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Das bunte Heidi-Buch


Ein unruhiger Tag

Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt die Augen aufschlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb sich die Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es saß auf einem hohen weißen Bett, und vor sich sah es einen großen weiten Raum, und wo die Helle hereinkam, hingen lange weiße Vorhänge. Daneben standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und einem runden Tisch davor. In der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie sie Heidi noch nie gesehen hatte.

Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, daß es in Frankfurt sei. Heidi sprang vom Bett und machte sich fertig. Erst ging es an ein Fenster und dann an das andere. Es mußte den Himmel sehen und die Erde draußen und fühlte sich wie im Käfig hinter den großen Vorhängen. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück, aber immer war dasselbe vor seinen Augen: Mauern und Fenster und wieder Mauern und Fenster.

Noch war es früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, auf der Alm früh aufzustehen und dann gleich vor die Tür hinauszulaufen, um zu sehen, wie's draußen sei. Wie das Vöglein, das zum erstenmal in einem schönen Gefängnis sitzt und hin und her schießt und an allen Stäben probiert, ob es nicht da hindurchschlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi von einem Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufzumachen sei.

Dann klopfte es an der Tür, und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"



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Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten. Auf dem spöttischen Gesicht von Tinette stand eher eine Warnung, ihr nicht nahe zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben.

Heidi nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch hervor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen werde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Geräusch. Es war Fräulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief: "Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück ist? Komm sofort herüber!"

Das verstand Heidi nun und folgte sogleich nach. Im Eßzimmer saß Klara schon lange an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich. Sie machte auch ein vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich, denn sie sah voraus, daß heute wieder allerlei Neues geschehen werde. Das Frühstück ging ohne Störung vor sich. Heidi aß anständig sein Butterbrot, und als alles zu Ende war, wurde Klara wieder ins Studierzimmer hinübergerollt. Heidi wurde angewiesen, bei Klara zu bleiben, bis der Herr Kandidat kommen werde.

Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi erzählte mit Freuden von der Alm, den Geißen und allem, was ihm lieb war.

Inzwischen war der Kandidat angekommen, aber Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht wie gewöhnlich ins Studierzimmer. Sie mußte sich erst aussprechen und ging mit ihm ins Eßzimmer, wo sie ihm in großer Aufregung die Lage schilderte.

Auf einmal ertönte im Studierzimmer ein schreckliches Krachen und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Fräulein Rottenmeier stürzte hinein. Da lag alles auf dem Boden übereinander: Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendrauf die Tischdecke, unter der ein schwarzes Tinten bächlein die ganze Stube entlang hervorfloß. Heidi war verschwunden.

"Da haben wir's!" rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus. "Das war ganz gewiß das Unglückswesen!"



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Der Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwüstung. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht. Es darf gewiß nicht bestraft werden. Es hatte es nur so schrecklich eilig, fortzukommen, und riß die Decke mit, und so fiel alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen vorbei, darum ist es so fortgeschossen. Vielleicht hat es noch nie eine Kutsche gesehen."

Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Unter der geöffneten Haustür stand Heidi und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab.

"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!" fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.

"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie stehn, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war. Das hatte in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen, so daß es in höchster Freude dem Geräusch nachgerannt war.

"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm herauf und sieh, was du angerichtet hast!"

Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeitlang ruhen, und dann konnte Heidi seine Beschäftigung selbst wählen. Als sich Klara nun nach Tisch in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier in ihr Zimmer. Das war Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn gehabt, etwas zu unternehmen, nur mußte es dazu eine Hilfe haben. Als nach kurzer Zeit Sebastian die Treppe heraufkam, fragte Heidi:

"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"

"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf. Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können. Es reichte nur bis zum Gesims hinauf.

"Da, nun kann das Fräulein einmal hinausgucken und sehen, was unten ist", sagte Sebastian und hatte schon einen Schemel



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herbeigeholt. Hocherfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der Enttäuschung zog es sogleich den Kopf zurück.

"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte das Kind traurig. "Wenn man aber um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite?"

"Genau dasselbe", gab Sebastian zur Antwort.

"Aber wohin kann man denn gehen, damit man weit, weit über das ganze Tal sehen kann?"

"Da muß man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, wie der dort mit der goldenen Kugel oben drauf."

Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herab, rannte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht so, wie Heidi sich das vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es brauchte nur über die Straße zu gehen, so müßte es gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken. Bald kam es in eine andere Straße hinein, aber



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immer noch sah es den Turm nicht. Da sah es an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein seltsames Tier auf dem Arm trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte:

"Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel?"

"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum und zog ein Bildchen hervor, darauf war ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt. Doch der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.

"Was willst du denn?" fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen wieder ein. "Geld habe ich keins, aber Klara hat welches, sie gibt mir sicher etwas. Wieviel willst du?"

"Zwanzig Pfennig", antwortete der Junge.

"So komm jetzt", sagte Heidi, und nun wanderten die beiden eine lange Straße entlang, und auf dem Weg fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage. Er erklärte, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe. Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit einem hohen Turm.

"Aber wie komm' ich da hinein?"fragte Heidi, als es die verschlossenen Türen sah. Da entdeckte es eine Klingel an der Mauer und zog mit allen Kräften daran.

"Wenn ich hinaufgehe, mußt du hier unten warten. Ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt ihn mir zeigen."

"Was gibst du mir dann?"

"Was muß ich dir dafür geben?"

"Wieder zwanzig Pfennig."

Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet. Ein alter Mann trat heraus und sah erst verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an: "Was untersteht ihr euch, mich da hinunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der Klingel steht: ,Für solche, die den Turm besteigen wollen'?"

"Eben auf den Turm wollt' ich. Nur ein einziges Mal!"



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Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, daß es ihn ganz umstimmte. Er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: "Wenn dir soviel daran gelegen ist, so komm mit!"

Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder, und Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf. Dann wurden diese immer schmaler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und sie waren oben. Der Türmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster. Es sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder. Da zog es bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist gar nicht so, wie ich gedacht habe."

Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg mit ihm die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tür, die in des Türmers Stube führte, und nebenan ging der Boden bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein Korb, und davor saß eine dicke graue Katze und fauchte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie. heidi trat an den Korb heran und brach in großes Entzücken aus.

"Willst du eins haben?"fragte der Türmer.

"Für mich selbst? Für immer?" fragte Heidi gespannt und konnte das große Glück fast nicht glauben.

"Ja, gewiß, du kannst auch noch mehr haben. Du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden.

Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Haus hatten ja die Kätzchen soviel Platz. Wie würde Klara erfreut sein!

Heidi konnte sich von dem lustigen Spiel fast nicht trennen. "Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara. Darf ich das?"

"So warte ein wenig", sagte der Türmer. Dann trug er die alte Katze behutsam in seine Stube hinein und stellte sie vor das Eßsehüsselehen. Er schloß die Tür ab und kam zurück. "So, nun nimm zwei!"



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Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es suchte sich ein weißes und ein gelb und weiß gestreiftes aus und nahm eins in den rechten und eins in den linken Arm. Nun ging's die Treppe hinunter.

Der Junge saß noch draußen auf den Stufen, und als nun der Türmer hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus gehen?"

"Weiß nicht", war die Antwort.

Heidi beschrieb nun, was es wußte: die Haustür, die Fenster und die Treppen. Er lief schnell drauflos und Heidi hinter ihm drein. In kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und als er Heidi erblickte, rief er drängend: "Schnell, schnell!"

Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu. Den Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

"Schnell, Fräuleinchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins Eßzimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone."

Heidi trat ins Zimmer. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf, und Klara sagte auch nichts. Es war eine etwas unheimliche Stille. Als es auf seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen. Du hast dich sehr ungezogen benommen, weil du das Haus verließest, ohne zu fragen."

"Miau", ertönte es wie eine Antwort zurück.

Aber jetzt stieg der Zorn der Dame: "Wie, Adelheid", rief sie in immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag' ich dir!"

"Ich mache -—", fing Heidi an.

,Miau, miau!" ertönte es wieder.



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"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlaß das Zimmer!"

Heidi stand erschrocken auf und wollte noch einmal erklären:

"Ich mache gewiß

"Miau, miau, miau!"

"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, daß du Fräulein Rottenmeier so erzürnst, warum machst du immer wieder miau?"

"Ich mache es nicht, die Kätzchen machen es", konnte Heidi endlich ungestört hervorbringen.

"Wie? Was? Katzen, junge Katzen?" schrie Fräulein Rottenmeier auf. "Sebastian, Tinette! Sucht die greulichen Tiere, schafft sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer und riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein. Junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste der Schöpfung. Sebastian stand draußen vor der Tür und mußte erst fertig lachen, ehe er wieder eintreten konnte. Jetzt sah es ganz still und friedlich drinnen aus. Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr, und beide spielten mit großer Wonne mit den beiden Tierchen.

"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns helfen. Sie müssen ein Nest für die Kätzchen finden, wo Fräulein Rottenmeier sie nicht sieht."

"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian bereitwillig. "Ich mache in einem Korb ein schönes Bettchen und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinterkommt." Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: Das wird noch was geben! Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag. Sie zog sich schweigend zurück. Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn sie wußten ihre Kätzchen gut aufgehoben.


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