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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


71. Die kleine Henne

Vor langer Zeit standen irgendwo zwei große Häuser. In dem einen wohnte eine Witwe und in dem anderen ein Witwer. Die alte Frau hatte eine Tochter und der alte Herr ebenfalls. Die Tochter der alten Dame war ein mißgestaltetes kleines Geschöpf mit einem Buckel. Die Tochter des Herrn jedoch war ein schönes junges Fräulein. Der Witwer und die Witwe heirateten sich, und nun wohnten sie alle zusammen in dem Hause des alten Herrn.

Die kleine Bucklige mußte nun mit einem Eimer hinunter an den Springbrunnen gehen, um Wasser zu holen.

Dicht neben dem Gittertor stand ein kleines Häuschen, und darin wohnte eine kleine alte Frau. Als die Bucklige vorbeikam, stand die alte Frau gerade an der Türe und fragte das Mädchen: »Willst du hereinkommen, um etwas zu essen?« Aber die Bucklige wurde ärgerlich und rief: »Schämst du dich nicht, mich zum Eintreten aufzufordern, du jämmerliches kleines Geschöpf?« Und sie ging an ihr vorbei zum Springbrunnen hinab.

Als sie den Eimer in den Brunnen tauchte, stiegen drei Eberköpfe herauf. Der eine sagte: »Hebe mich heraus und trockne und kämme mich und setze mich sanft nieder.« Sie aber stieß sie mit dem Eimer hinunter. Dann tauchte sie den Eimer in den Brunnen und zog ihn mit schlammigem Wasser



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gefüllt wieder empor und ging nach Hause. »Warum hast du schlammiges Wasser gebracht?« fragte man sie. Und sie antwortete: »Es war nur schlammiges Wasser in dem Brunnen.«

Das nächste Mal ging das andere Mädchen mit dem Eimer zum Brunnen. Sie ging die Landstraße hinunter und kam zu dem Häuschen der Alten. Diese stand wieder vor der Tür. »Willst du hereinkommen, mein schönes Fräulein«, fragte sie, »und ein wenig essen?« — »Ja, gerne«, antwortete das Mädchen und ging hinein. Die alte Frau gab ihr ein wenig süße Milch und etwas Brot und Butter. Diese Alte aber war eine Hexe.

Das Mädchen verließ die alte Frau wieder und stieg zum Brunnen hinab. Sie tauchte ihren Eimer ins Wasser, und sofort stiegen die drei Eberköpfe herauf. Wieder sagte der eine zu dem schönen Fräulein: »Hebe mich heraus und trockne und kämme mich und setze mich sanft nieder.« Da hob sie ihn heraus, trocknete ihn, kämmte ihn und setzte ihn sanft nieder. Dann füllte sie ihren Eimer mit Wasser. Das war ganz klar. Und sie ging damit nach Hause.

Ihre Stiefmutter war erstaunt und wußte nicht, was sie davon halten sollte. Sie fragte: »Wie kommt es, daß du klares Wasser bringst, während du, Tochter, schlammiges Wasser brachtest?«

Am nächsten Morgen war die Bucklige wieder an der Reihe, Wasser zu holen. Sie ging also fort und sah die alte Frau an der Tür. »Willst du hereinkommen, mein Fräulein, und ein wenig essen?« — »Nein, schämst du dich nicht, mich zu fragen?« Dann ging das Mädchen zum Brunnen und ließ den Eimer hinab. Sofort sprangen die drei Eberköpfe empor. Da bat der zweite:

»Hebe mich empor, trockne mich ab, kämme mich und setze mich sanft nieder.« Sie aber schlug sie alle mit dem Eimer. Dann zog sie einen Eimer voll schlammigen Wassers empor und ging damit nach Hause. Ihre Mutter wurde ärgerlich, als sie wieder das schlammige Wasser sah.



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Nun ging wieder das andere Fräulein zum Wasserholen. Sie ging hinunter und kam zu dem Häuschen der kleinen alten Frau. »Willst du hereinkommen, mein Fräulein, und etwas genießen?« — »Ja, das will ich«, und sie ging hinein und bekam etwas zu essen. Dann bot sie der alten Frau »Guten Tag« und stieg zu dem Brunnen hinab. Sie tauchte den Eimer ins Wasser, und sofort sprangen wieder die drei Eberköpfe in die Höhe. Und einer sagte: »Hebe mich heraus und trockne und kämme mich und setze mich dann sanft nieder.« Das schöne Mädchen tat es, füllte ihren Eimer mit klarem Wasser und ging nach Hause.

Die alte Dame wurde wütend, als sie sah, daß die Schöne klares Wasser brachte. »Wie geht es zu, daß dieses Mädchen klares Wasser holt, während mein Kind schlammiges Wasser bringt? Ich will sie doch morgen beide zusammen hinschicken, eine nach der anderen.«

Der folgende Morgen kam. Die kleine Bucklige ging hinunter. Sie sah wieder die alte Hexe. »Willst du hereinkommen, mein Fräulein, und etwas essen?« — »Schämst du dich nicht, du altes Biest, mich zu fragen, ob ich hineinkommen will?« Und sie ging zu dem Brunnen und tauchte den Eimer ein. Die drei Eberköpfe schnellten empor. »Hebe mich heraus«, bat der eine, »trockne mich und kämme mich und setze mich sanft nieder.« Sie aber schlug die Köpfe mit ihrem Eimer hinunter.

Als sie sich wandte, um nach Hause zu gehen, sah sie drei lustige Jünglinge vor sich stehen. Der älteste Bruder spottete: »Hier kommt mal eine schöne Dame!« — »Ja, Bruder«, sprach der andere, »was wünschest du dieser Dame?« — »Ich wünsche, daß eine Seite ihres Haares voller Läuse sein soll.« Dann fragte er den jüngsten Bruder: »Und was wünschest du dieser Dame?« — »Ich wünsche, daß die andere Seite voller Läusenisse sei.« Nun sprach der älteste Bruder: »Häßlich ist sie jetzt schon, ich wünsche aber, daß sie noch weit häßlicher wird, wenn sie nach Hause kommt.«



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Und nun ging wieder das schöne Fräulein zum Wasserholen. Als sie wieder zu dem Hause der kleinen alten Frau kam, fragte diese wie die vorigen Male: »Willst du hereinkommen, mein Fräulein, um ein wenig zu essen?« — »Ja, das will ich!« Und sie trat ein und aß und kam wieder heraus. Dann ging sie zum Brunnen und tauchte den Eimer hinein. Sofort sprangen die drei Eberköpfe empor, und einer von ihnen bat: »Hebe mich heraus, trockne mich und kämme mich und setze mich sanft nieder.« Sie tat es, und die Köpfe tauchten wieder unter. Nun zog sie einen Eimer voll klaren Wassers in die Höhe. Als sie sich umwandte, sah sie die drei übermütigen Jünglinge stehen. Der älteste Bruder sagte zu den andern: »Hier ist ein schönes Fräulein.« — »Ja, sie ist wirklich ein schönes Fräulein.« — »Was wünschest du dieser jungen Dame?« fragte er. »Ich wünsche, daß eine Seite ihres Haares ganz von Gold sei.« — »Was wünschest du, Bruder?« — »Ich wünsche, daß die andere Seite ganz aus Silber bestehe.« — »Was wünschest du ihr, Bruder?« fragten darauf die beiden anderen den ältesten Bruder. »Lieblich ist sie jetzt schon, ich wünsche, daß sie noch weit lieblicher sei, wenn sie ihr Haus betritt.«

Die beiden Stiefschwestern kamen nun nach Hause. Die alte Dame war bestürzt, als sie die beiden wiedersah - die eine so überaus häßlich von Gestalt und die andere so wunderbar schön. Ihr wurde ganz elend beim Anblick der beiden Mädchen, und sie legte sich zu Bett und fragte ihren Ehemann: »Was sollen wir mit diesen beiden machen?« Der alte Mann überlegte und horchte auf sein Weib, bevor er etwas sagte. »Ich weiß nicht, was zu tun ist«, meinte er, doch die alte Dame erwiderte: »Mache eine große Kiste und lege die beiden hinein und wirf sie in den See. Sie mögen da landen, wo der Wind sie hintreibt.« Und es geschah genau so, wie die alte Dame es wünschte.

Die beiden Stiefschwestern trieben nun also auf dem See. Vier Wochen lang blieben sie auf dem Wasser. Da bemerkte



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das schöne Fräulein, daß es schwanger war. Als ihre Zeit kam, gebar sie eine kleine, stummelschwänzige Henne. Kaum war die kleine Henne geboren, da blickte sie auf ihre Mutter und dann auf ihre weniger begünstigte Tante und fragte: »Mütterchen, warum ist dieses häßliche Geschöpf bei dir?«

So verging eine Woche. Da fand das hübsche Fräulein in seiner Tasche ein kleines Federmesser, sie öffnete es und bohrte damit ein kleines Loch in die Kiste, durch das sie ihren Finger stecken konnte. Dann schnitt sie weiter und machte die Öffnung immer größer, bis sie ihren Kopf hindurchstecken und Umschau halten konnte. Sie sah Land und tat freudig ihrer Stiefschwester kund: »Ich habe Land gesehen.« Das Wasser wurde flacher und flacher, und der Wind blies sie dicht an das Land heran. Da blieben sie mehrere Tage und machten die Öffnung immer weiter, um sich aus ihrem Gefängnis befreien zu können.

Endlich war sie weit genug, und sie verließen die Kiste und wanderten einen Seitenweg entlang. Da kamen sie an eine leere Scheune. Die kleine Henne ging hinein, um zu sehen, wie es darinnen wäre. Als sie herauskam, sagte sie zu ihrer Mutter: »Drinnen ist viel Stroh, und der Platz ist trocken, komme nur herein.«

Die drei traten ein, und die kleine Henne sagte zu ihrer Tante: »Verbirg dich in dem Stroh.« Die tat es, die kleine Henne aber häufte noch mehr Stroh über sie und sprach: »Mein Mütterchen, setze dich hin, ich gehe, um Nahrung für dich zu betteln.«

Die kleine Henne ging die Landstraße hinab und kam an ein großes Haus. Sie klopfte an die Tür, und der Hausmeister kam heraus, um zu sehen, wer da wäre. Aber er sah nur die kleine Henne, und da er niemanden sonst bemerkte, ging er wieder hinein und schloß die Tür.

Doch die kleine Henne klopfte wieder an die Tür, und der Hausmeister kam wieder heraus. Nun bat die kleine Henne: »Ich bitte um Essen für mein Mütterchen.« Da ging



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der Hausmeister hinein zu seinem Herrn und seiner Herrin und sagte: »Draußen steht eine kleine stummelschwänzige Henne und bettelt für ihre Mutter.« Der Herr und die Herrin standen auf und gingen hinaus. Da stand die kleine Henne immer noch und sagte wieder: »Ich bitte um Essen für mein Mütterchen.« Nun gingen sie hinein und suchten Lebensmittel zusammen. Diese brachten sie der kleinen Henne und befestigten sie auf ihrem Rücken.

Damit wanderte die kleine Henne wieder zur Scheune zurück. »Ich habe für dich Nahrung gebracht, Mütterchen, gib meiner häßlichen Tante auch ein wenig zu essen, aber dann soll sie sich wieder verbergen.«

Die Speisen reichten drei Tage für sie aus. Als sie dann aufgezehrt waren, ging die kleine Henne wieder zu dem großen Hause und erhielt wie das erste Mal Lebensmittel und brachte sie ihrer Mutter in die Scheune.

Wieder ging die Nahrung zu Ende. Die Mutter rief die kleine Henne. »Sei unbesorgt, Mütterchen, ich werde schon Nahrung finden«, sagte sie und ging wieder zu dem großen Hause. Dieses Mal wußte der Hausmeister nun schon, was sie haben wollte.

Der alte Herr und die alte Herrin aber nahmen sich vor, aufzupassen, wohin das Tierchen seinen Weg nehme.

Die kleine Henne trug die Lebensmittel zu ihrer Mutter und sagte: »Ich habe dir Essen gebracht, Mütterchen, gib meiner häßlichen Tante auch ein wenig davon, und dann mag sie sich wieder verbergen.«

Der alte Herr und die alte Herrin aber waren der kleinen Henne gefolgt, um zu sehen, wohin sie gehe. Als sie sie in die leere Scheune treten sahen, hielten sie ihren Wagen an und befahlen dem Hausmeister, durch das Fenster zu sehen. Da erblickte dieser eine hübsche Dame neben der kleinen Henne und sah, wie sie aßen. Nun rief er seinen Herrn. Der stieg aus und ging in die Scheune und sprach mit dem Mädchen. Aber von der Buckligen sah er nichts, denn sie war



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im Stroh versteckt. Der Herr und seine Frau nahmen nun das Mädchen und die kleine Henne in ihren Wagen und fuhren mit ihnen zu dem großen Hause.

Der junge Herr war gerade da. Als er das Mädchen in das Haus seiner Eltern kommen sah, verliebte er sich in sie und heiratete sie. Das häßliche Mädchen aber wurde aus der Scheune geholt und nach Hause geschickt. Die kleine Henne jedoch blieb bei ihrer Mutter und war für kein Geld zu haben.

Ich war selbst dort und habe sie gesehen und habe vor ihnen die Fiedel gespielt, und sie bezahlten mich freigebig. Das ist alles, was ich zu erzählen habe.


Copyright: arpa, 2015.

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