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Das bunte Heidi-Buch


Zwei Besuche und ihre Folgen

Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage. Es war nun in seinem achten Jahr und hatte vom Großvater allerlei Kunstgriffe erlernt; mit den Geißen wußte es so gut umzugehen wie nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie treue Hündchen. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal vom Schullehrer im Dörfli die Nachricht gebracht, der Alm-Öhi solle das Kind in die Schule schicken. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas von ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er jedenfalls nicht in die Schule.

Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und überall im Tal die weißen Schneeglöckchen hervorguckten, rannte Heidi vor Wonne immer hin und her. Es lief von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen, dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wieviel größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen geworden sei. Als Heidi jetzt wohl zum zehnten Male über die Türschwelle sprang, wäre es vor Schreck fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem alten Herrn.

Es war der alte Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und seiz4 Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zi. und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."

Verwundert schaute dieser in die Höhe, s entgegnete: "Guten Morgen, Herr Pfarrer." Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin.



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"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater, und Heidi verschwand sofort.

"Das Kind hätte schon vor einem Jahr, mindestens aber diesen Winter die Schule besuchen müssen", sagte nun der Pfarrer. "Der Lehrer hat Sie mahnen lassen, Sie haben keine Antwort darauf gegeben; was haben Sie mit dem Kind im Sinn?" "Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken!" Verwundert schaute der Pfarrer auf den Alten. "Was wollen Sie aus dem Kind machen?"

"Nichts. Es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei denen ist ihm wohl, und es lernt nichts Böses bei ihnen."

"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein Mensch. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es muß aber



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etwas lernen. Das war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat."

"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.

"Meinen Sie denn wirklich, es gäbe kein Mittel, Sie zur Vernunft zu bringen, wenn Sie so eigensinnig sind?"

"So", sagte der Alte, und seine Stimme verriet, daß es auch in seinem Innern nicht mehr ganz so ruhig war. "Glauben Sie denn, Herr Pfarrer, ich werde im nächsten Winter ein zartes Kind zwei Stunden weit den Berg hinunterschicken und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn man fast in Wind und Schnee ersticken müßte?"

"Sie haben ganz recht, Nachbar", sagte der Pfarrer mit Freundlichkeit. "Es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich sehe, das Kind ist Ihnen lieb; tut um seinetwillen etwas, was Sie schon lange hätten tun sollen. Kommen Sie wieder ins Dörfli herunter und leben Sie wieder mit den Menschen! Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menschen!"

Der Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im nächsten Winter sind Sie wieder unten bei uns, und wir sind die guten alten Nachbarn."

Der Alm-Öhi gab dem Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir, aber was er erwartet, das tu' ich nicht. Das Kind schicke ich nicht, und herunter komm' ich nicht."

"So helfe Ihnen Gott!" sagte der Pfarrer und ging traurig zur Tür hinaus und den Berg hinunter.

Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heute nicht." Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: "Gehen wir heute zur Großmutter?", sagte er nur: "Wollen sehen."

Aber noch bevor die Schüsseln vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Tür herein: es war die



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Base Dete. Der Öhi schaute sie von oben bis unten an und sagte kein Wort. Aber die Base hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen. So fing sie gleich zu rühmen an und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr erkannt. Man könne schon sehen, daß es ihm nicht schlecht beim Großvater gegangen sei. Sie habe aber gewiß auch immer daran gedacht, es ihm wieder abzunehmen, deswegen komme sie auch heute.

Sehr reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die im wohl schönsten Haus von ganz Frankfurt wohnten, hätten ein einziges Töchterchen. Das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf einer Seite gelähmt. So sei es fast immer allein und müsse auch allen Unterricht allein bei einem Lehrer nehmen. Das sei ihm so langweilig, und es hätte gern eine Gespielin im Haus, ein recht unverdorbenes Kind, das nicht sei wie andere. Da habe sie selbst auf der Stelle an Heidi gedacht und der Dame alles vom Heidi erzählt, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne kein Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück bevorstehe.

"Ich will jetzt nichts davon wissen", sagte der Öhi. Aber da fuhr die Dete auf und rief: "Ja, wenn du es so meinst, Öhi, so will ich dir denn auch sagen, wie ich es meine. Das Kind ist jetzt acht Jahre alt, kann nichts und weiß nichts, und du willst es nichts lernen lassen. Ich hab' es zu verantworten, wie's ihm geht. Aber ich gebe nicht nach, das sag' ich dir, und die Leute habe ich alle für mich."

"Schweig!" donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr mit ihm vor die Augen!"

Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus und ließ Heidi mit der Base allein.

"Du hast den Großvater böse gemacht", sagte Heidi und blitzte die Base wenig freundlich an.

"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base. "Wo sind deine Kleider?"



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"Ich komme nicht", sagte Heidi.

"Was sagst du?" fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich fort: "Komm, komm, du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du es gar nicht kennst." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und packte sie zusammen.

"Ich komme nicht", wiederholte Heidi. -

"Sei doch nicht so dumm und störrisch wie eine Geiß. Begreif doch nur: Jetzt ist der Großvater böse; du hast ja gehört, daß er gesagt hat, wir sollten ihm nicht mehr vor die Augen kommen. Du weißt gar nicht, wie schön es in Frankfurt ist. Und gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen, bis dahin ist der Großvater wieder gut."

"Kann ich auf der Stelle wieder umkehren und heute abend heimkommen?"fragte Heidi.

"Ach was, komm jetzt! Ich sag' dir's ja, du kannst wieder heim, wenn du willst. Heute gehen wir bis nach Mayenfeld hinunter, und morgen früh sitzen wir in der Bahn. Mit der bist du sofort wieder daheim, das geht wie geflogen."

Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm genommen und führte Heidi an der Hand den Berg hinunter.

Da es noch nicht Weidezeit war, ging Peter noch im Dörfli zur Schule, oder sollte doch dahin gehen. Aber er machte hier und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze doch nichts, dahin zu gehen. So kam er eben in die Nähe seiner Hütte, ein Bündel langer Hasel ruten auf der Schulter. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, dann sagte er: "Wo willst du hin?"

"Ich muß nur geschwind mit der Base nach Frankfurt", antwortete Heidi, "aber ich will erst noch zur Großmutter hinein, sie wartet auf mich."

"Nein, nein, es ist schon viel zu spät", sagte die Base und hielt Heidi fest an der Hand. "Du kannst dann zu ihr gehen, wenn du wieder heimkommst." Damit zog die Base Heidi weiter und ließ es nicht mehr los. Peter sprang in die Hütte hinein



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und schlug mit seinem ganzen Bündel Ruten so auf den Tisch los, daß die Großmutter vor Schreck vom Spinnrad aufsprang. Er hatte sich Luft machen müssen.

"Was ist denn?" rief die Großmutter angstvoll.

"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter und schlug in seinem Ärger noch wütender auf den Tisch.

"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?" fragte die Großmutter jetzt in neuer Angst. Sie mußte aber schnell erraten haben, was vorging, denn die Tochter hatte ihr vor kurzem berichtet, sie habe die Dete zum Alm-Öhi hinaufgehen sehen. Zitternd vor Eile machte die Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich: "Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg!"

Dete mochte wohl ahnen, was sie rief, denn sie faßte das Kind noch fester und lief, was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat gerufen, ich will zu ihr!"

Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind. Es könne ja sehen, wie es ihm in Frankfurt gefallen werde. Und wenn es doch heim wolle, so könne es gleich gehen und dann sogar der Großmutter etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die ihm gefiel.

Heidi fing nun so zu rennen an, daß die Base mit ihrem Bündel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam.

Von dem Tag an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen Menschen und sah so drohend aus, daß die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: "Geht dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte euch noch etwas tun!"

Nur die blinde Großmutter hielt unentwegt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen, dem erzählte sie es immer wieder, wie gut der Alm-Öhi mit dem Kind umgegangen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage wieder mit dem Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer!"


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