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Das bunte Heidi-Buch


Ein Gast,, auf der Alm

Das Frührot glühte über den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen. Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es geweckt. Es schoß von seinem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen. Eilig sprang es hinaus. Draußen vor der Tür stand der Großvater und schaute nach allen Seiten in den Himmel, wie er es jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.

"0 wie schön! O wie schön! Guten Morgen, Großvater!" rief Heidi.

"So, sind deine Augen auch schon hell?" gab der Großvater zurück, Heidi die Hand zum Morgengruß hinhaltend. Heidi lief unter die Tannen und hüpfte vor Freude über das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Ästen umher, und bei jedem neuen Windstoß jauchzte es vor Wonne.

Inzwischen war der Großvater zum Stall gegangen und hatte Schwänli und Bärli die Milch abgenommen; dann hatte er beide zur Bergreise schön geputzt und brachte sie nun auf den Platz heraus. Als Heidi seine Freunde erblickte, faßte es beide um den Hals und begrüßte sie zärtlich, daß sie fröhlich meckerten.

Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe von Peter ertönen, und bald kamen die Geißen alle heraufgesprungen, voran der flinke Distelfink. Gleich war Heidi wieder mitten im Rudel, und vor lauter stürmischer Begrüßung wurde es hin- und hergeschoben, und dann schob es selbst ein wenig, denn es wollte zu dem schüchternen Sehneehöppli vordringen.

Peter kam heran und tat einen fürchterlichen Pfiff, der sollte die Geißen auf scheuchen und der Weide zu jagen, denn er wollte Platz bekommen, um Heidi etwas zu sagen.



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"Du kannst wieder einmal mitkommen heute", war seine etwas störrische Anrede.

"Nein, das kann ich nicht, Peter", sagte Heidi. "Jeden Augenblick können sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muß ich daheim sein."

"Das hast du schon oft gesagt", brummte Peter.

"Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen", gab Heidi zurück.

"Sie können ja zum Öhi kommen", versetzte Peter knurrend.

Jetzt tönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Großvaters: "Warum geht's nicht vorwärts mit der Armee? Liegt's am Feldmarschall oder an den Truppen?"

Augenblicklich machte Peter kehrt, schwang seine Rute in der Luft, daß sie sauste und alle Geißen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten.

Seit Heidi wieder daheim beim Großvater war, fiel ihm hier und da etwas ein, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt jeden Morgen mit großer Anstrengung sein Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aus-



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sah. Dann lief es in der Hütte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa herumlag, das kramte es alles in den Schrank hinein. Wenn dann der Großvater wieder hereinkam, blickte er wohlgefällig um sich und sagte etwa:

"Bei mir ist's jetzt immer Sonntag, Heidi ist nicht umsonst in der Fremde gewesen."

Auch heute hatte sich Heidi, als Peter fortgetrabt war und es mit dem Großvater gefrühstückt hatte, gleich an seine Arbeit gemacht, aber es wurde fast nicht fertig. Draußen war es heute morgen so schön, und alle Augenblicke geschah etwas, was das Kind in seiner Tätigkeit aufhielt. Der Großvater hatte inzwischen im Schuppen allerlei zu tun; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als Heidi plötzlich laut aufschrie: "Großvater, Großvater! Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!"

Heidi stürzte seinem alten Freund entgegen. Dieser streckte grüßend die Hand aus. Das Kind rief voller Freude: "Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!"



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"Grüß' Gott, Heidi! Und wofür dankst du denn schon?" fragte der Doktor freundlich.

"Daß ich wieder zum Großvater heim durfte", erklärte das Kind.

Dem Doktor ging's wie Sonnenschein über das Gesicht. Diesen Empfang auf der Alm hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um ihn war. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum noch kennen. Statt dessen leuchtete Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest.

Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Doktor das Kind bei der Hand. "Komm, Heidi", sagte er, "führe mich nun zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist."

Aber Heidi blieb stehen und sah verwundert den Berg hinunter. "Wo sind denn Klara und die Großmama?"

"Ja, nun muß ich dir etwas sagen, was dir so leid tun wird wie mir auch", erwiderte der Doktor. "Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Großmama nicht mit. Aber im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und lang werden, dann kommen sie ganz sicher."

Heidi konnte es zunächst gar nicht fassen, daß nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht sein sollte. Regungslos stand es eine Weile, von dem Unerwarteten verwirrt.

"Oh, es dauert doch gar nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann kommen sie ja bestimmt", tröstete es sich dann.

Hand in Hand mit dem guten Freund stieg es nun zu der Hütte hinauf. Für den Großvater war der Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja soviel von ihm erzählt. Der Alte streckte seinem Gast die Hand entgegen und hieß ihn mit Herzlichkeit willkommen. Dann setzten sich die Männer auf die Bank an der Hütte, auch für Heidi wurde da noch ein Plätzchen gemacht.



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Der Doktor erzählte, daß Herr Sesemann ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, da er sich seit langem nicht mehr recht frisch und rüstig fühle.

Der Großvater riet seinem Gast, nicht bis nach Ragaz zurückzukehren, sondern unten im Dörfli ein Zimmer zu nehmen. So könnte der Doktor jeden Morgen zur Alm heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi. Auch werde er dann gern den Herrn zu allerlei Aussichtspunkten führen, weiter hinauf in die Berge. Dem Doktor sagte der Vorschlag sehr zu.

Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still. Der Alm-Öhi ging in die Hütte hinein und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank stellte.

"So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen", sagte er. "Der Herr muß nun vorliebnehmen; ist unsere Küche auch einfach, so ist das Eßzimmer doch anständig."

"Das meine ich auch", erwiderte der Doktor, indem er auf das sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute. "Die Einladung nehme ich an, hier oben wird es gewiß schmecken."

Heidi lief nun wie ein Wiesel hin und her und brachte herbei, was es im Schrank fand. Daß es den Doktor bewirten durfte, war ihm eine große Freude. Der Großvater bereitete inzwischen das Mahl und trat mit dem dampfenden Milchkrug und dem goldig glänzenden Käsebraten heraus. Dann schnitt er schöne, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte.

"Ja, hierhin muß unsere Klara kommen", sagte der Doktor. "Da wird sie zu neuen Kräften kommen, und wenn sie eine Zeitlang so ißt wie ich heute, so wird sie rund und fest werden wie noch nie in ihrem Leben."

Da kam einer von unten herauf angestiegen, der hatte einen großen Ballen auf dem Rücken. Als er oben bei der Hütte ankam, warf er seine Last auf den Boden.

"Ah, da kommt das, was mit mir von Frankfurt hergereist ist", sagte der Doktor. Er trat an den Ballen und fing an, ihn



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aufzuschnüren. Als die erste schwere Hülle weg war, sagte er: "So, Kind, nun mach du weiter und hol deine Schätze selbst heraus."

Heidi schaute mit großen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Als der Doktor von einer großen Schachtel den Deckel hob und sagte: "Sieh, was die Großmutter zum Kaffee bekommt", da schrie es vor Freude auf: "Oh! Oh! Jetzt kann die Großmutter einmal schönen Kuchen essen!" Es sprang um die Schachtel herum und wollte gleich alles zusammenpacken und zur Großmutter hinunterlaufen.

Aber der Großvater sagte, gegen Abend wollten sie zusammen den Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Endlich fand Heidi auch das Säckchen Tabak und brachte es schnell dem Großvater hinüber; er füllte gleich seine Pfeife damit, und die beiden Männer sprachen nun, auf der Bank sitzend und große Rauchwolken vor sich herblasend, über allerhand Dinge.



***
Als die Sonne bald hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der Gast auf, um den Rückweg zum Dörfli anzutreten und dort Quartier zu nehmen. Der Großvater packte die Kuchenschachtel, die große Wurst und das Tuch unter den Arm, und der Doktor nahm Heidi an die Hand. So wanderten sie den Berg hinunter bis zur Geißenpeter-Hütte. Hier mußte Heidi Abschied nehmen; es sollte drinnen bei der Großmutter warten, bis es vom Großvater wieder abgeholt werde, der seinen Gast zum Dörfli begleiten wollte. Als der Doktor Heidi die Hand zum Abschied bot, fragte es: "Wollen Sie vielleicht morgen gern mit den Geißen auf die Weide hinaufgehen?" Denn das war das Schönste, was es kannte.

"Es bleibt dabei, Heidi", erwiderte er, "wir gehen zusammen."

Die Männer schritten weiter, und Heidi trat bei der Großmutter ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann mußte es wieder hinaus, um die Wurst und 4s große Tuch zu holen.



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"Es ist alles aus Frankfurt, von Klara und der Großmama", berichtete es der erstaunten Großmutter und der verwunderten Brigitte.

"Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich sehr? Sieh nur, wie weich sie sind!" rief Heidi immer wieder, und die Großmutter bestätigte: "Ja, ja, gewiß, Heidi, was sind das auch für gute Leute!" Dann strich sie wieder mit der Hand über das warme Tuch und sagte: "Aber das ist etwas Herrliches für den kalten Winter!"

Jetzt kam Peter hereingestolpert. "Der Alm-Öhi kommt hinter mir drein, das Heidi soll -"

Er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber Heidi hatte schon gemerkt, was kommen sollte, und gab der Großmutter schnell die Hand. Der Alm-Öhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne schnell einzutreten. Doch heute war es für Heidi zu spät geworden. So rief er durch die Tür der Großmutter nur eine "Gute Nacht" zu und nahm das heran springende Heidi bei der Hand.


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