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Das bunte Heidi-Buch


Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlich gelegenen Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuß der Höhen. Auf diesem schmalen Bergpfad stieg an einem sonnigen Junimorgen ein großes, kräftiges Mädchen hinan. Es führte ein Kind an der Hand, das trotz der heißen Junisonne so verpackt war, als hätte es sich gegen bitteren Frost zu schützen. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; seine natürliche Gestalt aber konnte man nicht erkennen, denn es hatte zwei, wenn nicht gar drei Kleider übereinandergezogen und darüber ein großes buntes Baumwolltuch um und um gebunden.

Eine Stunde mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und "im Dörfli" heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Haus aus angerufen, denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends halt, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten Häuschen angekommen war. Hier rief eine Stimme aus einer Tür: "Warte einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst."

"Bist du müde, Heidi?"fragte die Begleiterin die Kleine.

"Nein, es ist mir nur heiß", entgegnete das Kind.

"Wir sind gleich oben", ermunterte die Gefährtin das Mädchen.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch geraten waren.

"Wohin willst du eigentlich mit dem Kind, Dete?"fragte die Frau. "Es ist wohl das hinterlassene Kind deiner Schwester?"



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"Das ist es", erwiderte Dete. "Ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muß dort bleiben."

"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schön heimschicken mit deinem Vorhaben!"

"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt und lasse eine Stellung, wie ich sie jetzt haben kann, nicht um des Kindes willen schwinden."

"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die breite Barbel eifrig. "Aber du kennst ihn ja. Wo willst du denn hin?"

"Nach Frankfurt", erklärte Dete. "Da bekomm' ich einen besonders guten Dienst. Die Familie war schon im vorigen Sommer unten in Bad Ragaz, und jetzt ist sie wieder da und will mich mitnehmen."

"Ich möchte das Kind nicht sein!" rief Barbel mit abwehrender Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit niemand will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuß in die Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock einmal im Jahr herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muß sich vor ihm fürchten."

"Und wenn auch!" sagte Dete trotzig. "Er ist der Großvater und muß für das Kind sorgen. Er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich."

Die Barbel hätte schon lange gern mehr über den Alm-Öhi gewußt. Sie hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet. Die Dete dagegen, ihre gute Bekannte, war aus dem Dörfli gebürtig und hatte dort mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr gelebt. Da war diese gestorben, und Dete war nach Bad Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kind von Ragaz hergekommen.

Barbel faßte Dete vertraulich am Arm und sagte: "Von dir kann man doch erfahren, was wahr ist, du weißt sicher die ganze Geschichte."



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"Ob er immer so war, kann ich auch nicht wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig, und er ist sicher siebzig Jahre alt."

Dete sah sich um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte. Doch das Kind war gar nicht zu sehen, es mußte ihnen schon seit einiger Zeit nicht mehr gefolgt sein. Dete schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen.

"Jetzt seh' ich's", erklärte Barbel und wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert mit dem Geißenpeter und seinen Geißen die Abhänge hinauf. Warum der heut so spät hinaufgeht mit seinen Tieren? Es ist aber gerade recht, er kann nun nach dem Kind sehen, und du kannst mir um so besser erzählen."

"Da braucht sich der Peter nicht anzustrengen", sagte Dete. "Das Heidi ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es macht seine Augen auf und sieht, was vorgeht. Das wird ihm einmal zugute kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."

"Hat er denn einmal mehr gehabt?"fragte Barbel.

"Der? Ja, das denk' ich", entgegnete Dete eifrig. "Eines der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und als er außer einem bösen Namen nichts mehr hatte, ist er verschwunden. Dann hörte man wohl fünfzehn Jahre nichts mehr von ihm.

Auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halberwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterbringen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Seine Frau muß eine Bündnerin gewesen sein, die er bald wieder verloren hatte. Er muß noch etwas Geld gehabt haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner. Wir



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anerkannten aber die Verwandtschaft und nannten ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese auch alle Öhi. Als er dann auf die Alm zog, hieß er nur noch der ,Alm-Öhi'."

"Aber wie ist es denn dem Tobias ergangen?" fragte Barbel.

"Warte nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erklärte Dete. "Der Tobias nahm meine Schwester Adelheid zur Frau, aber das Glück währte nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und erschlug ihn. Und als man den Mann nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schreck und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Nur ein paar Wochen später begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi für sein gottloses Leben verdient habe. Er wurde immer grimmiger und verstockter und redete mit niemand mehr; es ging ihm auch jeder aus dem Weg.

Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und den Menschen in Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Als nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit."

"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es wundert mich nur, was du denkst, Dete."

"Ich habe das Meine an dem Kind getan und denke, ich kann ein Kind, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel?"

"Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß", entgegnete Barbel. "Ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt im Winter für mich. So leb wohl, Dete; viel Glück!"

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese der kleinen Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts in einer Mulde stand. Hier wohnte der Geißenpeter, der



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elfjährige Junge, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben.

Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fortmußte und am Abend vom Dörfli spät heimkam, verbrachte er daheim nur gerade soviel Zeit, um am Morgen und Abend seine Milch und sein Brot hinunterzuschlucken und zu schlafen.

Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten nach den Kindern mit den Geißen umgesehen. Inzwischen rückten sie auf einem großen Umweg heran, denn Peter wußte viele Stellen, wo es allerhand Gutes für seine Geißen gab. Erst war ihnen das Kind in seiner schweren Kleidung mühsam nachgeklettert. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf Peter, der mit nackten Füßen und im leichten Höschen ohne alle Mühe hin und her sprang, bald auf die Geißen, die noch leichter über Busch und Stein und steile Hänge kletterten.

Auf einmal setzte sich das Kind auf den Boden, zog Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, tat sein dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuziehen; denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleid über das Alltagszeug angezogen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltags röckchen weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen da, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdsärmeln vergnügt in die Luft streckend. Dann legte es alles schön auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben Peter her.

Peter hatte nicht achtgegeben, was das Kind machte, als es zurückgeblieben war. Als es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, schaute er lustig grinsend auf das Häuflein Kleider zurück, sagte aber nichts. Das Kind fing ein Gespräch mit Peter an, und er mußte auf vielerlei Fragen antworten. So langten die Kinder samt den Geißen endlich oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht, die laut aufschrie:

"Heidi, wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Neue Schuhe habe ich dir gekauft



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und dir neue Strümpfe gemacht, und alles ist fort! Heidi, wo hast du alles?" Das Kind zeigte den Berg hinunter und sagte: "Dort!"

"Ach du unvernünftiges Heidi", schalt die Base weiter. "Wer soll nun da wieder hinunter, es dauert ja eine halbe Stunde! Peter, lauf du schnell zurück und hol das Zeug! Komm schnell und steh nicht dort, als wärst du am Boden festgenagelt."

"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Fleck stehen.

"Komm her, du sollst was Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm einen glänzenden neuen Fünfer hin. Plötzlich sprang er davon und auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, daß ihn die Base loben mußte und ihm sogleich sein Fünfer! überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht strahlte, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

"Du kannst mir das Zeug noch bis zum Öhi hinauftragen, du gehst ja auch den Weg", sagte Base Dete jetzt. Willig übernahm er den Auftrag, und Heidi und die Geißen hüpften fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab.

An der Talseite der Hütte hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, die Pfeife im Mund, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten. Heidi war zuerst oben; es ging geradewegs auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Guten Tag, Großvater!"

"So, so, wie ist das gemeint?" fragte der Alte barsch, gab dem Kind kurz die Hand und schaute es unter seinen buschigen Augenbrauen mit einem langen Blick an. Heidi gab den Blick zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart war so wunderlich anzusehen,



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daß Heidi ihn recht betrachten mußte. Unterdessen war auch die Base mit Peter herangekommen.

"Ich wünsche dir guten Tag, Öhi", sagte Dete. "Hier bringe ich das Kind von Tobias und der Adelheid. Du wirst es wohl nicht mehr kennen, denn seit es ein Jahr alt war, hast du es nie mehr gesehen."

"So, und was soll das Kind bei mir?" fragte der Alte kurz. "Und du dort", rief er Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist recht spät. Nimm meine mit!"

Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn angeschaut, daß er davon schon genug hatte.

"Es muß bei dir bleiben, Öhi", gab Dete auf seine Frage zurück. "Ich habe, denk' ich, das Meine an ihm getan die vier Jahre durch. Es wird jetzt wohl an dir sein, auch einmal das Deine zu tun."

"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf Dete. "Und wenn das Kind dir nachflennt, was soll ich dann mit ihm anfangen?"

"Das ist deine Sache. Ich muß jetzt meinem Verdienst nach, und du bist der nächste am Kind. Wenn du's nicht haben kannst, so mach mit ihm, was du willst; du hast es dann zu verantworten, wenn's verdirbt, und du wirst es wohl nicht nötig haben, dir noch etwas aufzuladen."

Dete hatte kein ganz gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, daß sie einige Schritte zurückwich. Dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, daß du hinunterkommst und zeig dich so bald nicht wieder!"

Das ließ sich Dete nicht zweimal sagen. "So leb wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief in einem Trab den Berg hinunter bis ins Dörfli.


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