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Das bunte Heidi-Buch


Der Winter im Dörfli

Um die Almhütte lag der Schnee so hoch, daß es aussah, als stünden die Fenster auf dem flachen Boden, auch die Haustür war völlig verschwunden. Wäre der Alm-Öhi noch oben gewesen, so hätte er dasselbe tun müssen, was Peter jetzt täglich mußte, weil es gewöhnlich über Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen mußte der jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und er versank so tief in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen nach allen Seiten stoßen und ausschlagen mußte, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Darauf gab ihm die Mutter den großen Besen aus dem Fenster, und mit dem stieß und scharrte der Peter den Schnee vor sich weg, bis er zur Tür kam.

Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete er nur das Fenster, kroch durch und kam draußen auf dem festen Schneefeld an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und Peter brauchte sich nur daraufzusetzen und abzufahren, denn die ganze Alm war ein großer, ununterbrochener Schlittenweg.

Der Öhi war den Winter über nicht auf der Alm, er hatte Wort gehalten. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeschlossen und war mit Heidi und den Geißen zum Dörfli hinuntergezogen. Dort stand in der Nähe der Kirche ein weitläufiges Gebäude, das halb zerfallen war. Schon als der Öhi mit seinem Jungen Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seitdem hatte es meist leergestanden, denn wer es nicht verstand, dem Verfall von vornherein ein wenig zu begegnen und die Löcher und Lücken gleich zu stopfen und zu flicken, der



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konnte nicht da bleiben. Der Winter droben im Dörfli war lang und kalt, aber der Öhi wußte sich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entschluß gekommen war, den Winter im Dörfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder übernommen und war den Herbst hindurch öfter heruntergekommen, um alles wohnlich herzurichten.

Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Über dieser war noch ein Bogenfenster stehengeblieben, man konnte gut sehen, daß der Raum die Kapelle gewesen war. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein, da waren hier und da noch schöne Steinplatten auf dem Boden, und zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Hier hatte der Öhi einen Bretterverschlag gemacht und den Boden dicht mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle sollten die Geißen wohnen.

Dann ging es durch allerlei Gänge, und dort, wo die schwere eichene Tür noch fest in den Angeln hing, kam man in eine große Stube hinein, die war noch gut. Da waren die vier festen Wände mit dem dunklen Holzgetäfel noch ohne Lücken, und in der einen Ecke stand ein großer Ofen, der fast bis an die Decke reichte. Um den Ofen herum ging eine Bank, so daß man da gleich sitzen und die Bilder anschauen konnte, die auf die weißen Kacheln gemalt waren.

Sobald Heidi mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, setzte sich auf die Bank und betrachtete die Bilder. Aber als es, auf der Bank weitergleitend, bis hinter den Ofen gelangte, erregte etwas Neues seine ganze Aufmerksamkeit. Zwischen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgestellt, das war unverkennbar Heidis Bett, ganz so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Heidi jauchzte auf: "Oh, Großvater, da ist meine Kammer!"

Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen



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Raum hineinführte. Dort hatte der Großvater sein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tür. Heidi machte sie geschwind auf und stand ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art Küche hinein, die war so groß, wie es noch nie eine in seinem Leben gesehen hatte.

Es gefiel Heidi gut in der neuen Behausung, und bereits am anderen Tag, als Peter kam, hatte es in alle Winkel und Ecken so genau hineingeguckt, daß es schon richtig daheim war und Peter überall herumführen konnte.

Heidi schlief herrlich in seinem Ofenwinkel; aber am Morgen dachte es doch immer, es müsse auf der Alp erwachen und gleich die Hüttentür aufmachen, um nach den Tannen zu sehen. So mußte es jeden Morgen zuerst lange hin und her schauen, bis es sich wieder besinnen konnte, wo es war. Aber wenn es dann den Großvater draußen mit Schwänli und Bärli reden hörte und auch die Geißen so laut und lustig meckerten, dann merkte es, daß es doch daheim war.

Am vierten Tag sagte Heidi: "Heute muß ich gewiß zur Großmutter hinauf, sie kann nicht so lange allein sein."

Aber der Großvater war damit nicht einverstanden. "Heute nicht und morgen auch noch nicht", sagte er. "Zur Alm hinauf liegt der Schnee meterhoch, und noch immer schneit es, selbst Peter kann kaum durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, wäre auf der Stelle eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannst du bequem über die Schneedecke hinauf spazieren."

Das Warten machte Heidi zuerst ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt so von Arbeit angefüllt, daß einer immer rasch dahin war und schon ein anderer kam.

Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging Heidi im Dörfli zur Schule und lernte sehr fleißig, was da zu lernen war. Peter aber sah man fast nie in der Schule. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann sagte: "Es scheint mir, der Peter ist wieder nicht da. Die Schule täte ihm doch gut, doch es liegt viel Schnee dort oben, er wird wohl nicht durchkommen."



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Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam Peter meistens durch und machte Heidi seinen Besuch.

Als Peter eines Morgens aus seinem Fenster in den Schnee hinabsprang, schlug er auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und schnell rutschte er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schließlich wieder auf die Füße. Wie er auch stapfte und mit den Absätzen einschlug, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen herausschlagen; die ganze Alm war steinhart gefroren.

Das war dem Peter eben recht. Er wußte, daß das nötig war, damit Heidi wieder einmal heraufkommen könnte. Schleunigst kehrte er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tisch gestellt hatte, steckte sein Stück Brot in die Tasche und sagte eilig: "Ich muß in die Schule."

"Ja, so geh und lern auch brav", sagte die Mutter zustimmend.

Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man des Eisberges vor der Tür wegen eingesperrt -, zog seinen kleinen Schlitten nach sich, setzte sich darauf und schoß den Berg hinunter.

Es ging wie der Blitz, und als er im Dörfli ankam, wo es gleich weiter hinab nach Mayenfeld ging, fuhr Peter weiter. Es kam ihm so vor, als müßte er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er den Lauf auf einmal bremsen sollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann stieg er ab und sah sich um. Die schnelle Abfahrt hatte ihn noch ziemlich weit nach Mayenfeld hinausgejagt. Jetzt fiel ihm ein, daß er jedenfalls zu spät in die Schule käme, da sie schon lange begonnen hatte. So konnte er sich zur Rückkehr Zeit lassen.

Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dörfli wieder an, als Heidi aus der Schule zurückgekehrt war und sich mit dem Großvater an den Mittagstisch setzte. Peter trat herein, und da er diesmal etwas Besonderes mitzuteilen hatte, mußte er es gleich bim Eintreten loswerden.



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"Es ihn", sagte der Peter, mitten in der Stube stehend.

"Wen? Wen, General? Das tönt ziemlich kriegerisch", sagte der Öhi.

"Den Schnee", berichtete Peter.

"Oh! Oh! Jetzt kann ich zur Großmutter hinauf", frohlockte Heidi, das die Ausdrucksweise von Peter gleich verstanden hatte. "Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunter schlittern", setzte es vorwurfsvoll hinzu.

"Bin mit dem Schlitten zu weit gekommen, war zu spät", gab Peter zurück.

"Das nennt man ausweichen", sagte der Öhi, "und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörst du? Wenn du



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noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, wo du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür gehört."

Jetzt verstand Peter den Zusammenhang der Rede und sah ein wenig ängstlich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, was er in solchen Fällen für die Geißen brauchte.

Aber der Öhi sagte nun ermunternd: "Komm an den Tisch jetzt und halt mit, dann geht Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim, dann findest du dein Nachtessen hier."

Heidi rannte an den Schrank und holte den Mantel von Klara hervor; jetzt konnte es, schön warm eingepackt und mit der Kapuze über dem Kopf, seine Fahrt antreten. Es stellte sich nun neben Peter hin, und als dieser sein letztes Stück eingeschoben hatte, sagte es: "Jetzt komm!" Dann machten sie sich auf den Weg. Heidi hatte Peter sehr viel von Schwänli und Bärli zu erzählen, und die beiden kamen oben an, ohne daß Peter ein einziges Wort gesagt hätte.

Drinnen in der Stube saß die Mutter allein beim Flicken; sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt für sie, und dann sei es ihr auch sonst nicht wohl. Heidi rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein.

"Gott Lob und Dank!" sagte die Großmutter gleich, als sie Heidi hereinspringen hörte. Sie hatte schon den ganzen Herbst hindurch eine geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte, wenn Heidi eine Zeitlang nicht kam. Peter hatte von dem Besuch des fremden Herrn berichtet, die Großmutter dachte nicht anders, als daß der Herr gekommen sei, um Heidi wieder mit fortzunehmen.

Heidi sprang zum Bett der Kranken hin und fragte besorgt: "Bist du krank, Großmutter?"

"Nein, nein, Kind", beruhigte die Alte, indem sie Heidi liebevoll streichelte. "Der Frost ist mir nur in die Glieder gefahren."

"Aber Großmutter", fing Heidi wieder an, "bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so soll ein Bett nicht sein."



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"Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl." Die Großmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopf lag, einen besseren Platz zu gewinnen. "Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, daß ich es ein wenig flach gelegen habe."

"Oh, hätte ich nur in Frankfurt Klara gefragt, ob ich nicht meit Bett mitnehmen könne", sagte jetzt Heidi. "Da waren drei große, dicke Kissen aufeinander, daß ich gar nicht schlafen konnte und immer wieder herunterrutschte. Könntest du so schlafen, Großmutter?"

"Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn man so hoch mit dem Kopf liegen kann", sagte die Großmutter, ein wenig mühsam ihren Kopf aufrichtend, um eine höhere Stelle zu finden. "Aber wir wollen jetzt nicht davon reden, ich habe ja dem lieben Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Allein das Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne warme Tuch hier, und daß du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch heute wieder etwas vorlesen?"

Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun las es ein schönes Lied nach dem anderen, und es freute sich selbst, das alles wieder zu hören. Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesicht, das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein freudiges Lächeln.

Nach einer Weile sagte das Kind: "Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muß heim, aber ich bin so froh, daß es dir wieder wohl ist."



***
Am anderen Tag kam Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht. Denn wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten



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Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnügen, dann ging die Schule wieder an. Hatte Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, ging er am Schluß zum Öhi hinüber und besuchte Heidi.

Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat, schoß Heidi gleich auf ihn zu, denn auf ihn hatte es gerade gewartet. "Peter, ich weiß etwas", rief es ihm entgegen. "Jetzt mußt du lesen lernen!"

"Kann nicht", sagte Peter.

"Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr, und ich auch nicht", sagte Heidi sehr entschieden. "Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt, daß es nicht wahr ist, und sie hat zu mir gesagt, ich soll es nicht glauben. Du mußt es jetzt endlich lernen, und dann mußt du alle Tage der Großmutter ein Lied oder zwei vorlesen."

In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein gefunden, das Heidi gut gefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das könnte es gut für den Peter zum Unterricht gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.

Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen. Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann immer wieder und dann noch einmal, denn Heidi wollte die Sache sauber und geläufig haben.

Endlich sagte es: "Du kannst's immer noch nicht, aber ich will ihn dir jetzt einmal hintereinander lesen. Wenn du weißt, wie's heißen muß, kannst du's besser zusammenbuchstabieren." Und Heidi las:

"Geht heut das ABC noch nicht,
kommst morgen du vor's Schulgericht."

"Ich gehe nicht vor das Gericht", sagte Peter mit störrisehem Gesicht.

"So mach, daß du einmal die drei Buchstaben kennst, dann brauchst du ja nicht zu gehen", bewies ihm Heidi.



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Jetzt setzte Peter noch einmal an und wiederholte die drei Buchstaben so lange, bis Heidi sagte: "Jetzt kannst du die drei."

Da es aber nun gemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den Peter ausgeübt hatte, wollte es gleich noch ein wenig für die folgenden Lehrstunden vorarbeiten.

"Warte, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche vorlesen", fuhr es fort, "dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann." Und es begann klar und verständlich zu lesen:

"DEFG muß fließend sein,
sonst kommt ein Unglück hinterdrein.
Vergessen HIK,
das Unglück ist schon da.
Wer am LM noch stottern kann,
zahlt eine Buß' und schämt sich dann.
Es gibt etwas, und wüßtest's du,
du lerntest schnell NOPQ.
Stehst du noch an bei RST,
kommt etwas nach, das tut dir weh."

Hier hielt Heidi inne, denn Peter war so mäuschenstill, daß es einmal sehen mußte, was er mache. Die Drohungen und geheimen Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, daß er kein Glied mehr bewegte und Heidi schreckensvoll anstarrte.

"Du mußt dich nicht fürchten, Peter. Komm jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernst wie heute, so kannst du bestimmt alle Buchstaben, und das andere kommt nicht."

Peter versprach fleißig zu sein, denn die furchtbaren Drohungen hatten ihn zahm und willig gemacht. Er befolgte Heidis Vorschrift pünktlich, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert. Oft saß auch der Großvater in der Stube und hörte den Übungen zu, indem er vergnügt sein Pfeifchen rauchte. Nach der großen Anstrengung wurde Peter dann meistens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was ihn bald für die ausgestandene Angst, die der neue Spruch mit sich gebracht hatte, reichlich entschädigte. So gingen die Wintertage dahin. Peter erschien



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regelmäßig und machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben. Mit den Sprüchen mußte er aber täglich fechten. Man war jetzt beim U angelangt. Als Heidi den Spruch las:

"Wer noch das U in V verdreht,
kommt dahin, wo er nicht gern geht" —

da knurrte Peter: "Ja, wenn ich ginge!" Aber er lernte doch tüchtig zu, so als stünde er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch einer heimlich beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wo er nicht gern hinwollte. Am folgenden Abend las Heidi:

"Ist dir das W noch nicht bekannt,
schau nach dem Rütlein an der Wand."

Da guckte Peter hin und sagte höhnisch: "Hat keins!"

"Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?" fragte Heidi. "Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm."

Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich über sein W und versuchte es zu erfassen.

Am andern Tag hieß es:

"Willst du noch das X vergessen,
kriegst du heute nix zu essen."

Da schaute Peter forschend zum Schrank hinüber, wo das Brot und der Käse lagen, und sagte ärgerlich: "Ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich das X vergessen wollte."

"Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir ja auch gleich noch einen lernen", schlug Heidi vor, "dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben."

Peter war nicht einverstanden. Aber schon las Heidi weiter:

"Machst du noch halt beim Y,
kommst du mit Hohn und Spott davon."

Am Tag darauf kam er schon ein wenig hochmütig bei Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm Heidi gleich den Spruch las:

"Wer zögernd noch bei Z bleibt stehn,
muß zu den Hottentotten gehn!" —

da höhnte Peter: "Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!"



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"Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon", versicherte Heidi. "Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer drüben." Und schon war Heidi aufgesprungen.

"Nichts! Komm zurück! Ich will lernen!" stieß Peter hervor. Nicht nur das Z wurde so oft wiederholt, daß der Buchstabe für alle Zeit in seinem Gedächtnis festsitzen mußte, sondern Heidi ging gleich noch zum Buchstabieren über.

Der Schnee war wieder weich geworden, und darüber schneite es neuerdings einen Tag um den anderen, so daß Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in seiner Arbeit mit Peter, damit er es beim Liederlesen ersetzen könne. So kam eines Abends Peter vom Heidi heim, trat in die Stube und sagte: "Ich kann's!"

"Was kannst du, Peterli?" fragte die Mutter erwartungsvoll; und voller Stolz antwortete Peter: "Das Lesen!"



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"Ist das denn möglich! Hast du's gehört, Großmutter?" rief Brigitte ganz verwundert aus.

"Ich muß jetzt ein Lied vorlesen, Heidi hat's gesagt", berichtete Peter weiter. Die Mutter holte schnell das Buch herunter, und die Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein tröstendes Wort gehört. Peter setzte sich an den Tisch und begann zu lesen. Seine Mutter saß aufhorchend neben ihm. Nach jedem Vers sagte sie mit Bewunderung: "Wer hätte das gedacht!"

Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Vers nach dem anderen, aber sie sagte nichts dazu. Am Tag nach diesem Ereignis war es, daß in der Schule in Peters Klasse eine Leseübung stattfand. Als die Reihe an Peter kommen sollte, sagte der Lehrer:

"Peter, muß man dich wie immer übergehen, oder willst du einmal wieder versuchen, an einer Zeile herumzustottern?"

Peter fing an und las hintereinander drei Zeilen, ohne abzusetzen. Der Lehrer legte sein Buch weg.

"Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?"

"Vom Heidi", antwortete der.

Höchst verwundert schaute der Lehrer zum Heidi, das ganz harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort:

"Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag fortgeblieben. Woher kann denn solch eine Wandlung zum Guten in dich gekommen sein?"

"Vom Öhi", war die Antwort. Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Art der Öhi und Heidi wirkten.


Copyright: arpa, 2015.

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