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Das bunte Heidi-Buch


Wie es auf der Alm weitergeht

Eben war die Sonne hinter den Felsen heraufgestiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal hinab. Der Alm-Öhi hatte, wie er es jeden Morgen tat, still und andächtig zugeschaut, wie sich rings auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel lichteten und der neue Tag erwachte.

Jetzt trat der Öhi in seine Hütte zurück und stieg leise die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute mit höchster Verwunderung in die hellen Sonnenstrahlen, die durch das runde Loch hineindrangen und auf ihrem Bett tanzten. Sie wußte gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte sie das schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die freundliche Stimme des Großvaters: "Gut geschlafen? Nicht müde?"

Klara versicherte, sie sei nicht müde, und einmal eingeschlafen, sei sie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater, und nun fing er gleich an und versorgte Klara so gut und verständnisvoll, als wäre es sein Beruf, kranke Kinder zu pflegen und es ihnen bequem zu machen.

Heidi hatte seine Augen jetzt aufgemacht und sah auf einmal voller Erstaunen, wie der Großvater die schon fertig angezogene Klara auf den Arm nahm und forttrug. Blitzschnell zog es sich auch an, dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch Heidi aus der Tür.

Der frische Morgenwind wehte um die Kinder, und ein würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber. Klara zog tiefe Züge ein und lehnte sich mit einem Wohlgefühl in ihren Stuhl zurück, wie sie es noch nie empfunden hatte.



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"0 Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte", sagte sie.

"Jetzt siehst du, daß es so ist, wie ich dir gesagt habe", entgegnete Heidi erfreut, "daß es am schönsten auf der ganzen Welt beim Großvater auf der Alm ist." Eben trat dieser aus dem Stall heraus zu den Kindern. Er brachte zwei Schüsselchen voll schäumender schneeweißer Milch und reichte eins Klara, das andere Heidi.

"Das wird dem Töchterchen wohltun", sagte er, Klara zunickend; "sie ist vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!" Klara hatte noch nie Milch von einer Geiß getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit ein wenig daran riechen müssen. Als sie nun aber sah, mit welcher Begierde Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzusetzen, da setzte Klara auch an und trank und trank. Und wirklich, die Milch war so süß und kräftig, als wäre Zucker und Zimt darin.

"Morgen nehmen wir zwei", sagte der Großvater, der voller Befriedigung zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.

Jetzt erschien Peter mit seiner Schar, und während Heidi gleich mitten in die Herde hineingedrängt wurde, nahm der Öhi Peter ein wenig auf die Seite. "Jetzt paß auf", sagte der Öhi. "Von heute an läßt du dem Schwänli seinen Willen. Es fühlt selbst, wo die kräftigsten Kräutlein sind. Wenn es also hinauf will, so gehst du nach, den anderen tut's ja auch gut."

Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich seinen Marsch an; man konnte aber merken, daß er noch etwas in sich hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geißen folgten und drängten Heidi noch eine Strecke mit vorwärts. Das war Peter eben recht. "Du mußt mit", rief er jetzt drohend in das Geißenrudel hinein.

"Nein, ich kann nicht", rief Heidi zurück. "Ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, solange Klara bei mir ist. Aber einmal gehen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns versprochen."



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Mit diesen Worten hatte sich Heidi aus den Geißen herausgewunden und sprang zu Klara zurück. Jetzt machte Peter mit beiden Fäusten eine drohende Bewegung zum Rollstuhl hinunter und lief eine ganze Strecke weit hinauf, um nicht vom 0M beobachtet zu werden.

Klara und Heidi hatten für heute soviel im Sinn, daß sie gar nicht wußten, wo sie anfangen sollten. Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die Großmama zu schreiben, den hatten sie versprochen, jeden Tag einen.

"Müssen wir zum Schreiben in die Hütte?"fragte Klara, die wohl dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr so wohl, daß sie gar nicht weg mochte. Aber Heidi wußte sich zu helfen. Sofort rannte es in die Hütte hinein und kam mit seinen ganzen Schulsachen und dem niedrigen Dreibein stühlchen wieder zurück. Es legte Lesebuch und Schreibheft Klara auf den Schoß, damit sie darauf schreiben konnte, und setzte sich auf sein Stühlchen an die Bank hin.

Nach jedem Satz, den Klara schrieb, legte sie ihren Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war ja zu schön. Groß und schweigend schauten die hohen Felsenberge herüber; und das weite Tal lag wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das frohe Jauchzen der Hirtenbuben durch die Luft.

Der Morgen ging dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und schon kam der Großvater mit der dampfenden Schüssel daher. So wurde das Mittagsmahl, wie gestern, vor der Hütte aufgebaut und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte Heidi den Stuhl mit Klara unter die Tannen.

Dort saßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger sie im Erzählen wurden, desto lauter pfiffen die Vögel oben in den Zweigen. Die Zeit flog dahin, und schnell wurde es Abend. Schon kam das Geißenheer heruntergestürmt, der Anführer hinterdrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.

"Gute Nacht, Peter!" rief ihm Heidi zu, als es sah, daß er nicht vorhatte, stillzustehen.



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"Gute Nacht, Peter!" rief auch Klara freundlich hinüber. Er gab keinen Gruß zurück und jagte schnaubend die Geißen weiter.

Als Klara jetzt sah, wie der Großvater das saubere Schwänli zum Melken in den Stall führte, da bekam sie auf einmal ein heißes Verlangen nach der würzigen Milch.

"Das ist aber komisch, Heidi", sagte sie. "Solange ich weiß, habe ich nur gegessen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam, schmeckte nach Lebertran. Tausendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie essen müßte! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis der Großvater mit der Milch kommt."

"Ja, ich weiß schon, wie das ist", entgegnete Heidi recht verständnisvoll, denn es dachte an die Tage in Frankfurt, wo ihm alles im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte.

Als der Großvater mit seinen Schüsselchen herankam, faßte Klara ihres schnell, trank es in durstigen Zügen hinunter und war diesmal noch vor Heidi fertig.

"Darf ich noch ein wenig haben?" fragte sie, dem Großvater das Schüsselchen hinhaltend. Er nickte, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schüsselchen einen hohen Deckel mit, der war aber anders, als die Deckel gewöhnlich sind.

Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maiensäß hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die hellgelbe Butter bereitet wird. Von dort hatte er einen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die süße Butter schön dick darüber gestrichen. Die sollten die Kinder nun haben.

Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder zu den schimmernden Sternen schauen wollte, ging es ihr wie Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu.

So schön verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine große Überraschung für die Kinder. Es kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf seiner Trage ein hohes Bett, beide mit einer weißen Decke belegt.



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Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Darin stand, daß diese Betten für Klara und Heidi seien und daß von nun an Heidi immer in einem richtigen Bett schlafen müsse. Im Winter solle das eine Bett ins Dörfli hinuntergeschafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfände, wenn sie wiederkäme.

Der Großvater war hineingegangen und hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinaufzuheben. Dann rückte er sie dicht aneinander, damit von beiden die Aussicht durch das Loch die gleiche bliebe.

Den Großvater mußte eine ganz besondere Teilnahme für seinen Pflegling gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an dem er nicht irgend etwas Neues zu seiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weite Gänge in die Felsen hinauf, immer höher, und jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das schon von weitem duftete. Die Kräuter waren alle für das Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch gäbe. -

So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater morgens, wenn er sie hinuntertrug, um sie in ihren Sessel zu setzen, jedesmal gesagt: "Will das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?"

Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: "Oh, es tut zu weh!" und hatte sich fest an ihn geklammert. Er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger probieren.

Einen so schönen Sommer hatte es seit Jahren nicht auf der Alp gegeben. Jeden Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin. Am Abend aber warf sie ihr Licht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber.

Davon erzählte Heidi seiner Freundin Klara immer wieder. Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte Heidi aufs neue von



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den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzählt. Dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, daß es plötzlich aufsprang und zum Großvater davonrannte, der im Schuppen auf seinem Schnitzstuhl saß.

"Großvater", rief es ihm schon von weitem zu, "kommst du morgen mit uns auf die Weide? Jetzt ist es so schön dort!"

"Es bleibt dabei", sagte der Großvater zustimmend; "aber dann muß mir das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß heute abend das Stehen noch einmal richtig probieren."

Frohlockend kam Heidi mit seiner Nachricht zu Klara. Es war so voller Jubel, daß es am Abend Peter beim Herunterkommen entgegenrief: "Peter, Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben."

Als Antwort brummte Peter wie ein gereizter Bär und schlug voller Wut nach dem unschuldigen Distelfink.


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