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Das bunte Heidi-Buch


Beim Großvater

Nachdem Dete verschwunden war, hatte sich der Öhi wieder auf die Bank gesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife. Inzwischen schaute Heidi vergnügt um sich, entdeckte den Geißenstall und guckte hinein. Es kam hinter die Hütte zu den alten Tannen, ging um die andere Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater stand auf und ging in die Hütte.

Heidi trat hinter ihm in einen ziemlich großen Raum ein. Da stand ein Tisch mit einem Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd. In einer Wand war eine große Tür, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Darin hingen seine Kleider, und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher, auf einem anderen einige Teller, Tassen und Gläser, auf dem obersten ein rundes Brot, geräuchertes Fleisch und Käse. In dem Schrank war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt brauchte.

Heidi sah sich in dem Raum aufmerksam um und fragte: "Wo soll ich schlafen, Großvater?"

"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.

Das war Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute sich jedes Plätzchen an. In der Ecke stand eine kleine Leiter; Heidi kletterte hinauf und kam auf den Heuboden. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.

"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!"



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"So, so", sagte unten der Großvater, ging an den Schrank und zog unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden schon ein Bettlein zugerichtet, oben, wo der Kopf liegen mußte, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, daß es gerade auf das offene runde Loch zeigte.

"Das ist recht gemacht", lobte der Großvater. "Jetzt kommt auch das Tuch." Heidi hatte das Leintuch schnell an sich genommen, konnte es aber fast nicht tragen, so schwer war es; doch das war gut so, denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen.

Heidi stand staunend vor seinem Lager und sagte: "Jetzt wollt' ich, es wäre schon Nacht und ich könnte mich hineinlegen."

"Ich denke, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der Großvater. Heidi hatte über dem Bett alles andere vergessen; als es aber ans Essen dachte, verspürte es großen Hunger. "Ja, ich meine es auch", stimmte Heidi zu.

"Sô geh hinunter", sagte der Alte und folgte dem Kind nach. Er setzte sich auf den hölzernen Dreifuß vor dem Herd und blies ein helles Feuer an. Dann hielt er an einer langen Eisengabel ein großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Als der Großvater mit einem Topf und dem Käse zum Tisch herankam, lagen schon das runde Brot, zwei Teller und zwei Messer darauf.

Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und stellte ein Schüsselchen und ein Glas auf den Tisch.

"Recht so, du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi brachte den kleinen Dreifuß und setzte sich drauf. Der Großvater legte ihm ein großes Stück Brot vor und ein Stück von dem goldenen Käse dazu und sagte: "Jetzt iß!" Heidi ergriff sein Schüsselchen und trank, ohne es abzusetzen. Dann biß es in sein Brot.

Als das Essen beendet war, ging der Großvater in den Geißenstall und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen. Dann



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ging er zum Schuppen nebenan, schnitt dort runde Stöcke zurecht, hackte an einem Brett herum und bohrte Löcher hinein. Dahinein steckte er dann die runden Stöcke und stellte das Brett auf. Da war es auf einmal ein Stuhl wie der vom Großvater, nur viel höher.

So kam der Abend heran. Ein mächtiger Wind brauste durch die dichten Wipfel der Tannen, so daß Heidi ganz fröhlich darüber wurde und unter den Tannen umherhüpfte. Da ertönte ein schriller Pfiff. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mittendrin Peter. Mit einem Freudenruf schoß Heidi mitten in das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute morgen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne Geißen, eine weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände. Darin hielt er ein wenig Salz, wie er es jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein machte.



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Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zärtlich die Geißen, sprang um sie herum und war voller Glück und Freude über die Tierchen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, melkte der Großvater gleich das Schüsselchen voll, schnitt ein Stück Brot ab und sagte: "Jetzt iß, und dann geh hinauf und schlaf! Ich muß mit den Geißen hinein, schlaf nun wohl!"

"Gute Nacht, Großvater! Gute Nacht - wie heißen sie, Großvater, wie heißen sie?" rief das Kind und lief den Geißen nach.

"Die weiße Geiß heißt Schwänli und die braune Bärli", gab der Großvater zurück.

"Gute Nacht, Schwänli, gute Nacht, Bärli!" rief nun Heidi noch hinterher, setzte sich auf die Bank, aß sein Brot und trank seine Milch. Dann ging es hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich danach fest und herrlich schlief.

Heidi erwachte am frühen Morgen von einem lauten Pfiff. Als es die Augen aufschlug, kam durch das runde Loch ein goldener Schein auf sein Lager. Es schaute erstaunt um sich und wußte gar nicht, wo es war. Aber nun hörte- es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenigen Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte, denn das war nicht viel. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei.

"Willst du mit auf die Weide?" fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte vor Freude um ihn herum.

"Aber erst waschen, sonst lacht dich ja die Sonne aus. Sieh, dort ist's für dich hergerichtet." Der Großvater zeigte auf eine große Bütte mit Wasser, die vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang barfuß hinein und plantsehte und rieb, bis es ganz sauber war. Inzwischen ging der Großvater in die Hütte und rief Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Brotsack mit!" Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte



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sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug. Der Alte steckte ein großes Stück Brot und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Peter machte vor Erstaunen große Augen, denn die Stücke waren wohl noch einmal so groß wie die zwei, die er als Mittagsmahl drinnen hatte.

"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort, "denn das Kind kann nicht wie du nur so von der Geiß weg trinken, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst. Gib acht, daß es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?"

Nun kam Heidi herbeigelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?"fragte es eifrig.

"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er, "jetzt könnt ihr ausziehen."

Lustig ging es die Alm hinan. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da standen ganze Stauden feiner roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblättrigen, goldenen Ziströschen in der Sonne. Heidi pflückte einige Blumen und packte sie in sein Schürzchen, denn es wollte sie alle mit heimnehmen.

Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich mit seinen Geißen haltmachte und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuß der hohen Felsen. An der einen Seite der AIp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Großvater hatte recht, davor zu warnen. Als diese Höhe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung, denn der Wind kam manchmal in starken Stößen dahergefahren. Das kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen. Dann streckte er sich lang auf den Weideboden hin.

Heidi hatte inzwischen sein Schürzchen losgemacht, schön fest zusammengerollt und zum Brotsack gelegt, und nun setzte es sich neben Peter und schaute sich um. Das Tal lag weit unten



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im vollen Morgenglanz. Vor ihm erhob sich ein großes, weites Schneefeld hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand ein ungeheurer Felsenblock, zu dessen beiden Seiten ein hoher Felsenturm kahl und zackig, in die Bläue hinaufragte. Peter war eingeschlafen, und die Geißen kletterten oben in den Büschen umher. Heidi war es so schön zumute wie noch nie in seinem Leben.

Jetzt begann Peter auf einmal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was das bedeuten sollte. Aber die Geißen mußten die Töne verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grünen Halde versammelt. Heidi rannte mitten unter die Geißen.

Inzwischen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die darin waren, schön auf den Boden hingelegt. Die großen Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf seine, denn er wußte genau, wie er sie bekommen hatte. Dann nahm er das Schüsselchen, molk frische Milch vom Schwänli hinein und rief Heidi herbei.

"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter. Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch für mich?" fragte es.

"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke sind auch für dich, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli, und dann komme ich."

Heidi trank die Milch aus, und sobald es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer als Peters eigenes Stück war, reichte es ihm mit dem ganzen großen Brocken Käse hinüber und sagte: "Das kannst du haben, ich habe genug."

Peter schaute Heidi verwundert an. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi ernst sei. Weil Peter nicht zugriff, legte es ihm das Brot auf die Knie. Nun sah er, daß es ernst gemeint war. Er nahm sein Geschenk, nickte dankend und hielt nun ein so reichliches Mit-



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tags mahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute indessen nach den Geißen aus.

"Wie heißen sie alle, Peter?"fragte es.

Das wußte dieser nun ganz genau und konnte es um so besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Heidi hörte aufmerksam zu, und es dauerte nicht lange, so konnte es jede bei ihrem Namen nennen. Da war der große Türk mit den starken Hörnern, der wollte immer gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er kam. Nur der kecke Distelfink wich ihm nicht aus, sondern rannte so rasch und tüchtig gegen ihn an, daß der große Türk öfters ganz erstaunt dastand. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so flehentlich meckerte, daß Heidi es schon mehrmals tröstend beim Kopf genommen hatte.

Auf einmal sprang Peter auf und setzte mit großen Sprüngen den Geißen nach, und Heidi lief hinterdrein. Peter lief mitten durch das Geißenrudel dorthin, wo die Felsen schroff und kahl abfielen. Es hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite gehüpft war, und er kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geißlein dem Rand des Abgrunds zu. Peter wollte es packen, da stürzte er auf den Boden und konnte im Sturz noch ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten.

Peter schrie laut nach Heidi, damit es ihm helfe. Heidi riß schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden, hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: "Komm, Distelfink! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen."

Das Geißlein wandte sich schnell um und fraß Heidi vergnügt die Kräuter aus der Hand, während Peter den Distelfink an der Schnur faßte, mit der sein Glöckchen um den Hals gebunden war. Heidi faßte ihn von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Peter erhob seine Rute und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln. Aber Heidi schrie laut auf: "Nein, Peter, nein, du darfst ihn nicht schlagen!"



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Peter schaute erstaunt auf Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, daß er unwillkürlich seine Rute niederhielt. "So soll er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst", sagte dann Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er für den ausgestandenen Schreck haben.

"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich dir auch ganz viel; aber dann darfst du den Distelfink nie, nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Geiß."

So war unbemerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne dabei, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: "Peter! Peter! Es brennt, es brennt! Alle Berge brennen, und der große Schnee drüben brennt und der Himmel! Alles, alles ist im Feuer!"

"Das war immer so", sagte Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."

"Was ist es denn?" fragte Heidi und sprang hierhin und dorthin. Aber Peter konnte es auch nicht erklären.



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"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen wir heim."

Jetzt war Heidi beruhigt, und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen, daß es ganz still schwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater unter den Tannen sitzen sah. Dort hatte er auch eine Bank angebracht und erwartete am Abend seine Geißen. Heidi sprang gleich auf ihn zu, und Schwänli und Bärli liefen hinter ihm drein. Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!"

"Oh, Großvater, das war so schön!" rief Heidi, noch bevor es bei ihm war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich dir bringe!" Und damit schüttelte Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr.

"Oh, Großvater, was haben sie?" rief Heidi erschrocken aus. "So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"

"Die wollen draußen in der Sonne stehen und nicht ins Schürzlein hinein", sagte der Großvater.

"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen."

Als Heidi später auf seinem hohen Stuhl vor seinem Milchschüsselchen saß und der Großvater neben ihm, da erzählte es, wie schön es gewesen sei dort oben, und besonders das Feuer am Abend.


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