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Das bunte Heidi-Buch


Im Hause Sesemann spukt's

Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte, Heidi auf ihre Stube gerufen. Dort hatte sie sich mit ihm ausgesprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzen macht, und ganz unbemerkt hatte Heidi so das Nähen erlernt.

Da Heidi nun lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

Es war die letzte Woche, die die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, damit es auf ihre Stube käme. Als Heidi mit seinem großen Buch unter dem Arm eintrat, winkte ihm die Großmama, damit es ganz nahe zu ihr herankäme. Dann legte sie das Buch weg und sagte: "Nun komm, Kind, und sage mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du noch immer denselben Kummer im Herzen?"

"Ja", nickte Heidi.

"Und betest du nun alle Tage, daß alles gut werde?" wollte die Großmama weiter wissen.

"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung fort. "Wenn nun am Abend so viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle achtgeben, und mich hat er gewiß gar nicht gehört."

"Ja, so geht's nicht, Heidi, das mußt du nicht denken! Siehst du, der liebe Gott ist uns allen ein guter Vater, der immer weiß,



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was für uns gut ist, wenn wir es auch selbst nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, was für uns nicht gut ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht herzlich zu ihm zu beten."

"Ich will jetzt gleich gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten und will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi reumütig.

"So ist's recht, Kind, er wird dir auch zur rechten Zeit helfen, sei nur getrost!" ermunterte die Großmama. Heidi lief sofort in sein Zimmer hinüber und betete ernst und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen möge.

Der Tag der Abreise war gekommen. Es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Großmama wußte es so einzurichten, daß es ihnen gar nicht zum Bewußtsein kam. Es war eher wie ein Festtag, bis die gute Großmama im Wagen davonfuhr. Dann trat eine Leere und Stille im Hause ein, als wäre alles vorüber. Den ganzen Tag noch saßen Klara und Heidi wie verloren da.

Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und es um die Zeit war, wo die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer vorlesen. Willst du, Klara?" Klara war dieser Vorschlag recht, und Heidi machte sich mit Eifer an seine Tätigkeit.

So waren Herbst und Winter vergangen. Schon schien die Sonne wieder so stark auf die Mauern am Haus gegenüber, daß Heidi ahnte, nun war die Zeit gekommen, wo der Peter wieder mit den Geißen zur Alm zog. Heidi setzte sich in sei' em einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, damit es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht sah. So saß es regungslos und kämpfte sein brennendes Heimweh lautlos nieder.

Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich gekehrt im Hause herum. Wenn sie in



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der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen Korridor ging, sah sie sich öfters um, als könnte jemand leise hinter ihr herkommen und sie plötzlich am Kleid zupfen. Allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen herum.

Tinette machte es ihrerseits genauso. Hatte sie oben oder unten irgend etwas zu tun, so rief sie Sebastian herbei und sagte ihm, er solle sie begleiten. Seltsamerweise tat auch Sebastian genau dasselbe. Wurde er in die abgelegenen Räume geschickt, so holte er Johann herauf.

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas Seltsames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam, stand die Haustür weit offen. Es war aber weit und breit niemand zu sehen. In den ersten Tagen, als dies geschah, wurden gleich voller Schreck alle Zimmer des Hauses durchsucht. Aber es fehlte im ganzen Haus nicht ein einziges Ding.

Abends wurde nicht nur die Tür doppelt zugeriegelt, sondern es wurde auch noch der hölzerne Balken vorgeschoben. Es half nichts. Am Morgen stand die Tür weit offen. Endlich faßten sich Johann und Sebastian ein Herz und erklärten sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer neben der Diele zuzubringen. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen von Herrn Sesemann hervor und übergab Sebastian eine große Likörflasche zur Stärkung.

Die beiden nahmen an dem festgesetzten Abend in dem Zimmer Platz und fingen gleich an, sich Mut anzutrinken. Das machte sie erst gesprächig und dann auch ziemlich schläfrig. Danach lehnten sie sich beide an den Sesselrücken und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an. Der war aber nicht leicht zu wecken, und sooft ihn Sebastian anrief, legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere und schlief weiter. Endlich, als es droben ein Uhr geschlagen hatte, war Johann wach geworden und wieder zu klarem Bewußtsein



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gekommen. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal hinaus und sehen, wie's steht!"

Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein scharfer Luftzug und löschte das Licht aus, das Johann in der Hand hielt. Der stürzte zurück und warf den hinter ihm stehenden Sebastian beinahe rückwärts ins Zimmer hinein. Er schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüssel um.

"Was ist denn? Was war denn draußen?" fragte Sebastian teilnehmend.

"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf -husch und verschwunden."

Sobald Fräulein Rottenmeier gehört hatte, was vorgefallen war, schrieb sie sofort ausführlich Herrn Sesemann. Sie fügte



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hinzu, die unheimlichen Vorgänge im Hause hätten den zarten Gesundheitszustand seiner Tochter derart erschüttert, daß die schlimmsten Folgen zu befürchten seien.

Zwei Tage später stand Herr Sesemann vor seiner Tür und schellte derart an der Hausglocke, daß alles zusammenlief. Sebastian stürzte die Treppe hinunter und riß die Haustür auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg sofort zum Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert sah, glättete sich seine Stirn.

"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?" fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln.

"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein Scherz. Ich zweifle nicht daran, daß Herr Sesemann morgen nicht mehr lachen wird."

"Rufen Sie mir Sebastian ins Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden", sagte Herr Sesemann. Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, daß Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich nicht gerade mit Zuneigung betrachteten. So hatte er seine eigenen Gedanken.

"Komm her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und sage mir nun ganz ehrlich: Hast du etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt, um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?"

"Nein, das dürfen Sie nicht glauben. Es ist mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete Sebastian.

"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen dir und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster bei Licht aussehen. Schäme dich, Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie du bist, vor Gespenstern davonzulaufen. Nun geh sofort zu meinem alten Freund Doktor Claasen. Er möchte bestimmt heute abend um neun Uhr bei mir erscheinen. Ich wäre eigens von Paris hergereist, um ihn um Rat zu bitten. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich danach richten!"



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Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen waren und auch Fräulein Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor. Unter seinen grauen Haaren zeigte sich ein recht frisches Gesicht mit zwei lebhaft und freundlich blickenden Augen. Er sah etwas ängstlich aus, brach aber sogleich nach der Begrüßung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freund auf die Schulter klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du leidlich aus, Alter."

Herr Sesemann erzählte nun seinem Freund den ganzen Vorgang und daß nach Angabe sämtlicher Hausbewohner noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde. Er fügte hinzu, für alle Fälle habe er zwei geladene Revolver in das Wachlokal legen lassen.

Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo auch Johann und Sebastian gewacht hatten. Auf dem Tisch standen einige Flaschen guten Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden mußte.

Die Tür wurde angelehnt, dann setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, und nahmen auch dann und wann einen guten Schluck dazwischen. So schlug es zwölf Uhr, ehe sie sieh's versahen.

"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heute gar nicht", sagte der Doktor jetzt. Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es völlig still, auch auf den Straßen war der Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger hoch.

"Pst! Sesemann, hörst du nichts?"

Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloß umgedreht und die Tür geöffnet wurde. Der Hausherr fuhr mit der Hand nach seinem Revolver.

"Vorsicht ist besser", flüsterte Herr Sesemann, faßte mit der Linken den Leuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den



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Revolver und folgte dem Doktor, der, ebenfalls mit Leuchter und Revolver versehen, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.

Durch die weitgeöffnete Tür floß ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine zarte Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.

"Wer da?" donnerte jetzt der Doktor heraus, so daß es durch den ganzen Korridor hallte. Die Gestalt kehrte sich um und tat einen leichten Schrei. Mit bloßen Füßen und im dünnen Nachthemd stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte von oben bis unten wie Espenlaub.

"Kind, was soll das heißen?" fragte Herr Sesemann. "Was wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"

Schneeweiß vor Schreck stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos. "Ich weiß nicht."

Jetzt trat der Doktor vor. "Sesemann, der Fall gehört in mein Gebiet. Geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl, ich will vor allem das Kind dahin bringen, wo es hingehört."

Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm auf die Treppe zu. In Heidis Zimmer nahm der Doktor Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war, nahm das Kind bei der Hand und sagte: "So, nun ist alles in Ordnung. Nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?"

"Ich wollte gewiß nirgends hin", versicherte Heidi. "Jede Nacht träume ich immer dasselbe. Dann meine ich, ich wäre beim Großvater, und draußen höre ich's in den Tannen sausen und denke, jetzt glitzern die Sterne am Himmel so schön, und ich laufe geschwind und mache die Tür der Hütte auf. Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt."

"Hrn, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"

"Immer auf der Alm", antwortete Heidi schluchzend.



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Der Doktor stand auf. Er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: "So, noch ein wenig weinen, das kann nicht schaden, und dann schlafen. Morgen wird alles gut."

Dann verließ er das Zimmer. Unten in der Wach stube ließ er sich dem wartenden Freund gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem gespannt Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig. Völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft den Schreck ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so daß es schon jetzt fast zum Gerippe abgemagert ist. Darum also schnelle Hilfe! Für das erste Übel gibt es nur ein Heilmittel, nämlich, daß du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzt. Für das zweite gibt's ebenfalls nur eine Medizin, nämlich genau dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept."

Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Erregung lief er im Zimmer auf und ab. Jetzt rief er aus: "Mondsüchtig! Krank! Heimweh! Das alles in meinem Hause, und niemand merkt etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schickte ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach es heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will. Aber erst hilf du!"

"Sesemann", entgegnete der Doktor ernst, "bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pillen heut. Das Kind hat keine zähe Natur, jedoch, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht - du willst doch nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr zurückkommt?"

Herr Sesemann war erschrocken stehengeblieben. "Ja, wenn du so redest, Doktor, dann gibt es nur den e in e n Weg, dann muß sofort gehandelt werden."


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