. Nach einiger Zeit machte sich der ältere Bruder auf den Weg, spannte zwei prächtige Pferde vor, sagte aber keinem, wohin er reist, nur seinem armen Stiefbruder sagte er, er wolle der silbernen Wagenspur nachfahren: »Ich gehe, wohin mich die Spur leitet.« Der Arme antwortete: »Glück auf, Bruder, ich möchte auch gehen, aber ich kann das Haus nicht verlassen, ich habe kleine Kinder, für die muß ich Brot schaffen.«Der Stiefbruder fuhr nun im Geleise des Bettlers einige Tage durch Wald und Feld, über Berg und Tal, immer auf dem silbernen Geleise. Er war gerade aus einem Walde heraus auf ein weites ebenes Gefilde gekommen, da sieht er von ferne einen Flußlauf sich durch die Ebene schlängeln, darüber eine Brücke, er darauf zu, und da sieht er, über den Fluß ist eine Brücke aus Holz gebaut, künstlich und schön, wie man sie nur träumen mag. Der Reisende bleibt stehen und betrachtet die Brücke. Eine solche hat er noch nie gesehen. Dann geht er hinüber und kommt auf ein freies Feld, das von Wald umgeben ist. Dort, nahe an der Straße mit dem versilberten Geleise, befindet sich ein Schweinekoben, an der einen Seite mit einem Maistrog, an der andern mit einem Wassertrog. Bei dem Koben sind zwei häßliche Säue. Die haben sich über das Futter entzweit und hauen aufeinander ein; eine rupft die andre mit den Zähnen an den Borsten, sie reißen sich das Fleisch vom Leibe, daß das Blut davonfließt. Der Reisende bleibt ein wenig stehen und schaut sich die Säue an. Schrecken faßt ihn, während er dem Greuel zusieht; er versetzt seinem Pferd einen Peitschenhieb und fährt weiter. So war er eine kurze Strecke gefahren, da kommt er wieder an eine Brücke über einen Bach. Die ist ganz von Stein, schön, wie im Traum geschaut, als wäre sie nicht zusammengebaut, sondern aus einem einzigen Stein gehauen. Der Reisende fährt hinüber und kommt auf eine Wiese; nahe an seiner Straße liegt ein kleiner Heuschober; um den herum laufen zwei Ochsen und stoßen sich mit ihren starken Hörnern; sie haben sich schon ganz blutig gestoßen und fahren noch immer aufeinander los; es ist schrecklich zu sehen, wie sie sich stechen



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und stoßen, und schrecklich zu hören, wie sie brüllen und brummen; das Blut rinnt auf allen Seiten vom einen wie vom andern. Der Reisende sieht lange zu und wundert sich, daß niemand da ist, der die Säue und die Ochsen auseinanderbringen könnte. Sie werden tot hinfallen, so wütend wie sie aufeinander losgehen. Darauf fährt er eine Zeitlang weiter, und wieder kommt eine Brücke über einen Bach. Sie ist von Eisen, wunderbar, wie geträumt. Auch die Brückenbohlen sind eisern, dick, breit und lang. Der Reisende wundert sich. Sie donnert unter seinem Wagen, als er hinüberfährt.

Auf dem Felde drüben nahe an seiner Straße liegt ein grünes Gebüsch auf einem Hügel. Um das herum jagen sich zwei Böcke und stoßen sich mit den Köpfen, daß die Hörner krachen, man möchte glauben, sie müßten abfallen. Sie sind schon beide mit Blut übergossen, und es ist schrecklich zu sehen, wie sie sich stoßen. Der Reisende blieb einige Zeit dabei stehen, ging dann weiter und fuhr eine Zeitlang vorwärts. Da kommt wieder ein Bach, darüber eine Brücke, die leuchtet und flimmert schon von ferne. Als er dahin kommt, muß er vor Verwunderung die Augen aufreißen, die Brücke ist von Kupfer, auch die Brückenbohlen sind kupfern; ein Werk, wie im Traum geschaut. Ober die Brücke kommt der Reisende in ein breites und langes Tal, von Hügeln umgeben. Neben seiner Straße ist ein Gabelholz in die Erde getrieben, darin sind Nägel eingeschlagen; an einem hängt ein Kalbsviertel, an dem zweiten ein Lammsviertel, am dritten ein Schweineviertel. Bei dem Gabelholz sind zwei große Hündinnen, eine schwarz, die andre gefleckt, wie zwei große Windhunde anzusehen. Die kämpfen um das Fleisch, reißen einander das Fleisch vom Leibe und beißen sich fürchterlich; das Blut rinnt ihnen aus dem Gebiß, schrecklich anzusehen. Der Reisende sah etwas zu und zog dann weiter. So fährt und fährt er, immer im Trabe, dahin; da kommt er wieder an einen Bach; von weitem bemerkt er die Brücke; sie glänzt, man kann nicht darauf hinsehen. Als er herankommt, sieht er, die Brücke ist von Silber, schön, wie im Traum gesehen. Da hält er seine Pferde an und steigt ab, um die silberne Brücke zu betrachten: alles ist von Silber, wie gegossen, die Brückenbohlen, die Pfeiler und das Geländer. Er betrachtet alles, faßt es an, streicht mit der Hand über Geländer und Bohlen, wackelt und zieht daran. Die Bohlen sind lang, breit und dick. Er zieht hierhin und dahin und zieht eine Bohle heraus, sie ist schwer, er kann sie kaum heben. Der Reisende überlegt hin und her und sieht sich nach allen Seiten um, sieht aber nirgends



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einen und denkt sich bei sich: »Ich will zwei, drei Bohlen aus der Brücke hübsch herausziehen, sie auf den Wagen laden, mit Heu und Pferdedecken zudecken und dann rasch zurück nach Hause. Es wird mir für Lebenszeit reichen.«Was er beschlossen hatte, führte er aus und sprengte dann nach Hause zurück. Als er so einige Tage in aller Eile gereist war, nur daß er bisweilen die Pferde fütterte, kam er an und versteckte die silbernen Brückenbohlen im Stall. Er war in der Nacht angekommen; als er am andern Morgen in den Stall ging, um nach seinen silbernen Brückenbohlen zu sehen, hatten sie sich in hölzerne verwandelt, das Holz morsch und halb verfault. Da nahm er sie und spaltete sie zu Brennholz.

Schon lange hatte auch der zweite Stiefbruder des armen Mannes den Wunsch gehabt nachzuspüren, wie weit das silberne Geleise von dem Karren des Bettlers führt. So spannte er gute Pferde an und fuhr ab. Seinem Stiefbruder, dem Armen, hatte er gesagt: »Ich gehe und will der Spur des silbernen Geleises folgen, wie weit und wohin sie führt.« Wie der erste Bruder kam er auf dem silbernen Geleise über die hölzerne Brücke, dann über die eiserne, die kupferne und die silberne. Alles sah er, was sein Bruder gesehen hatte, wie die Säue bei dem vollen Koben aufeinanderhauen, wie die Ochsen sich bei dem Heuhaufen stoßen, wie die Böcke sich um das Gebüsch herum jagen und stoßen, wie die Hündinnen sich um die Fleischstücke beißen. Als er über die silberne Brücke hinüber war, befand er sich auf einer großen Ebene. Da weiß er nicht, wohin er zuerst schauen soll: an einer Stelle neben dem Wege mit dem silbernen Geleise steht ein Mensch und schlägt mit den Armen um sich; eine Schar Raben stürzt sich auf ihn und will ihm die Augen auspicken; schon haben sie ihn im Gesicht verwundet und wollen ihm an die Augen; er kann sich nicht wehren. Etwas weiter sitzt auf einem Hügel ein alter Mann; Kopf- und Barthaar weiß wie Schnee. An ihn drängt sich ein Joch Ochsen, die rupfen sein Haar wie Heu aus einem Schober; soviel sie abrupfen, soviel wächst gleich wieder nach. Der Mann jammert und klagt und bittet Gott um den Tod; wo ihn die Ochsen rupfen, rinnt ihm das Blut aus Kopf und Bart. Etwas weiter von da steht ein Apfelbaum voll Früchte; die Zweige biegen sich von der Last zu Boden; unter dem Baum ein Mensch, der will Äpfel pflücken; er ist hungrig und möchte essen. Sobald er nun nach einem Apfel langt und ihn pflückt, platzt ihm der Apfel in der Hand und zerstäubt wie ein Bovist. Wieder an einer andern Stelle rennt ein Mensch hinter



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einem Brunnen her; er möchte trinken, aber der Brunnen samt dem Eimer läuft vor ihm weg. Noch viele andre wunderbare Anstalten sah der Reisende auf diesem Felde; wer könnte erzählen, was es da alles gab. Der Reisende fuhr nun weiter. Da sieht er plötzlich aus der Ferne etwas glänzen; alles blitzt und funkelt wie Strahlen der Sonne. Er geht dahin, und was erblickt er? Eine Brücke über einem Bach, golden, aus reinem Gold, daß einem beim Hinsehen die Augen übergehen. Er hält an und steigt ab, um die goldne Brücke näher zu besehen, geht entlang, faßt Geländer und Bohlen an, und zieht an den Bohlen hierhin und dahin. Eine Bohle nach der andern wackelt er los und zieht drei, vier heraus. Sie sind schwer, er kann kaum eine bewältigen. Jetzt schaut er sich um, ob einer ihn sehen kann, und verstaut die Brückenbohlen in seinem Wagen; bei sich denkt er: »Ich wäre dumm, wenn ich noch weiterginge«, setzt sich auf den Wagen und fährt eilends zurück. Nach einigen Tagen kam er nachts zu Hause an. Die goldenen Brückenbohlen verwahrt er unter Schloß und Riegel im Stall, und geht am nächsten Morgen hin, seine Augen an dem Golde zu weiden. Aber wie er dahin kommt, haben sich die goldnen Bohlen in morsche hölzerne Bretter verwandelt. Aus denen spaltete er Feuerholz und verriet keinem, wo er gewesen war und was er gesehen hatte, so schämte er sich wegen der Brückenbohlen.

Seitdem war lange Zeit vergangen. Der arme Mann, der den Bettler mit seinem Pferd und seinem Karren aufgenommen und beherbergt hatte, hatte seine Kinder großgezogen und auf eigene Füße gestellt, seine Frau war ihm gestorben; alt war er auch geworden. So sitzt er einmal da und denkt darüber nach, was er schon hinter sich hat und was er alles erlebt hat. Da fällt ihm auch der Bettler mit seinem Pferd und Karren ein; er sieht nach der silbernen Wagenspur; sie ist noch nicht verwachsen, glänzt noch wie neu, und er beschließt, dem Geleise nachzugehen und den Bettler aufzusuchen, nimmt seinen Wagen, spannt seinen Esel vor, und nun vorwärts. Die goldenen Hufeisen und die silbernen Schrauben nimmt er mit, um sie dem Bettler wiederzugeben, wenn er ihn finden sollte. Der arme Mann kam nun der Reihe nach über alle die Brücken und sah alles, was seine Brüder gesehen hatten; es war alles noch so wie damals. Er ist ein ehrlicher Mann; um nichts in der Welt würde er seine Hand nach fremdem Gut ausstrecken, sein Sinn steht nicht auf Diebstahl wie der gierige Sinn seiner Brüder nach den silbernen und goldenen Brückenbohlen. Langsam zog er auf seinem Wagen weiter und kam



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an eine wunderbare Mauer, ein Ringmauer, die sich weithin erstreckte, so daß man mit dem Auge das Ende nicht ersehen konnte. Die Mauer ist hoch, aus kostbarem Gestein erbaut, man kann nicht darauf hinsehen, so glänzt und funkelt sie. Die Mauer hat ein großes Tor, an dem ist alles von Gold und Edelsteinen, weißen, schwarzen, gelben und grünen und sonst von allerlei Farben, wie man es im Traum schauen mag.

Der arme Mann reißt die Augen auf, er kann sich nicht satt sehen und nicht genug wundern. Das Tor ist zu. Er steigt vom Wagen, läßt seinen Esel weiden, zieht den Wagen unter die Mauer, nahe bei dem Tor, und nimmt seinen Ranzen vom Wagen. Darin hat er die goldenen Hufeisen und die silbernen Schrauben. Darauf geht er zu dem Tor, zieht den Riegel, und das Tor geht auf. Hundert Augen könnte einer haben und könnte nicht alles übersehen, was es da gibt; ein großer Garten, man kann ihn nicht überschauen, darin Obstbäume aller Art, einige in der Blüte, andere reif, mit so schönem Obst, daß man sich nicht daran satt sehen konnte, und in zahlloser Menge, dazu lieblich duftende Blumen. Haine gibt es, Wiesen, Hügel und Quellen. Aus den Brunnen fließt das Wasser, klar wie Tränen, durch Röhren aus Edelstein. Auf den Bäumen singen prächtige Vögel, wie sie der arme Mann noch niemals gesehen hatte. Essen und Trinken konnte man beim Anhören ihres Gesanges vergessen. Der arme Mann steht da in größter Verwunderung, weiß nicht, ob er träumt oder wacht, ob er tot oder lebendig ist. Er sieht sich nach allen Seiten um, geht langsam durch den Garten weiter und hält sich immer an dem silbernen Geleise. Lange geht er so weiter, durch Obstgärten, Blumengärten, durch Wäldchen und Haine, durch Wiesen und Pflanzungen. Er fühlt nicht Hunger noch Durst, noch Müdigkeit; so erfreut ist er über all das Schöne und Liebe, Tränen vergießt er vor Freude. Bald hier, bald da bleibt er stehen, betrachtet bald dies, bald das, horcht, geht weiter - da auf einmal tritt aus den Bäumen und Büschen der Bettler vor ihn, den er einst mit Pferd und Karren bei sich aufgenommen hatte. »Gelobt sei Jesus Christus, Freund«, rief der arme Mann. Der Bettler antwortete »In Ewigkeit, amen!« »Gott sei Dank, Freund«, sagte nun der arme Mann, »daß ich dich gefunden habe und jetzt hier sehe. Aber zuerst muß ich dir die Hufeisen und Schrauben abliefern, die du verloren hast, als du bei mir übernachtet hast.«Damit greift er in seinen Ranzen, holt Hufeisen und Schrauben heraus und übergibt sie dem Bettler; der wirft sie ins Gras und führt den armen



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Mann weiter durch den Garten. Der bat ihn nun, er möge ihm sagen, was das ist, was er alles unterwegs bis hierher gesehen hatte; und der Bettler erklärte ihm auf dem Spaziergange durch den Garten alles der Reihe nach: »Als du über die hölzerne Brücke auf das offene Feld gekommen warst, sahst du einen Schweinekoben voll Mais und Wasser. Die beiden Säue, die dort aufeinander einhauen, sind zwei Schwägerinnen, die auf Erden in einem wohlversorgten Hause wohnten, aber sie haßten sich, zankten und schlugen sich immer. Als du über die steinerne Brücke gekommen warst, sahst du, wie sich um einen Heuhaufen zwei Ochsen stießen. Es sind zwei Nachbarn, die auf Erden in Streit lebten. Darum leben sie so in dieser Welt hier. Als du über die eiserne Brücke gekommen warst, sahst du, wie sich zwei Böcke stießen. Es sind zwei Nachbarn. Sie lebten auf Erden in Haß und trachteten einander nach dem Leben. Darum leben sie so auch in dieser Welt hier. Als du über die kupferne Brücke gekommen warst, sahst du im Tal ein Gabelholz mit Fleisch. Um das Fleisch bissen sich zwei Hündinnen; das sind zwei leibliche Schwestern, die entzweiten und stritten und schlugen sich um die Habe der Eltern; daher so auch in dieser Welt hier. Als du über die silberne Brücke gekommen warst, kamst du auf ein großes ebenes Feld und sahst, wie Raben einen Menschen anfallen, ihm ins Gesicht hacken und die Augen auspicken. Das ist ein Sohn, der Vater und Mutter schlecht behandelt hat, er schlug sie und ließ sie Hunger leiden. Da hat er nun seinen Lohn. Der Alte ferner, dem die Ochsen das Haar abrupfen, ist ein Bauer, der beim Pflügen seine Ochsen immer auf fremden Ackern und Wiesen weiden ließ. Der Mann, der durstig dem Brunnen nachläuft, war ein Säufer.«

Während der Bettler dem armen Manne so alles erklärte, führte er ihn weiter durch den schönen Garten. »Was ich da alles an schönen Dingen gesehen und gehört habe«, sagte er selbst, »könnte ich nicht erzählen und wenn man mich totschlüge.«Endlich bat er den Bettler: »Ich bitte dich, Freund, ich möchte gehen, nach meinem Esel zu sehen und ihn zu tränken, daß mir mein Fahrer keinen Durst leide; satt gefressen hat er sich schon an dem schönen Gras. Dann will ich dich bitten, daß ich noch ein wenig im Garten bleiben und mich an seiner Schönheit satt sehen darf.«Der Bettler lächelte dem armen Manne freundlich zu und geleitete ihn bis ans Tor. Als er draußen war, wo er Esel und Wagen gelassen hatte, sagte er dem Bettler Lebewohl, der aber gab ihm die Hand und sagte: »Komm wieder, ich erwarte dich zum Abend.« Der



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Arme sieht sich nun auf dem Felde um, sein Esel ist nirgends; er geht über die Brücke und sucht, geht über die zweite und dritte, immer weiter, der Esel ist nicht da. Schon ist er über die letzte hölzerne Brücke gekommen, findet aber nicht, was er sucht. Nun macht er sich weiter auf den Weg, immer das silberne Geleise entlang bis zu seinem Dorfe.

Als er da ankommt, erkennt er weder Dorf noch irgendeinen Menschen darin, alles hat sich verändert, andre Häuser, andre Leute. Er erkundigt sich nach seinem Häuschen, seinen Kindern und seinen Stiefbrüdern. Keiner kann ihm etwas darüber sagen, alle Leute sehen ihn fremd an und wundern sich über ihn. Was will der arme Mann machen? Er kann nur auf dem silbernen Geleise zu dem Bettler wieder zurückkehren, ihn zu fragen, was das mit ihm ist. Als er wieder in den schönen Garten kam, nahm ihn der Bettler freundlich auf, und er ging niemals wieder von da weg, sondern blieb bei dem Bettler im Paradies.


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