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Das bunte Heidi-Buch


Am Sonntag, wenn's läutet

Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter blieb. Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"

Und nun mußte die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hatten. Sie sagte, sie habe sich daran so gelabt, daß sie meine, sie sei heute viel kräftiger als sonst.

"Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte darauf Heidi in freudigem Eifer. "Ich schreibe Klara einen Brief, und dann schickt sie mir gewiß noch einmal soviel Brötchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen davon im Kasten. Das tut sie gewiß."

"Ach Gott", sagte Brigitte, "das ist eine gute Absicht, aber bedenke, sie werden doch auch hart. Wenn man nur hier und da ein bißchen Geld übrig hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche. Ich kann aber kaum das schwarze Brot bezahlen."

Jetzt schoß ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht. "Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter! Jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle Tage mußt du ein neues Brötchen haben und am Sonntag zwei, und der Peter kann sie vom Dörfli heraufbringen."

Heidi jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein übers andere Mal: "Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig."

Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel Heidi auf einmal das



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alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer Gedanke. "Großmutter, jetzt kann ich auch lesen. Soll ich dir ein Lied aus deinem alten Buch vorlesen?"

Heidi blätterte und las hier und da einen Satz, um ein schönes Lied herauszusuchen.

"Jetzt kommt etwas von der goldenen Sonne, das will ich dir vorlesen, Großmutter." Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger, während es las.

Die Großmutter saß still mit gefalteten Händen da. Ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obwohl ihr die Tränen die Wangen herab liefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi, laß es mich noch einmal hören."

Plötzlich klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne der Großmutter zu versprechen, daß es morgen wiederkäme. Selbst wenn es mit Peter auf die Weide ginge, so käme es doch nachmittags zurück.

Heidi war so erfüllt von seinen Erlebnissen, daß es gleich dem Großvater alles erzählen mußte, was sein Herz erfreute.

"Gelt, Großvater, wenn die Großmutter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, damit ich dem Peter jeden Tag ein Geldstück für ein Brötchen geben kann und am Sonntag für zwei?"

"Aber das Bett, Heidi?" sagte der Großvater. "Ein rechtes Bett wäre für dich gut, und dann bleibt auch noch für manches Brötchen etwas übrig."

Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und behauptete, daß es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe. Es bat so eindringlich und unablässig, daß der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich freut. Du kannst der Großmutter dafür manches Jahr lang Brötchen holen."

Heidi jauchzte auf: "0 juchhe! Nun ist doch alles so schön wie noch nie!"



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Aber auf einmal wurde es ganz ernst und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, worum ich so stark gebetet habe, dann wäre doch alles nicht so geworden. Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama es sagte, und dem lieben Gott immer danken. Und wenn er etwas nicht tut, worum ich bitte, so will ich gleich denken: Es geht gewiß wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt sich gewiß etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen nun auch alle Tage beten, gelt, Großvater, damit der liebe Gott uns auch nicht vergißt."

"Und wenn's einer doch nicht täte?" murmelte der Großvater.

"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergißt ihn dann doch und läßt ihn ganz laufen."

"Das ist wahr, Heidi, woher weißt dn das?"

"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."

Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist, dann ist's so. Zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen."

"0 nein, Großvater, zurück kann man, das weiß ich auch von der Großmama. Dann ist es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch, doch die kennst du noch nicht."

Heidi strebte in seinem Eifer rasch die letzte Steigung hinan - und kaum waren sie oben angelangt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater setzte sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem Arm. Mit einem Satz war es an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen.

Jetzt las Heidi mit großem Mitleid von dem verlorenen Sohn, der reumütig heimkehrt ins Vaterhaus.

"Ist das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?" fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß, während es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und wundern.

"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernst, daß Heidi ganz still wurde.



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Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlaf lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf und stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so daß das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der den Großvater rühren mußte, denn lange, lange stand er da und wandte kein Auge von dem schlafenden Kind. Dann faltete auch er die Hände und betete. Und ein paar große Tränen rollten ihm die Wangen herab.

In der ersten Frühe des Tages stand der Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen sangen die Vögel ihre Morgenlieder.

Der Großvater trat in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!" rief er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röcklein an, wir wollen miteinander in die Kirche!"

Heidi brauchte nicht lange. Das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem mußte es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und schaute ihn an. "Oh, Großvater, so hab' ich dich nie gesehen!" sagte es endlich. "Den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, oh, wie siehst du schön aus in deinem prächtigen Sonntagsrock!"

Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben an zu singen, als der Großvater mit Heidi eintrat und sich ganz hinten auf die letzte Bank niedersetzte. Mitten im Singen flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-Öhi!" Es war, als sei ihnen allen eine große Freude widerfahren.

Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi mit dem Kind an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu. Alle schauten ihm nach und besprachen in großer Aufregung das



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Unerhörte, daß der Alm-Öhi in der Kirche erschienen war. Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so schlimm sein, wie man tut. Man braucht ja nur zu sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand hält."

Der Alm-Öhi war inzwischen an die Tür der Studierstube getreten und hatte angeklopft. Der Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein können, sondern so, als habe er ihn erwartet. Er ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit größter Herzlichkeit.

Der Alm-Öhi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf einen so herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Dann faßte er sich und sagte: "Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, die Worte zu vergessen, die ich zu ihm auf der Alm gesagt habe. Der Herr Pfarrer hat ja in allem recht gehabt, und ich war im Unrecht. Jetzt will ich aber seinem Rat folgen und zum Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen. Die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist zu zart."

Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und sagte mit Rührung: "Nachbar, Sie sind in ddr rechten Kirche gewesen, noch ehe Sie in die meinige herunter kamen. Darüber freue ich mich! Und daß Sie wieder mit uns leben wollen, soll Sie nicht gereuen."

Und der Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf, nahm es bei der Hand und führte es hinaus, als er den Großvater fortbegleitete. Erst draußen vor der Haustür nahm er Abschied, und nun konnten die Herumstehenden sehen, wie der Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch einmal schüttelte, gerade als wäre er sein bester Freund.

Kaum hatte sich dann die Tür hinter dem Pfarrer geschlossen, als die ganze Versammlung dem Alm-Öhi entgegendrängte. Jeder wollte der erste sein, und so viele Hände wurden dem Herankommenden entgegengestreckt, daß er gar nicht wußte,



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welche er zuerst ergreifen sollte. Noch weit die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den meisten begleitet. Als nun die Leute den Berg hinab zurückgingen, blieb der Alte stehen und blickte ihnen lange nach. Auf seinem Gesicht lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. "Großvater, heute wirst du immer schöner", sagte Heidi.

"Meinst du?" Der Großvater lächelte. "Ja, siehst du, Heidi, mir geht's auch heute über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden sein, das tut einem so wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, daß er dich auf die Alm schickte!"

Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter!" rief er. f



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"Du mein Gott, das ist der Öhi!" rief die Großmutter in freudiger Überraschung aus. "Daß ich das noch erlebe! Daß ich dir noch einmal für alles danken kann, was du für uns getan hast, Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"

Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort: "Und eine Bitte hab' ich noch auf dem Herzen, Öhi. Laß das Heidi nicht noch einmal fort, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, du weißt nicht, was mir das Kind ist."

"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte sie der Öhi, "jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so."

Jetzt zog Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schöne Federhütchen, das ihr Heidi geschenkt hatte. "Was aber auch unser Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal daran gedacht, ob ich nicht den Peter auch ein wenig nach Frankfurt schicken soll; was meinst du, Öhi?"

Dem Öhi blitzte es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte Peter nichts schaden, aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.

Da fuhr Peter eben zur Tür herein, und atemlos keuchend stand er nun mitten in der Stube und hielt einen Brief hin. Das war gleichfalls ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war. Ein Brief mit einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Voller Erwartung setzten sich alle um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne zu stocken vor.

Den Brief hatte Klara Sesemann geschrieben. Sie erzählte Heidi, daß es seit seiner Abreise so langweilig in ihrem Haus geworden sei und sie es nicht mehr aushalten könne. Sie habe den Vater so lange gebeten, bis er die Reise nach Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgesetzt habe. Die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wollten ebenfalls Heidi und den Großvater auf der Alm besuchen. Und weiter lasse die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe recht daran getan,



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daß es der alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen. Damit sie diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst auf die Alm käme, so müsse Heidi sie natürlich zur Großmutter führen.

Das gab nun eine solche Freude und Verwunderung und so viel zu reden und zu fragen, daß selbst der Großvater nicht merkte, wie spät es schon war. So vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und in der Freude über das heutige Zusammensein, daß die Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt. Das senkt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, daß wir einmal alles wiederfinden, was uns lieb ist. Du kommst doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?"

Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen. Aber nun war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan. Und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ihnen ganz sonntäglich im Abendschimmer entgegenglänzte.

Wenn aber die Großmama im Herbst kommt, dann gibt es gewiß manche neue Freude und Überraschung für Heidi und auch für die Großmutter. Sicher kommt auch noch ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die gewünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.


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