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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Drache und der Zarensohn

Es war einmal ein Zar, der hatte drei Söhne. Einmal ging der jüngste auf die Jagd, und wie er aus der Stadt heraus war, sprang ein Hase aus dem Gebüsch; er ihm nach, bald hierhin, bald dahin, bis der Hase in eine Wassermühle lief, und der Zarensohn hinter ihm her. Aber sieh da, dort war es kein Hase, sondern ein Drache, der dastand, den Zarensohn zu verschlingen. Als danach einige Tage vergangen waren und der Zarensohn nicht nach Hause kam, wurden sie unruhig, was es zu bedeuten habe, daß er nicht wieder da ist. Darauf ging der zweite Sohn auf die Jagd, und sowie er aus der Stadt heraus war, sprang der Hase aus dem Gebüsch, er ihm nach, bald hierhin, bald dahin, bis der Hase in die Wassermühle lief, und sieh da, dort war es kein Hase, sondern ein Drache, der stand da, den Zarensohn zu verschlingen. Als darauf wieder einige Tage vergangen waren und keiner der beiden Zarensöhne zurückkam, wurde der ganze Hof besorgt. Darauf ging auch der dritte Sohn auf die Jagd, ob er nicht seine Brüder finden möchte. Als er aus der Stadt heraus war, sprang wieder der Hase aus dem Gebüsch, er ihm nach, hierher und dahin, bis der Hase in die Wassermühle lief. Der Zarensohn aber mochte ihm nicht weiter folgen, sondern ging weiter, ein andres Wild zu suchen, und dachte bei sich: >Wenn ich zurückkomme, werde ich dich schon finden.< Er wanderte nun lange im Gebirge hin und her, fand aber nichts, ging dann zurück zu der Wassermühle und traf darin eine alte Frau. Die rief er an: »Gott helfe, liebe Alte!«Sie erwiderte: »Gott helf dir, mein Sohn.« Darauf fragte er sie: »Wo ist mein Hase, liebe Alte?«Und sie antwortete: »Mein Sohn, das ist kein Hase, sondern ein Drache; der hat schon viele Leute umgebracht.« Als der Zarensohn das hörte, wurde er etwas besorgt und sagte zu der alten Frau: »Was machen wir nun? Da sind wohl auch meine beiden Brüder umgekommen?«Die Alte antwortete: »Freilich, aber da ist nichts zu tun, sondern geh nach Hause, mein Sohn, ehe es dir geht wie ihnen.« Da sagte er zu ihr: »Weißt du was, liebe Alte? Ich weiß, du möchtest auch gern von diesem Elend freikommen.« Die Alte unterbrach ihn: »O mein Sohn, wie sollte ich nicht; auch mich hat der Drache geraubt, aber jetzt gibt es kein Fortkommen.« Da fuhr er fort: »Höre gut zu, was ich dir sage. Wenn der Drache kommt, frage ihn, wohin er zu gehen pflegt und wo seine Stärke ist; dann küsse immerfort die Stelle, wo er sagt, daß sie ist, als hättest du sie besonders lieb; das



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versuchst du so lange, bis du es herausgebracht hast, und dann sagst du's mir, wenn ich herkomme.« Darauf ging der Zarensohn in sein Schloß, und die Alte blieb in der Mühle. Als nun der Drache kam, fragte ihn die Alte: »Aber sag doch, wo um Gottes willen bleibst du? Wohin gehst du so weit weg? Du willst mir nie sagen, wohin du gehst.« Der Drache antwortete: »Ach, meine Alte, ich gehe weit weg.« Da begann die Alte ihn zu umschmeicheln: »Aber warum gehst du so weit weg? Sag mir, wo ist deine Stärke? Wenn ich das wüßte, was würde ich da nicht vor Entzücken tun, ich würde immerfort die Stelle küssen.« Darauf fing der Drache an zu lachen und sagte: »Da ist meine Stärke in dem Feuerherd«, und die Alte drückte sich an den Herd, herzte und küßte ihn. Der Drache aber, als er das sah, brach in Gelächter aus und rief: »Dummes Weib, da ist meine Stärke nicht; sie ist in dem Baum da vor dem Hause.« Da machte sich die Alte an den Baum, herzte und küßte ihn, der Drache aber fing wieder an zu lachen und sagte: »Geh, dummes Weib, da ist meine Stärke nicht.«Als sie nun noch einmal fragte: »Aber wo ist sie denn?« antwortete der Drache: »Meine Stärke ist weit weg, dahin kannst du nicht kommen. Weit fort in einem andern Reiche bei der Zarenstadt ist ein See, in dem gibt es einen Drachen, in dem Drachen einen Eber, in dem Eber einen Hasen, in dem Hasen eine Taube, in der Taube einen Sperling, und in dem Sperling ist meine Stärke.« Als die Alte das hörte, sagte sie zu dem Drachen: »Das ist freilich weit, die Stelle kann ich nicht küssen.« Am nächsten Tage, als der Drache aus der Mühle fort war, kam der Zarensohn zu der Alten, und die sagte ihm alles, was sie von dem Drachen vernommen hatte. Darauf ging er nach Hause und verkleidete sich, zog Hirtenkleider an, nahm einen Hirtenstab in die Hand, machte sich so zum Hirten und zog in die Welt. Als er so von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt wanderte, kam er in ein andres Reich und in die Zarenstadt, neben der in einem See der Drache war. In der Stadt fragte er hin und her, wer einen Hirten brauche. Die Einwohner sagten ihm, der Zar brauche einen. Da ging er geradewegs zu dem Zaren, und als man ihn gemeldet hatte, ließ ihn der Zar vor sich und fragte ihn: »Du willst die Schafe hüten?« Er antwortete: »Ja, erlauchte Krone.« Da nahm ihn der Zar in Dienst und gab ihm noch Rat und Lehre: »Es gibt hier einen See, an dem See sehr schöne Weiden, aber sowie man die Schafe austreibt und sie dahin kommen, laufen sie auseinander rings um den See; kein Hirt aber, der da hinausging, ist je zurückgekommen; deswegen, mein Sohn, sage ich dir, laß



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den Schafen nicht ihren Willen, wohin sie wollen, sondern lenke sie, wohin du willst.«Der Zarensohn dankte dem Zaren und schickte sich an, die Schafe auszutreiben, mit sich nahm er zwei Windhunde, die einen Hasen in freiem Felde einholen konnten, und einen Falken, der jeden Vogel abfangen konnte, dazu noch einen Dudelsack. Als er die Schafe ausgetrieben hatte, ließ er sie gleich an den See, und die Schafe liefen auseinander rings um den See. Der Zarensohn aber setzte den Falken auf einen Baumstumpf, die Windhunde und den Dudelsack daneben, streifte dann Hose und Ärmel auf, watete in den See und rief: »Ho! Drache, Drache, komm doch heut zum Zweikampf mit mir, wenn du kein Weib bist.«Der Drache antwortete: »Gleich, Zarensohn, gleich!« Bald stand er auch da, groß, furchtbar, scheußlich; sie faßten sich zum Ringkampf und rangen den Sommertag bis Mittag. Als aber die Mittagshitze anfing zu brennen, sagte der Drache: »Laß mich doch einmal los, Zarensohn, daß ich meinen wüsten Kopf in den See tauchen kann; dann werfe ich dich himmelhoch.« Der Zarensohn antwortete: »Ach was, Drache, schwatze kein dummes Zeug! Wenn mich die Zarentochter auf die Stirn küssen würde, würfe ich dich noch höher.« Darauf machte sich der Drache gleich von ihm los und ging in den See. Gegen Abend wusch sich der Zarensohn schön und machte sich zurecht, setzte den Falken auf die Schulter, ließ die Hunde neben sich gehen, nahm den Dudelsack unter den Arm, trieb dann die Schafe zusammen und ging, auf seinem Dudelsack spielend, in die Stadt. Dort lief die ganze Stadt zusammen, als wäre ein Wunder geschehen, daß er wiederkommt, da doch früher kein Hirt von dem See hatte zurückkommen können. Am nächsten Tage machte der Zarensohn sich wieder auf und ging mit den Schafen geradewegs zu dem See. Der Zar aber schickte ihm zwei Reiter nach, die ihm heimlich folgen und nachsehen sollten, was er macht; und die stiegen auf einen hohen Berg, von wo aus sie gut sehen konnten. Als der Hirt angekommen war, stellte er Hunde und Dudelsack neben den Baumstumpf, den Falken darauf, streifte Hose und Ärmel auf, watete in den See und rief: »Ho, Drache, Drache! Komm heraus zum Zweikampf mit mir, wir wollen uns noch einmal miteinander messen, wenn du kein Weib bist.«Der Drache antwortete: »Gleich, Zarensohn, gleich!« Bald stand er auch da, groß, furchtbar, scheußlich; sie packten sich zum Ringkampf und rangen den Sommertag bis Mittag. Als aber die Mittagshitze anfing zu brennen, sagte der Drache: »Laß mich doch einmal los, Zarensohn, daß ich meinen wüsten



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Kopf in den See tauchen kann; dann werfe ich dich himmelhoch.« Der Zarensohn aber antwortete: »Ach was, Drache, schwatze kein dummes Zeug! Wenn mich die Zarentochter auf die Stirn küssen würde, würfe ich dich noch höher.« Darauf machte sich der Drache gleich von ihm los und ging in den See. Gegen Abend trieb der Zarensohn die Schafe zusammen wie früher und ging, seinen Dudelsack spielend, heim. Als er in die Stadt eintrat, geriet die ganze Stadt in Aufregung und wunderte sich, wie der Hirt jeden Abend nach Hause kommen konnte, was vorher keiner gekonnt hatte. Die beiden Reiter aber waren vor ihm ins Schloß gekommen und hatten dem Zaren alles der Reihe nach erzählt, was sie gehört und gesehen hatten. Als nun der Zar den Hirten nach Hause kommen sah, ließ er sogleich seine Tochter rufen, sagte ihr, was und wie sich alles zugetragen hatte und befahl ihr: »Also morgen gehst du mit dem Hirten an den See und küßt ihn auf die Stirn.« Da brach sie in Tränen aus und bat ihren Vater inständig: »Du hast niemanden außer mir allein und machst dir nichts daraus, wenn ich umkomme?« Da suchte sie der Vater aufzurichten und ihr Mut zu machen: »Hab keine Angst, meine Tochter; siehst du, wir haben schon so viele Hirten gewechselt, und keiner, der zu dem See hinausging, ist zurückgekommen; der hier aber hat schon zwei Tage mit dem Drachen gekämpft, und es hat ihm nichts geschadet. Ich hoffe zu Gott, daß er den Drachen überwinden kann; geh nur morgen mit ihm, vielleicht befreit er uns von diesem Übel, durch das so viele Menschen umgekommen sind.«Als am nächsten Morgen der helle Tag anbrach und die Sonne aufging, stand der Hirt auf, auch das Mädchen stand auf, und sie schickten sich an, zum See zu gehen. Der Hirt war vergnügt, vergnügter als je, das Mädchen aber weinte; der Hirt tröstete sie: »Fräulein Schwester, ich bitte dich, weine nicht, tu nur, was ich dir sage: wenn es Zeit ist, lauf herzu und küsse mich, und hab keine Angst.« Als sie aufgebrochen waren und die Schafe in Bewegung gesetzt hatten, war der Hirt unterwegs immer vergnügt, blies vergnügt auf seinem Dudelsack, das Mädchen aber ging neben ihm und weinte in einem fort; er nahm bisweilen die Dudelsackpfeife aus dem Munde und wandte sich ihr zu: »Weine nicht, meine Goldne, hab keine Angst.« Am See liefen die Schafe gleich auseinander um den See herum, der Zarensohn setzte den Falken auf dem Baumstumpf, Hunde und Dudelsack daneben, streifte Hose und Ärmel auf, watete ins Wasser und rief: »Ho, Drache, Drache! Komm zum Zweikampf mit mir heraus, wir wollen uns noch einmal messen, wenn du



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kein Weib bist.«Der Drache antwortete: »Gleich, Zarensohn, gleich!« Bald stand er auch da, groß, furchtbar, scheußlich; sie packten sich zum Ringkampf und rangen den Sommertag bis Mittag. Als nun die Mittagshitze anfing zu brennen, sprach der Drache: »Laß mich doch einmal los, Zarensohn, daß ich meinen wüsten Kopf in den See tauchen kann; dann werfe ich dich himmelhoch.« Der Zarensohn antwortete: »Ach was, Drache, schwatz kein dummes Zeug! Wenn mich die Zarentochter auf die Stirn küssen würde, würfe ich dich noch höher.« Sowie er das gesagt hatte, lief das Mädchen herzu und küßte ihn auf Wangen, Augen und Stirn. Da hob er den Drachen und warf ihn himmelhoch, und als der Drache auf die Erde herunterplatzte, zersprang er in Stücke, und aus ihm heraus kam ein wilder Eber, der lief in voller Fahrt davon, aber der Zarensohn rief seine Hirtenhunde: »Faßt! Laßt ihn nicht los!« Die Hunde sprangen hinter dem Eber her, holten ihn ein und zerrissen ihn auf der Stelle. Aber aus dem Eber sprang ein Hase heraus und fuhr übers Feld. Der Zarensohn aber ließ die Hunde los: »Faßt! Laßt nicht los!«Die hinter dem Hasen her, packten ihn und zerrissen ihn auf der Stelle. Aber aus dem Hasen flog eine Taube auf, der Zarensohn ließ seinen Falken los, der fing die Taube und brachte sie ihm, er schnitt sie auf, und sieh da, in der Taube war ein Sperling. Den packte er und sagte zu ihm: »Jetzt sagst du mir, wo meine Brüder sind.« Der Sperling antwortete: »Ja, nur tu mir nichts; gleich hinter der Stadt deines Vaters ist eine Mühle, darin sind drei Gerten, schneide sie ab und schlage damit auf ihre Wurzel; dann wird sich sogleich die eiserne Tür eines großen Kellers öffnen, darin sind so viel Menschen, alte und junge, reiche und arme, kleine und große, Frauen und Mädchen, daß man ein ganzes Land damit besiedeln kann; dort sind auch deine Brüder.« Als der Sperling mit seiner Aussage zu Ende war, drehte ihm der Zarensohn den Hals um. Der Zar aber hatte sich in Person herausbegeben und war auf den Berg gestiegen, von wo die Reiter den Hirten beobachteten, und hatte so alles gesehen, was sich ereignet hatte. Nachdem nun der Hirt mit dem Drachen ein Ende gemacht hatte, war schon die Dämmerung eingetreten, da wusch er sich schön, nahm den Falken auf die Schulter, die Hunde neben sich, den Dudelsack unter den Arm, spielte darauf, trieb die Schafe zusammen und ging zum Zarenhofe, das Mädchen ihm zur Seite, noch voll Schrecken. Als sie in die Stadt kamen, lief die ganze Stadt zusammen, als wäre ein Wunder geschehen. Der Zar aber, der von dem Berge aus das Heldenstück des Zarensohnes gesehen



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hatte, ließ ihn zu sich rufen und gab ihm seine Tochter; so zogen sie auf der Stelle in die Kirche zur Trauung und feierten dann eine ganze Woche lang Feste. Darauf erzählte der Zarensohn, wer und woher er sei: da freute sich der Zar und die ganze Stadt noch mehr, und als der Zarensohn darauf drang, in seine Heimat zu ziehen, gab der Zar ihm viele Begleiter und stattete ihn für die Reise aus. Als sie nun bei der Mühle ankamen, ließ der Zarensohn alle seine Begleiter haltmachen, ging hinein, schnitt die drei Gerten ab und schlug damit auf die Wurzel; alsbald tat sich die eiserne Tür auf, und sieh da, in dem Keller waren eine Menge Menschen. Da befahl der Zarensohn, sie sollten einer nach dem andern herauskommen und gehen, wohin sie wollten; er aber stellte sich an der Türe auf. Wie so einer nach dem andern heraustrat, da kamen auch seine Brüder, und er umarmte und küßte sie. Als die ganze Menge heraus war, dankten sie ihm, und jeder ging in seine Heimat. Er aber ging mit seinen Brüdern und seiner jungen Frau heim zu seinem Vater, lebte dort und herrschte bis an sein Lebensende.


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