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Das bunte Heidi-Buch


Lauter neue Dinge

Im Haus von Herrn Sesemann in Frankfurt lag Klara, das kranke Töchterlein, in dem bequemen Rollstuhl, in dem es sich den ganzen Tag aufhielt und von einem Zimmer ins andere geschoben wurde. Jetzt saß es im sogenannten Studierzimmer.

Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren. Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"

Fräulein Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren im Hause Sesemann. Seitdem die Frau des Hauses gestorben war, führte sie die Wirtschaft und hatte die Aufsicht über das ganze Personal. Herr Sesemann war meist auf Reisen und überließ daher Fräulein Rottenmeier das ganze Haus.

Zur gleichen Zeit stand Dete mit Heidi an der Hand unten vor der Haustür. Nachdem sie von dem Hausmädchen Tinette eingelassen waren, folgten sie ihm in das Studierzimmer, wo sie bereits erwartet wurden. Hier blieb Dete höflich an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend.

Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte ein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes, zerdrücktes Stroh hütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor.

"Wie heißt du?" fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem sie das Kind forschend angesehen hatte.



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"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.

"Wie? Was? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?"

"Das weiß ich nicht", entgegnete Heidi.

"Ist das eine Antwort!" bemerkte die Dame mit Kopfschütteln. "Fräulein Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"

"Ich will gern für das Kind reden, denn es ist sehr unerfahren", sagte Dete, nachdem sie Heidi heimlich einen kleinen Stoß für die unpassende Antwort gegeben hatte. "Es ist aber nicht einfältig und auch nicht schnippisch, es meint alles so, wie es spricht. Aber es ist heute zum erstenmal in einem fremden Haus und kennt die guten Sitten nicht. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine verstorbene Schwester."

"Nun wohl, das ist doch ein Name, den man aussprechen kann", sagte Fräulein Rottenmeier. "Aber, Fräulein Dete, ich muß Ihnen doch sagen, daß mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen gesagt, die Gespielin für Klara müßte in ihrem Alter sein. Klara hat das zwölfte Jahr zurückgelegt, wie alt ist denn das Kind?"

"Mit Erlaubnis", fing Dete wieder beredt an, "es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig. Es ist wirklich ein wenig jünger, viel bestimmt nicht, ich kann's nicht so genau sagen. So um zehn Jahre wird es alt sein, nehme ich an."

"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi. Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen.

"Was, erst acht Jahre alt?" rief Fräulein Rottenmeier mit einiger Entrüstung aus. "Vier Jahre zuwenig! Und was hast du gelernt? Was hast du für Bücher bei deinem Unterricht gehabt?"

"Keine", sagte Heidi und blickte Fräulein Rottenmeier ganz erstaunt an.

"Wie hast du denn lesen gelernt?" fragte die Dame weiter.

"Das hab' ich nicht gelernt, und der Peter auch nicht."

"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Fräulein Dete, wie konnten Sie mir dieses Kind zuführen!"



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Aber Dete ließ sich nicht so bald einschüchtern, sie antwortete herzhaft: "Das Kind ist so, wie Sie es haben wollten; ich dachte, es passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muß ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich. Ich will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wiederkommen und nachsehen, wie es ihm geht."

Mit einem Knicks war Dete zur Tür hinaus und mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Fräulein Rottenmeier lief ihr nach. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus allem schweigend zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"

Heidi trat an den Rollstuhl heran.

"Willst du lieber Heidi oder Adelheid heißen?" fragte Klara.

"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.



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"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara. "Der Name gefällt mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe auch noch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Bist du gern nach Frankfurt gekommen?"

"Nein, aber morgen gehe ich dann wieder heim und bringe der Großmutter weiße Brötchen!" erklärte Heidi.

"Du bist aber ein komisches Kind!" fuhr jetzt Klara auf. "Man hat dich ja eigens nach Frankfurt kommen lassen, damit du bei mir bleibst und die Stunden mit mir nimmst. Siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du noch gar nicht lesen kannst. Denn jeden Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."

Heidi schüttelte recht bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen hörte.

"Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du lesen lernen, alle Menschen müssen es. Der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse, und er erklärt dir dann schon alles, was du noch nicht weißt."

Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder. ins Zimmer zurück. Sie lief vom Studierzimmer ins Eßzimmer hinüber und von da wieder zurück und fuhr den Diener Sebastian an, der seine Augen eben prüfend über den gedeckten Tisch gleiten ließ.

"Machen Sie, daß wir bald essen können!" Mit diesen Worten lief Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und rief nach Tinette, die mit noch viel kleineren Schritten als gewöhnlich herantrippelte.

"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette", sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe.

Inzwischen hatte Sebastian die Doppel türen zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeschlagen. Dann trat er gelassen ins Studierzimmer, um den Rollstuhl hinüberzuschieben. Im Eßzimmer wurde Klara von Sebastian herausgehoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.



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Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, den Platz ihr gegenüber einzunehmen. Das Kind saß mäuschenstill und rührte sich nicht, bis Sebastian mit der großen Schüssel zu ihm trat und ihm die gebratenen Fische hinhielt. Heidi sah ihm eine Zeitlang verwundert zu, dann fragte es: "Soll ich auch von dem essen?"Sebastian nickte wieder.

"So gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen fing gefährlich an zu zittern.

"Sie können die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen", sagte Fräulein Rottenmeier jetzt mit strengem Gesicht. Sebastian verschwand sogleich.

"Dir, Adelheid, muß ich überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzen fort. "Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich bei Tisch bedient."

Und nun machte die Dame eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte. Dann folgten noch viele Verhaltensmaßregeln: über Aufstehen und Zubettgehen, über Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten und Türenschließen.

Darüber fielen Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an den Sessel rücken und schlief ein. Als dann Fräulein Rottenmeier nach längerer Zeit mit ihrer Unterweisung zu Ende gekommen war, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?"

"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit belustigtem Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so kurzweilig gewesen.

"Es ist doch unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!" rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger. Man hatte die größte Mühe, Heidi zu wecken, daß es in sein Schlafzimmer gebracht werden konnte.


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