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Das bunte Heidi-Buch


Am Sommerabend die Alm hinan

Herr Sesemann stieg, nachdem der Doktor das Haus im Morgengrauen verlassen hatte, in großer Erregung hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er ungewöhnlich kräftig an die Tür. Fräulein Rottenmeier sah auf ihre Uhr. Es war halb fünf Uhr. Was konnte nur vorgefallen sein?

Inzwischen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und weckte die Dienstboten. So kamen sie nach und nach und stellten sich voller Erstaunen vor Herrn Sesemann hin. Der ging frisch und munter im Eßzimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt.

Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen vorzuführen. Tinette sollte sogleich Heidi aufwecken und es für eine Reise fertig machen. Sebastian erhielt den Auftrag, in das Haus zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand, und sie herzuholen. Fräulein Rottenmeier erklärte er, sie habe ohne Zögern einen Koffer herbeizuschaffen, sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken, dazu noch einen guten Teil von Klaras Kleidern, damit das Kind was Rechtes mitbrächte. Es müsse alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.

Herr Sesemann ging zum Zimmer seiner Tochter, setzte sich an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung. Nach des Doktors Aussage sei Heidi sehr angegriffen. Es werde wohl nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken. Klara müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, daß es nicht anders sein könne.



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Klara war von der Mitteilung schmerzlich überrascht und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts. Der Vater blieb fest bei seinem Entschluß, versprach aber, im nächsten Jahr mit Klara in die Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche.

Inzwischen war Dete angelangt und stand voller Erwartung im Vorzimmer. Daß sie um diese ungewöhnliche Zeit gerufen worden war, mußte etwas Außergewöhnliches bedeuten. Herr Sesemann erklärte ihr, sie möge das Kind gleich heute noch nach Hause bringen. Diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht gut der Worte, die ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte: daß sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle. Dem Alten einmal das Kind bringen, dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht geraten zu sein.

Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise anzutreten. Morgen könne sie noch weniger daran denken. Herr Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base.

Nun ließ er Sebastian kommen und erklärte ihm, er habe sich sofort zur Reise zu rüsten. Heute habe er mit dem Kind bis Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder umkehren. Auszurichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater werde diesem alles erklären.

Mittlerweile stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntags röckchen und wartete ab, was geschehen sollte. Dann wurde es gerufen.

"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun, heute gehst du heim, jetzt gleich."

"Heim?" wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß. Für eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen.

"Nun, willst du etwa nichts davon wissen?" fragte Herr Sesemann lächelnd.

"0 ja, ich will schon", kam es jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.



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"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd. "Und nun tüchtig gefrühstückt und dann in den Wagen und fort!"

Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterkriegen, so sehr es sich auch zwingen wollte. Es war derart aufgeregt, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume und vielleicht wieder aufwachen und im Nachthemd an der Haustür stehen werde.

"Geh zu Klara hinüber, bis der Wagen vorfahrt", sagte Herr Sesemann dann freundlich. Das war auch Heidis Wunsch, und es lief hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein großer Koffer zu sehen, dessen Deckel noch offen stand.

"Komm, Heidi, komm!" rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"

Und sie nannte ihm eine ganze Menge Dinge: Kleider und Schürzen, Tücher und Nähzeug. "Sieh hier, Heidi!" Klara hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang vor Freude hoch, denn darin lagen zwölf schöne weiße Brötchen, alle für die Großmutter.

Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick kam, wo sie sich trennen mußten. Als dann plötzlich der Ruf erschallte: "Der Wagen ist bereit!", war gar keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer. Da mußte noch ein schönes Buch von der Großmama liegen. Das konnte niemand eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi sich Tag und Nacht nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.

Die beiden Kinder mußten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi in den Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um Heidi zu verabschieden.

Schließlich wurde das Kind in den Wagen gehoben, und der Korb, die Brottasche und Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte davon.

Bald danach saß Heidi im Zug, und hielt seinen Korb auf dem Schoß fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den



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Händen lassen. Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und es erwachte erst wieder, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Aufwachen! Aufwachen! Gleich aussteigen, wir sind in Basel angekommen!"

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis Sebastian geben wollte. Heute sagte es nun gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung größer. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: "Mayenfeld!"

Jetzt standen sie draußen, und Sebastian schaute sich um, wen er etwa nach dem Weg zum ,Dörfli"fragen könnte. Nicht weit vom Bahnhof stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rößlein davor, auf den lud ein breitschultriger Mann ein paar große Säcke auf. Sebastian trat zu ihm und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dörfli vor.

"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort. Endlich kamen die beiden überein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen. Vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgend jemand auf die Alm geschickt werden.

"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die Alm", sagte Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und überreichte ihm eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater, mit eindringlichen Ermahnungen, ja nichts zu verlieren.

Nun wurde der Koffer aufgeladen, und danach hob Sebastian Heidi mit seinem Korb auf den hohen Sitz empor. Der Fahrer schwang sich neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu. Sebastian setzte sich am Bahnhäuschen nieder, um den zurückgehenden Zug abzuwarten.

Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker aus dem Dörfli, der seine Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie ge



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sehen, wußte aber, wie jedermann im Dörfli, von dem Kind. Als sie ins Dörfli einfuhren, schlug die Glocke eben fünf Uhr. Sofort sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt dann schon den Koffer", und wollte davonlaufen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und alle fragten es auf einmal.

Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte. Es hatte nur noch einen Gedanken: Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen am Spinnrad in der Ecke sitzen? Jetzt erblickte Heidi die Hütte und rannte noch mehr, und immer lauter schlug ihm das Herz. Vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen - und sprang bis mitten in die kleine Stube



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hinein und stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.

"Ach, du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es doch noch einmal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereingekommen?"

"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja!" rief Heidi jetzt und stürzte in die Ecke und gleich zu der Großmutter hin. Es faßte ihren Arm und ihre Hände und schmiegte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter so überrascht, daß sie auch kein Wort hervorbringen konnte. Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi, bist du auch bestimmt wieder da?"

"Ja, ja, sicher, Großmutter!" rief Heidi nun mit aller Zuversicht. "Weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort. Jetzt brauchst du auch viele Tage kein hartes Brot mehr zu essen."

Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem anderen aus, bis es alle zwölf im Schoß der Großmutter aufgehäuft hatte.

Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick vor Erstaunen unbeweglich stehen. Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und Brigitte konnte sich gar nicht genug wundern. Dann faßte Heidi die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muß ich heim, aber morgen komm' ich wieder zu dir. Gute Nacht, Großmutter!"

Dann rannte Heidi den Berg hinauf. Es dauerte gar nicht lange, bis es oben die Tann wipfel über dem Dach erblickte und bald die ganze Hütte. Auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein Pfeifchen. Da rannte Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Öhi recht sehen konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn zu, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten. Vor lauter Aufregung des Wiedersehens konnte es nichts sagen als nur immer wieder: "Großvater! Großvater! Großvater!"



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Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüberfahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. "So bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er. "Haben sie dich fortgeschickt?"

"0 nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das mußt du nicht denken, sie waren ja alle so gut, die Klara und die Großmama und der Herr Sesemann. Aber ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein konnte. Und dann rief mich auf einmal Herr Sesemann an einem Morgen ganz früh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran -, es steht vielleicht alles in dem Brief." Heidi holte den Brief und die Rolle aus dem Korb herbei und legte beides in die Hand des Großvaters.

"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch. Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

"Meinst du, du könntest auch noch mit mir Milch trinken, Heidi?" fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm und in die Hütte eintrat. "Aber nimm dort dein Geld mit dir. Davon kannst du ein ganzes Bett kaufen und Kleider für ein paar Jahre."

"Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater", versicherte Heidi. "Ein Bett habe ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt."

"Nimm's und leg's in den Schrank, wirst's schon einmal brauchen können."

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf - aber da stand es plötzlich still und rief ganz traurig von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein Bett mehr!"

"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wußte ja nicht, daß du wieder heimkommst. Jetzt trink deine Milch!"



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Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen Stuhl. Dann nahm es sein Schüsselchen und trank mit einer Begierde, als hätte es etwas so Köstliches noch nie getrunken.

Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff, und wie der Blitz schoß Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend und springend von der Höhe herunter, mitten darin Peter. Als er Heidi erblickte, blieb er wie angewurzelt auf der Stelle stehen und starrte es sprachlos an.

Heidi rief: "Guten Abend, Peter!" und stürzte mitten in die Geißen hinein. ,,Schwänli, Bärli, kennt ihr mich noch?"

Die Geißen mußten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie neben ihre Köpfe an Heidi und fingen vor lauter Freude zu meckern an. Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran.

"Bist du denn wieder da?" brachte Peter heraus. Er nahm Heidis Hand, die es ihm schon lange hingehalten hatte, und dann fragte er: "Kommst morgen wieder mit?"

"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter."

Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, war sein Bett schon wieder aufgeschichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch frisch. Darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr nicht geschlafen hatte.

Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde. Er schaute in das Loch, durch das sonst der Mond auf Heidis Lager schien, ob auch das Heu noch fest drinnen säße, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hineinkommen. Aber Heidi schlief fest durch und wanderte keinen Schritt herum, denn sein großes brennendes Verlangen war gestillt worden.


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