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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Von drei Schwestern wird eine Zarin

Es waren einmal drei Schwestern, die an jedem Morgen, sobald die Sonne aufging, in den Garten gingen und sie fragten: »Sonne, liebe Sonne, du herrliches Ei Gottes, sage uns an, welche von uns ist die schönste?«Jedesmal antwortete darauf die Sonne: »Die ältere ist schön, die zweite ist schön, aber eine schönere als die jüngste wird in aller Welt nicht gefunden.« Das mißfiel den beiden älteren sehr; sie empfanden einen großen Neid auf die jüngste und suchten nach einer Gelegenheit, sie zu verderben. An einem Sonnabend kochten sie Weizenkörner, als ob sie für ihre Mutter die Totenfeier halten wollten, richteten am Abend die Speise zum Totenmahl (aus gekochtem Weizen, Zucker und Nüssen), füllten einen Korb mit Brot und zogen alle zusammen zum Friedhof. Als sie dort angekommen waren, fragte die älteste: »Sind wir denn ganz von Gott verlassen? Wo ist die Hacke? Was nun, womit sollen wir hacken?« und wandte sich dann zur jüngsten: »Bleib du hier, Schwester, wir beide wollen gehen und die Hacke holen, oder, wenn du nicht bleiben magst, geh du selber und hole sie.« Es war um Mitternacht, die jüngste sagte ja, und die beiden anderen gingen nach Hause, als ob sie die Hacke herholen wollten. Das arme Kind, die jüngste, blieb allein auf dem Friedhof zurück und wußte vor aller Angst nicht, wo gehen und wo bleiben; sie wartete und wartete voller Verlangen auf die Rückkehr der Schwestern, aber die kamen nicht. Zuletzt stieg sie auf eine Pappel und dachte sich, mag nun kommen, was da will.

Bei Anbruch des nächsten Morgens erschien der Sohn des Zaren und wollte sein Pferd in dem Flusse tränken, der am Friedhof vorbeifloß. Er erstaunte sehr, weil das Pferd nicht trank, sondern nur wieherte und den Kopf in die Höhe streckte. Seine Diener trieben es wieder in den Fluß hinein, weil sie meinten, es begehre klareres Wasser, aber das Pferd ließ sich nicht zum Trinken bewegen. Da nun richtet der Prinz den Kopf in die Höhe, blickt scharf hinauf und sieht: Strahlen wie von der Sonne kommen aus der Spitze der Pappel, und oben steht etwas,



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das einer Frauengestalt ähnelt. Er rief: »He, Jungfrau, was bist du, bist du ein Mädchen oder eine Samovila oder eine Heilige? Dein Gesicht hat meine Augen fast geblendet. Wenn du ein Mädchen bist, so steig herab, und ich will dich zur Zarin machen.« —»Ich bin keine Samovila, großer Zar, auch keine Heilige, sondern nur eine arme Waise ohne Vater und Mutter.« — »Komm herab zu mir und fürchte dich nicht.« —Da stieg das Mädchen herab, der Prinz nahm sie auf sein Pferd, und sie zogen samt den Dienern nach Hause. Als dort der alte Zar das Mädchen sah, war auch er erstaunt über ihre Schönheit und wartete nicht erst auf die Bitte des Sohnes, sondern erteilte ihm mit seinem Segen die Erlaubnis, sie zur Frau zu nehmen. Er schickte seinen Herold aus und ließ alle Bewohner der Hauptstadt, groß und klein, zum Feste laden. Dann wurde Hochzeit gefeiert, und es gab Schmause und Tänze, von denen noch lange erzählt wurde.

Wie aber nahmen die Schwestern der Prinzessin das auf? Als sie hörten, welch glückliches Geschick ihre Schwester erwählt hatte, fraß der Neid nur noch stärker an ihnen und ließ ihnen keine Ruhe. Sie machten sich auf den Weg und wanderten als Bettlerinnen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus. So kamen sie auch ans Schloß des Zaren und stellten sich da, als bäten sie um Gottes willen um eine Gabe. Die Prinzessin, ihre Schwester, saß um die Zeit gerade am Fenster, sah sie am Tore stehen und erkannte sie auf der Stelle. Sie taten ihr sehr leid, als sie sie in solchem Zustande sah, und sie schickte eine Dienerin und ließ sie zu sich heraufrufen. Und die Prinzessin fragte sie nach dem und jenem, endlich aber tat sie sich ihnen kund und lud sie ein, bei ihr zu bleiben. Die beiden blieben nun da und benahmen sich so liebevoll, als ob sie ihre Schwester wirklich liebhätten. Eines Tages im Winter traten alle drei Schwestern zusammen hinaus auf den Altan und setzten sich dort in die Sonne. Da sprachen die beiden älteren zu der Prinzessin: »Komm, wenn du magst, wollen wir dich lausen.« Sie war ganz vertrauensvoll und legte ihren Kopf in den Schoß der einen, aber die teuflischen Schwestern hatten gar nicht die Absicht, sie zu lausen, sondern als die Prinzessin so dalag, stachen sie ihr eine Nadel ins rechte Ohr, und sogleich wurde sie zu einem Vogel und flog davon. Darauf zogen die beiden Schwestern die Kleider der Prinzessin an und benahmen sich abwechselnd eine nach der andern, als wären sie die Prinzessin. Der Prinz verwunderte sich, wie es zugeht, daß seine Frau anders ist, machte sich aber keine großen Gedanken darüber, wie es zugehe.



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Der Vogel, in den die Prinzessin verwandelt war, hatte sich nicht vom Hause entfernt, sondern kam ständig bei Nacht in den Garten, setzte sich auf einen Baum und rief: »Gärtner, Gärtner, schläft der Prinz?« — »Er schläft.« —»Schlafen meine bösen Schwestern?« — »Sie schlafen.« —»Schläft mein Söhnchen?« —»Es schläft.« —»Möge der Baum, auf dem ich sitze, sich verzehren, wie ich mich verzehre vor Sehnsucht nach meinem Söhnchen.« —Und sogleich vertrocknete der Baum, als sei er verbrannt. Genauso vertrockneten noch weiter des Nachts die schönsten Bäume im Garten des Zaren. Da nun der Gärtner einsah, daß es ihm selbst nicht gelingen könne, den Vogel zu fangen, meldete er es dem Prinzen. Der ging am Abend in der Dunkelheit hin und versteckte sich hinter einem Baum. Um Mitternacht kam auch wirklich der Vogel, setzte sich auf einen Baum und fing wieder zu rufen an: »Gärtner, Gärtner, schläft der Prinz?« — »Er schläft.« — »Schlafen meine bösen Schwestern?« —»Sie schlafen.« —»Schläft auch mein Söhnchen?« — »Es schläft.« —Aber kaum hatte der Vogel angefangen: »Möge der Baum verdorren«, da ergriff ihn der Prinz und brachte ihn zu sich ins Zimmer, und als er ihn bei Licht betrachtete, um zu sehen, was für ein Vogel das wäre, bemerkte er, wie eine Nadel in dessen Ohr flimmerte, zog sie heraus, und zu seiner großen Verwunderung stand auf einmal statt des Vogels die Prinzessin vor ihm. Da umarmte er sie mit Tränen in den Augen und fragte sie, warum sie das getan habe. Sie aber konnte vor Schluchzen nicht sprechen und antwortete nur: »Meine Schwestern!« Alsbald befahl der Prinz seinen Dienern, die Schwestern je an zwei Pferde zu binden, und die Pferde mit der Peitsche auseinanderzutreiben. Das geschah, und die Schwestern der Prinzessin wurden so in zwei Stücke gerissen. Prinz und Prinzessin aber lebten fortan ohne jeglichen Schaden und Gefahr.


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