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Das bunte Heidi-Buch


Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen

Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft einen Brief geschrieben und mitgeteilt, daß sie komme. Diesen Brief brachte am anderen Tag Peter in der Frühe mit, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe, während die Kinder sie streichelten. Behaglich stand der Öhi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glänzenden Geißen nieder.

Jetzt kam Peter heran. Als er die Gruppe sah, näherte er sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, als ob ihn etwas erschreckt hätte. Nun machte er eine Wendung und lief davon, den Berg hinauf.

"Großvater", sagte Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, "warum tut Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn er eine Rute hinter sich spürt."

"Vielleicht merkt Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient", antwortete der Großvater.

Nur die erste Halde hinauf lief Peter so davon. Als man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich machte er einen Sprung und blickte so erschreckt hinter sich, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch, aus jeder Hecke glaubte Peter jetzt den Polizeidiener aus Frankfurt auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung dauerte, desto schreckhafter wurde Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. —



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Heidi räumte indessen die Hütte auf, denn die Großmama sollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. So vergingen den Kindern die frühen Morgenstunden, und bald konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen. Dann kamen sie von unten herauf, geradeso, wie Heidi es erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam der Schimmel mit der Großmama darauf, und zuletzt ging der Träger mit dem hohen Reif. Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht, und die Großmama erblickte die Kinder.

"Was ist denn das? Was seh' ich, Klärchen? Du sitzt nicht in deinem Sessel! Wie ist das möglich?" rief sie erschrocken aus und stieg nun eilig vom Pferd herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war, schlug sie die Hände zusammen und rief in höchster Aufregung:



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"Klärchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja kugelrunde, rote Wangen!" Jetzt wollte die Großmama auf Klara losstürzen. Aber schnell war Heidi von der Bank geglitten. Klara stützte sich auf seine Schultern, und so gingen die Kinder und machten ganz gelassen eir m kleinen Spaziergang.

Aufrecht und sicher ging Klara neben Heidi her. Nun kamen sie wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern. Die Großmama stürzte ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte sie ihr Klärchen, dann Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Großmutter gar keine Worte.

Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und mit behaglichem Lächeln zu den dreien herüberschaute. Jetzt nahm die Großmama Klaras Arm in den ihren und wanderte mit ihr der Bank zu. Hier ließ sie Klara los und ergriff den Alten bei den Händen.

"Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es ist Ihr Werk! Es ist Ihre Pflege -"

"Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft", fiel der Öhi lächelnd ein.

"Ja, und Schwänlis gute Milch gewiß auch!" rief nun Klara. "Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch trinken kann und wie gut sie ist!"

"Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen", sagte jetzt die Großmama lachend. "Nein, dich kennt man nicht mehr. Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle an meinen Sohn in Paris telegrafiert werden, er muß sofort kommen. Ich sage ihm nicht, warum. Das ist die größte Freude seines Lebens! Mein lieber Öhi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?"

"Die sind fort", antwortete er. "Aber wenn's der Frau Großmama so eilig ist, so lassen wir den Geißbub herunterkommen, der hat Zeit."

Der Öhi ging ein wenig zur Seite und pfiff so durchdringend zwischen seinen Fingern, daß es hoch oben von den Felsen zurückschallte. Es dauerte gar nicht lange, da kam Peter heruntergerannt.



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Den Pfiff kannte er gut. Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Alm-Öhi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama inzwischen geschrieben hatte. Der Öhi sagte ihm, er solle das Papier sofort ins Dörfli hinuntertragen und auf dem Postamt abgeben.

Endlich konnte man sich ruhig zusammen um den Tisch vor der Hütte setzen und der Großmama erzählen, wie alles zugegangen war. Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön ausgedachte Überraschung so gut gelungen war.



***
Herr Sesemann hatte mittlerweile in Paris seine Geschäfte beendet. Er hatte auch vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an seine Mutter zu schreiben, setzte er sich auf die Bahn und fuhr nach Basel. Dort brach er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder auf und kam einige Stunden nach der Abfahrt seiner Mutter in Bad Ragaz an.

Die Nachricht, daß sie heute die Reise zur Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und fuhr nach Mayenfeld hinüber. Als er hörte, daß er auch noch bis zum Dörfli hinauffahren könne, tat er dies. Der anschließende Fußweg die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß er auf halbem Weg auf die Wohnung des Geißenpeters stoßen müßte, denn er hatte oft die Beschreibung dieses Weges gehört.

Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen. Es war Peter mit seinem Telegramm in der Hand. Er lief geradeaus, steil herunter, nicht auf dem Fußweg, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann. Zögernd und scheu kam Peter näher.

"Na, Junge, frisch heran!" ermunterte ihn Herr Sesemann. "Sag mir, führt dieser Weg zu der Hütte, wo der alte Mann mit dem Kind Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt sind?"

Ein Ton des Schreckens war die Antwort, und so schnell schoß Peter davon, daß er kopfüber die steile Halde hinab-



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schoß und in Purzelbäumen fortrollte, weiter, immer weiter, ganz ähnlich wie der Rollstuhl, nur daß Peter glücklicherweise nicht in Stücke ging. Nur das Telegramm wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.

"Ein merkwürdig schüchterner Bergbewohner", sagte Herr Sesemann vor sich hin, denn er dachte, die Erscheinung eines Fremden habe diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn hervorgerufen.

Aber der Sturz war in diesem Augenblick nicht das Schrecklichste. Viel schrecklicher waren die Angst und das Entsetzen, die Peter erfüllten, weil er wußte, daß der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich gekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, daß es der Fremde war, der nach den Frankfurtern beim Alm-Öhi gefragt hatte. Jetzt, am letzten Abhang oberhalb vom Dörfli, warf es Peter an einen Busch hin, da konnte er sich endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm los war.

"Gut so, wieder einer!" sagte eine Stimme dicht neben Peter. "Und wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er wie ein schlecht vernähter Kartoffelsack herunterkommt?"

Es war der Bäcker, der so spottete. Da er sich außerhalb seiner heißen Backstube ein wenig erfrischen wollte, hatte er zugesehen, wie Peter von oben gekommen war.

Peter schnellte auf seine Füße, von neuem Schrecken gepackt. Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Stoß bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief Peter den Berg wieder hinauf. Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett gekrochen, da fühlte er sich am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der 0M hatte ihm eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein sei.

Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Weg war. Er stieg mit neuem Mut weiter, und endlich, nach

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,, I langer, mühevoller Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte, und darüber wogten die dunklen Wipfel der alten Tannen.

Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte er sein Kind überraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft vor der Hütte entdeckt worden, und für den Vater wurde etwas vorbereitet, was er nicht ahnte.

Als er die letzten Schritte zur Hütte getan hatte, kamen ihm von der Hütte her zwei Gestalten entgegen: ein großes Mädchen mit heli blonden Haaren und einem rosigen Gesicht, das sich auf das kleinere Heidi stürzte. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die Herankommenden an. Auf einmal stürzten ihm die Tränen aus den Augen.

"Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?" rief ihm jetzt Klara mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. "Bin ich denn so verändert?"



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Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in seine Arme. "Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?"

Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen. "Nun, mein lieber Sohn, was sagst du dazu? Die Überraschung, die du uns antust, ist recht schön, aber die, die man dir bereitet hat, ist wohl noch schöner!"

Und die Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren Sohn. "Aber jetzt, mein Lieber", sagte sie dann, "kommst du mit mir dort hinüber, unseren Öhi zu begrüßen, der ist unser größter Wohltäter."

"Gewiß, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muß ich noch begrüßen", sagte Herr Sesemann und schüttelte Heidis Hand. "Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man braucht nicht zu fragen, kein Alpenröschen kann schöner blühen. Das ist mir eine große Freude!"

Die Großmama führte ihren Sohn zum Alm-Öhi hinüber. Während sich nun die beiden Männer sehr herzlich die Hände schüttelten und Herr Sesemann seinen tiefen Dank auszusprechen begann - und sein Erstaunen darüber, wie dieses Wunder hatte geschehen können -, wandte sich die Großmama ein wenig ab und ging zu der anderen Seite hinüber, denn das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen schauen.

Da sah sie schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen hatten, stand ein großer Busch der wundervollen dunkelblauen Enziane, so frisch und glänzend, als wären sie gerade da herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände vor Entzücken zusammen.

"Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!" rief sie ein ums andere Mal aus. "Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das zur Freude bereitet? Es ist einfach wundervoll!"

"Nein, nein, gewiß nicht", sagte Heidi; "aber ich weiß schon, wer's gemacht hat."



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Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannen. Das kam vom Peter her, der inzwischen wieder oben angelangt war. Als er gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen großen Bogen gemacht und wollte nun heimlich hinter den Tannen hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben.

"Komm, mein Junge, komm heraus, frisch und ohne Scheu!" rief die Großmama laut.

Starr vor Schreck stand Peter still. Er hatte nach allem Erlebten keine Widerstandskraft mehr, er fühlte nur noch: Jetzt ist's aus!

"Nur frisch heran", ermunterte die Großmama. "So, nun sag mir einmal, Junge, hast du das gemacht?"

Peter hob seine Augen nicht auf und sah auch nicht, wohin der Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der Ecke stand und dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren. Und neben dem Öhi stand der vermeintliche Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, stieß der Peter ein "Ja" hervor.

"Nun", sagte die Großmama, "was ist denn Schreckliches dabei?"

"Daß er - daß er - daß er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann", brachte Peter mühsam hervor. Die Großmama ging zur Hüttenecke hinüber.

"Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen Buben?"fragte sie teilnehmend.

"Gar nicht, gar nicht", versicherte der Öhi. "Der Bub ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe."

Das konnte die Großmama nun gar nicht glauben, denn sie meinte, so boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus,



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und er hätte doch keinen Grund gehabt, den Rollstuhl zu zerstören. Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachts gewesen, der in ihm gleich nach der Tat aufgestiegen war.

"Nein, mein lieber Öhi, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man muß gerecht sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, und er sitzt Tag für Tag allein da und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man gerecht sein. Der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm."

Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immer bebte und schlotterte. Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich: "So, nun komm her, mein Junge. Ich habe dir etwas zu sagen. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, das war etwas Böses, das hast du wohl gewußt. Und daß du eine Strafe verdienst, das wußtest du auch. Aber siehst du: Wer etwas Böses tut und denkt, der verrechnet sich immer. Der liebe Gott sieht und hört ja doch alles, und sobald er merkt, daß ein Mensch seine bösen Taten verheimlichen will, so weckt er schnell in dem Menschen das Wächterchen auf. Das ruft ihm immer quälend zu: ,Jetzt kommt alles 'raus! Jetzt holen sie dich zur Strafe!' So muß er immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar keine. Hast du nicht auch so etwas erfahren, Peter, eben jetzt?"

Peter nickte sehr zerknirscht, denn gerade so war es ihm ergangen.

"Und noch auf eine andere Art hast du dich verrechnet", fuhr die Großmama fort. "Sieh, wie das Böse, das du tatest, zum Besten für die ausfiel, der du es zufügen wolltest! Weil Klara keinen Rollstuhl mehr hatte, so strengte sie sich ganz besonders an, zu gehen. So lernte sie's und lernt es nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie nachher jeden Tag zur Weide gehen, viel öfter also, als sie in ihrem Stuhl hinaufgekommen wäre.



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Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe Gott das Böse, was einer machen wollte, schnell in seine Hand nehmen und für den andern etwas Gutes daraus machen. So, nun ist's gut, die Sache ist erledigt", schloß die Großmama. "Nun sollst du aber auch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So sag mir nur, mein Junge, was möchtest du am liebsten haben?"

Jetzt hob Peter seinen Kopf auf und starrte die Großmama mit erstaunten Augen an. Er empfand eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast zusammengedrückt hatte. Doch nun hatte er auch begriffen, daß es besser ist, wenn man gleich ein Unrecht eingesteht, und auf einmal sagte er: "Und das Papier hab' ich auch verloren."

Die Großmama mußte sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: "So, so, es ist recht, daß du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist, dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hättest du gern?"

Nun konnte sich Peter wünschen, was er nur wollte. Es wurde ihm fast schwindelig. Der große Jahrmarkt von Mayenfeld mit all den schönen Sachen, Sachen, die er oft stundenlang angestaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, flimmerte vor seinen Augen. Peters Besitztum hatte noch nie einen Fünfer überstiegen, und alle die lockenden Gegenstände kosteten immer das Doppelte. Da waren die schönen roten Pfeifen, die er so gut für seine Geißen brauchen konnte. Da waren die runden Messer, Krötenstecher genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschäfte machte.

Tiefsinnig stand Peter da. Er überlegte, welches von beiden das Beste wäre, und konnte sich nicht entscheiden. Aber dann kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sieh's noch bis zum nächsten Jahrmarkt überlegen.

"Einen Zehner", antwortete Peter entschlossen.

Die Großmama lachte ein wenig. "Das ist nicht übertrieben. So komm her!" Sie zog ihren Beutel und nahm einen großen Taler heraus. Darauf legte sie noch zwei Zehnerstückchen.



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"So, wir wollen eine gerade Rechnung machen", fuhr sie fort. "Ich will es dir erklären. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, wie es Wochen im Jahr sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr hindurch."

"Mein Leben lang?"fragte Peter harmlos. Jetzt mußte die Großmama so laut lachen, daß die Herren ihr Gespräch unterbrachen, um zu hören, was da vorgehe.

"Das sollst du haben, Junge; das gibt einen Satz in meinem Testament - hörst du, mein Sohn? —, und nachher geht es in das deine über. Also: Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, solange er lebt!"

Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herüber. Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es auch wirklich wahr sei. Dann bedankte er sich und rannte in ganz ungewöhnlichen Sprüngen davon. Diesmal blieb er aber doch auf den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schreck, sondern eine übergroße Freude davon.

Als später die Gesellschaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl beendet hatte und noch im Gespräch zusammensaß, nahm Klara ihren Vater bei der Hand und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an ihr gekannt hatte:

"0 Papa, wenn du nur wüßtest, was der Großvater alles für mich getan hat! Ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas schenken könnte, was ihm so recht Freude machen würde."

"Das ist auch mein größter Wunsch, liebes Kind", sagte der Vater. "Ich denke schon immer darüber nach, wie wir unserem Wohltäter unseren Dank auch nur einigermaßen zeigen könnten."

Herr Sesemann erhob sich und ging zum Öhi hinüber, der neben der Großmama saß und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er stand jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte freundschaftlich:



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"Mein lieber Freund, lassen Sie uns ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was half mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum gesund und glücklich machen konnte! Nächst unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir wie ihm damit ein neues Leben geschenkt. Nun sagen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen. Vergelten kann ich nie, was Sie an uns getan haben, aber was ich kann, das stelle ich zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?"

Der •, hatte still zugehört und blickte den glücklichen Vater mit vergnügtem Lächeln an.



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"Herr Sesemann glaubt mir sicher, daß ich meinen Teil an der großen Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe. Meine Mühe ist mir dadurch wohl vergolten", sagte der Öhi in seiner festen Art. "Für das gütige Anerbieten danke ich Herrn Sesemann, ich habe nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden könnte, so hätte ich keine Sorgen mehr."

"Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!" drängte Herr Sesemann.

"Ich bin alt", fuhr der Öhi fort, "und wenn ich gehe, kann ich dem Kind nichts hinterlassen, und Verwandte hat es keine mehr. Nur noch eine einzige Person, und die würde ihren Vorteil aus ihm ziehen. Wenn mir der Herr Sesemann die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinausmuß, um sein Brot in der Fremde zu suchen, dann hätte er mir reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte."

"Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals die Rede sein!" rief Herr Sesemann nun aus. "Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie meine Mutter oder meine Tochter. Das Kind Heidi werden sie ja in ihrem Leben nicht anderen Leuten überlassen! Dafür will ich sorgen, auch über meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses Kind ist nicht für ein Leben in der Fremde geschaffen, das haben wir gemerkt. Aber es hat sich Freunde gemacht. Da ist mein Freund, der Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen und Sie um Ihren Rat bitten wird. Er will sich in dieser Gegend niederlassen, denn in Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl gefühlt wie sonst nirgends mehr. So sehen Sie, Heidi wird fortan zwei Beschützer in seiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch recht lange erhalten bleiben."

"Das gebe der liebe Gott!" fiel hier die Großmama ein, und den Wunsch ihres Sohnes bestätigend, schüttelte sie dem Öhi mit großer Herzlichkeit die Hand. Dann faßte sie auf einmal



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Heidi um den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.

"Und du, meine liebe Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfüllt hättest?"

"Ja, freilich, den habe ich schon", antwortete Heidi und blickte sehr erfreut zu der Großmama auf. "Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und der dicken Decke. Dann braucht die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf bergab zu liegen, denn sie kann fast nicht mehr atmen. Unter der Decke hätte sie es warm genug und müßte nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie so furchtbar friert."

"Ach, mein liebes Heidi, was sagst du mir da!" rief die Großmama erregt aus. "Das ist gut, daß du mich daran erinnerst. In der Freude vergißt man leicht, woran man zu allererst hätte denken sollen. Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt telegrafiert. Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken, in zwei Tagen kann es hier sein. Darin wird die Großmutter gewiß gut schlafen!"

Heidi hüpfte fröhlich um die -Großmama herum. Aber auf einmal stand es still und sagte schnell: "Nun muß ich gewiß geschwind zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so lange nicht komme."

"Nein, nein, Heidi, was denkst du!" ermahnte der Großvater. "Wenn man Besuch hat, läuft man nicht auf und davon."

"Mein lieber Öhi, das Kind hat nicht so unrecht", sagte darauf die Großmama. "Die arme Großmutter ist auch seit langem um meinetwillen viel zu kurz gekommen. Nun wollen wir gleich alle zu ihr gehen, und ich denke, ich warte dort auf mein Pferd. Dann setzen wir unseren Weg weiter fort, und unten im Dörfli wird sogleich das Telegramm aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?"

Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine Reise durch die Schweiz zu machen. Er wollte aber erst sehen, ob sein Klärchen imstande sei, eine kurze Strecke



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mitzureisen. Nun wollte er gleich diese schönen Spätsommertage dazu benutzen. Er gedachte diese Nacht im Dörfli zu verbringen und am folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen. Mit ihr wollte er dann zur Großmama nach Bad Ragaz hinunter und von da weiterreisen.

Klara war ein wenig betroffen über die Aussicht einer so plötzlichen Abreise von der Alp. Daneben war aber soviel Freude, und außerdem war gar keine Zeit, sich dem Traurigen hinzugeben. Schon war die Großmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um den Zug anzuführen. Jetzt drehte sie sich plötzlich um.

"Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?" rief sie erschrocken aus. Es war ihr eingefallen, daß der Gang für sie viel zu weit sein würde. Doch schon hatte der Öhi sein Pflege töchterchen in der gewohnten Weise auf den Arm genommen und folgte der Großmama mit festem Schritt nach. Zuletzt kam Herr Sesemann, so ging der Zug weiter den Berg hinunter.

Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu hängen. Sie sah die Gesellschaft kommen und stürzte in die Stube hinein.

"Jetzt grad' geht alles fort, Mutter", berichtete sie. "Es ist ein langer Zug, der Öhi begleitet sie, er trägt die Kranke."

"Ach, muß es denn wirklich sein?" seufzte die Großmutter. "So nehmen sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir noch die Hand geben dürfte! Wenn ich es noch einmal hören könnte."

Jetzt wurde stürmisch die Tür aufgemacht, und Heidi war in wenigen Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte sie.

"Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei Kissen und auch die dicke Decke! In zwei Tagen ist es da, hat die Großmama gesagt."

Heidi hatte seinen Bericht gar nicht schnell genug herausbringen können, denn es konnte die große Freude der Großmutter fast nicht abwarten. Diese lächelte, aber ein wenig traurig



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sagte sie: "Ach, was muß das für eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen, daß sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben."

"Was, was? Wer sagt denn der Großmutter so etwas?"fragte hier eine freundliche Stimme. Die Hand der Alten wurde gefaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten und hatte alles gehört. "Nein, nein, davon ist keine Rede! Heidi bleibt bei der Großmutter und macht ihr Freude. Wir wollen das Kind auch wiedersehen, aber wir kommen dann zu ihm. Jedes Jahr werden wir zur Alm hinaufkommen."

Jetzt kam ein echter Freuden schein auf das Gesicht der Großmutter, und mit wortlosem Dank drückte sie die Hand der guten Frau Sesemann.

"Gelt, Großmutter", sagte Heidi, sich an sie sehmiegend, "jetzt ist es so gekommen, wie ich es dir zuletzt vorgelesen habe? Gelt, das Bett aus Frankfurt ist gewiß heilsam?"

"Ach ja, Heidi, und noch so vieles, vieles Gute, was der liebe Gott an mir tut!" sagte die Großmutter voll tiefer Rührung. "Wie ist es nur möglich, daß es so gute Menschen gibt, die sich so um eine arme Alte kümmern!" —---- — —----

"Meine gute Großmutter", fiel hier Frau Sesemann ein, "vor unserem Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig und haben wir es alle gleich nötig, daß der uns nicht vergißt. Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr zurück zur Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf. Die wird nie mehr vergessen!"

Dann zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talwärts, während der Öhi Klara noch einmal nach Hause trug und Heidi neben ihnen herhüpfte. Es war so froh über die Aussicht der Großmutter, daß es bei jedem Schritt einen Sprung machen mußte.



***
Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der scheidenden Klara, als sie von der schönen Alm fortmußte, wo es ihr so gut gegangen war. Aber Heidi tröstete sie:



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"Es ist ja bald wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und dann ist's noch viel schöner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide und zu den Blumen hinauf."

Herr Sesemann war wie vereinbart gekommen, sein Töchterchen abzuholen. Er stand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu besprechen. Klara wischte nun ihre Tränen ab, Heidis Worte hatten sie ein wenig getröstet.

Herr Sesemann winkte den Kindern, denn er wollte abreisen. Diesmal war das weiße Pferd der Großmama für Klara gekommen, und jetzt konnte sie herunterreiten und brauchte keinen Tragsessel mehr. Heidi stellte sich auf den äußeren Rand des Abhangs und winkte Klara nach, bis Roß und Reiterin verschwunden waren.



***
Das Bett ist angekommen, und die Großmutter schläft jetzt jede Nacht so gut, daß sie dadurch gewiß wieder zu Kräften kommt.

Den harten Winter auf der Alp hatte die Großmama auch nicht vergessen. Sie hatte einen großen Warenballen zur Geißenpeter-Hütte gesandt. Darin war so viel warmes Zeug verpackt, daß die Großmutter sich um und um damit einhüllen kann und gewiß nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke sitzen muß.

Im Dörfli ist ein großer Bau im Gange. Der Doktor ist angelangt und hat zunächst sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines Freundes hin hat der Doktor das alte Gebäude angekauft, das der Öhi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte. Es war ja schon einmal ein großer Herrensitz gewesen, was man immer noch an der hohen Stube mit dem schönen Ofen und dem kunstreichen Getäfel sehen konnte. Diesen Teil des Hauses läßt der Doktor als seine Wohnung ausbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Öhi und das Heidi hergestellt, denn der Doktor kennt den Alten als einen unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muß. Ganz hinten



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wird ein gemauerter, warmer Geißenstall eingerichtet, da werden Schwänli und Bärli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen.

Der Doktor und der Alm-Öhi werden täglich bessere Freunde, und wenn sie zusammen auf dem Gemäuer herumsteigen, um den Fortgang des Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf Heidi. Beiden ist die Hauptfreude an dem Haus, daß sie mit ihrem fröhlichen Kind hier einziehen werden.

"Mein lieber Freund", sagte kürzlich der Doktor, als er mit dem Öhi oben auf der Mauer stand, "Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kind mit Ihnen, als wäre ich der nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört. Ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es mich in meinen alten



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Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist. Heidi soll in alle Kinderrechte bei mir eintreten. So können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen müssen, Sie und ich."

Der Öhi drückte dem Doktor lange die Hand; er sagte kein Wort, aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und große Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten.



***
Inzwischen saßen Heidi und Peter bei der Großmutter. Heidi hatte so viel mit Erzählen zu tun und Peter mit Zuhören, daß sie alle beide vor Eifer kaum zu Atem kommen konnten und immer näher auf die glückliche Großmutter eindrangen.

Wieviel war ihr auch zu berichten von alledem, was sich den ganzen Sommer durch ereignet hatte, denn man war ja so wenig während dieser Zeit zusammengekommen.

Und von den dreien sah immer eins glücklicher als das andere aus über das neue Zusammensein und über all die wunderbaren Ereignisse. Doch jetzt war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am glücklichsten anzusehen. Mit Heidis Hilfe war nun zum erstenmal klar und verständlich die Geschichte des unaufhörlichen Zehners herausgekommen. Zuletzt aber sagte die Großmutter:

"Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als könnte ich nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel für alles Dank sagen, was er an uns getan hat."


Copyright: arpa, 2015.

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