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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«, dann konnten vor gut 150 Jahren die Zeitgenossen Goethes noch geruhsam ihre Zeitung lesen; und auch zur Zeit der berüchtigten Balkankriege im Anfang unseres Jahrhunderts haben unsere Großväter darüber wohl lebhaft diskutiert und mit stockendem Atem den Schauergeschichten montenegrinischer Herrscherintrigen gelauscht, bis schließlich im Sommer 1914 dröhnend der Einbruch der k. u. k. Truppen der österreichisch-ungarischen Armee in Serbien zum Beginn des ersten Weltkriegs führte und der berüchtigte Balkan seinen Einzug in die moderne Geschichte vollzog. Neben dem vormaligen Serbien, das mit dem Ende des zweiten Weltkriegs sich unter der Herrschaft Titos zum heutigen Jugoslawien erweitert hat, sind seither auch Bulgarien, Rumänien und Albanien unter russisch-sowjetische Beeinflussung geraten. Vom alten »mazedonischen«Reich ist damals staatspolitisch lediglich und nur höchst kurzfristig einmal gesprochen worden, bevor sich das von den Deutschen anfangs unterjochte Bulgarien auf die Seite der Alliierten stellte.

Das von alten Bäuerinnen, Bauern und Hirten dort heute noch einzeln und vor lauschenden Volksgruppen auf dem Lande, in den Häfen und Städten erzählte Märchengut ist volks- und stammesmäßig nur höchst beschwerlich voneinander zu trennen. Uralte hellenische Stoffe mischen sich in farbiger Fülle mit orientalischen, mazedonischen und türkischen Überbleibseln. Der Balkan ist eine anziehend schöne Landschaft, besitzt hohe Berge und sehr fruchtbare Täler. Klare Flüsse von grüner und tief dunkelblauer Färbung und fischreiche Seen zeichnen ihn aus. Das Klima ist durchweg warm, und neuerdings erschließt sich die Gegend auch dem modernen Touristenverkehr. Mais und Tabak gedeihen reichlich. Auf Bergen und Hügeln werden Schafe gezüchtet —trotzdem lebt das Volk ärmlich und bescheiden. Heimlich und hintergründig künden die Märchen des Balkans noch heute von den Sehnsüchten,



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mit denen jahrhundertelang die Menschen dort sich über alles Elend zu trösten versuchten, das immer wieder durch wechselnde Eroberer und Eindringlinge ihr Glück getrübt und zerstört hat. Doch auch Humor und List sind dabei großgeworden. Ohne deren Hilfe können auf die Dauer Völker nicht gedeihen. Auch zeigen die hier heimischen Märchen von der Türkenzeit her mancherlei islamische Züge. Oft sind auch italienische und von Norden und Westen her österreichische und deutsche Einflüsse von ungarisch-madjarischen nicht zu trennen.

Zum besseren Verständnis der folgenden Texte sei angemerkt, daß die »Lamia«in den slawischen und albanischen Märchen aus dem Griechischen stammt. Bulgarischem Volksglauben zufolge entsteht sie aus einem abgehauenen Schlangenkopf, der sich in einen Ochsen- oder Büffelhorn verkrochen hat. Nach vierzig Tagen sind Kopf und Horn zusammengewachsen, und die Lamia ist fertig. Sie hat einen Hundekopf mit großen spitzen Zähnen, vier Füße mit scharfen Krallen, einen Schwanz, an dessen Ende das angewachsene Horn sitzt. Ihr Körper ist mit großen, roten, fischartigen Schuppen bedeckt. »Para«ist eine kleine Kupfermünze von geringem Wert. »Somavila« ist eine in Bulgarien übliche Bezeichnung nymphenartiger Wesen; bei den Serben nennt man sie Vila, und vielerorts werden sie als schöne Frauen vorgestellt, die in Wäldern und Bergen, vornehmlich an Seen, hausen, während die Nachtigall Gisar von türkischen Bräuchen herrührt. (Sie wird auch, ans Persische anknüpfend, Bülbül genannt.) Die gelegentlich vorkommende »Kutschedra«entspricht als albanischer Ausdruck der griechischen Lamia, ist also ein menschenfressender Dämon.

Im zweiten Teil des Bandes bringen wir in fabelfreudiger Auslese Märchen von Mittelmeerinseln, wobei wir uns aus Raumgründen auf solche von griechischen Inseln und Malta beschränken. Das Märchengut der großen italienischen Inseln Sizilien und Sardinien wurde in Band 7 — Märchen aus Italien, Spanien und Portugal -, das von Korsika in Band 2 —Märchen aus Frankreich und den Niederlanden -einbezogen.

Acht Balkanmärchen sind dem Band »Mazedonische Märchen« aus dem Verlag Der Greif, Wiesbaden, entnommen; sieben Märchen von Zypern und anderen griechischen Inseln sowie vier von Malta stammende



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wurden den »Inselmärchen des Mittelmeeres«entlehnt, denen der Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, in seiner stattlichen, von Prof. Friedrich von der Leyen besorgten Reihe »Märchen der Weltliteratur« einen eigenen Band widmete. Den genannten Verlagen danken wir für die freundlichst gestattete Abdruckgenehmigung.

Die bereits innerhalb unserer Gesamteinführung »Von den europäischen Volksmärchen«erwähnte »Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker« erteilte uns dankenswerterweise die Erlaubnis, aus dem zweiten Band der von ihr veröffentlichten Sammlung bisher unerschlossenen Märchengutes das vortreffliche Märchen vom »Schicksal von Jannáki«aufzunehmen, das Marianne Klaar auf der Insel Apàno-Nissi gehört und aufgezeichnet hat. Es wurde ihr von einem gewissen Jànnis Skobelitís erzählt, über den es heißt: »Der Mann ist etwa 65 Jahre alt, kann lesen und mit orthographischen Fehlern schreiben. Doch schreibt er nur selten Briefe. Sein Leben lang war er Kapitän auf einem eigenen Kutter, als Beförderer von Waren und Personen; außerdem besitzt er Weinberge, Felder, Schafe und kleine Häuser, die er klug verwaltet. Er ist verhältnismäßig wohlhabend, aber er hat viele Kinder, so daß auch seine Töchter - wie es bei den meisten Familien der Insel der Fall ist -Dienstmädchen in Athen sein müssen, doch sorgt er für sie aus der Ferne. Seine Märchen erzählt er wunderbar lebendig.«

K.R.


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