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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


69. Die achtzehn Hasen

A uf einem Hügel stand ein kleines Haus. Darin wohnte eine kleine, alte Frau mit ihren drei Söhnen. Der eine Sohn, der jüngste der drei, aber war ein Narr.

Eines Tages sprach der älteste Bruder zu seiner Mutter: »Ich will gehen und mein Glück versuchen. Ich tue hier doch nichts. Backe mir einen Kuchen.« — »Was willst du haben«, erwiderte die alte Frau, »einen großen Kuchen und darin die Verdammnis oder einen kleinen Kuchen und darin einen Segen?« — »Bereite mir einen großen Kuchen, in dem die Verdammnis ist.« Die alte Frau backte den Kuchen, und der Sohn nahm ihn und ging fort und wanderte eine lange Zeit. Zuletzt kam er an ein großes Tor und an eine schöne Fahrstraße, die zu einem großen Schlosse führte. Er öffnete das Tor und ging den Weg hinauf.

Er kam zu dem Schlosse und klopfte an die Tür. Da trat ein alter Herr heraus. »Was wünschest du?« fragte er. »Ich möchte arbeiten.« — »Was kannst du arbeiten?« fragte der Herr. »Was du verlangst.« — »So gehe zu jener Tür. Offne sie, geh hinein und laß dir etwas zu essen geben!« Da ging der Jüngling hinein und setzte sich nieder.



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Nun kam die Köchin und fragte ihn: »Möchtest du gern Bier haben?« — »Ja«, sagte er. Die Köchin kam mit einer großen Kanne Bier und viel Fleisch und Brot und Senf zurück. Da er hungrig war, aß er wie ein Schwein.

Der alte Herr trat zu ihm und sprach: »Ich habe achtzehn Hasen. Die sollst du hüten, du darfst aber keinen verlieren. Morgen mußt du mit ihnen hinunter auf die Felder gehen.«

Am Morgen bekam der Bursche sein Frühstück und ging hinaus. Da kam der alte Herr herbei und sagte: »Ich habe noch mit dir zu sprechen.« Und er flötete auf einer silbernen Pfeife. Siehe da, die Hasen kamen herbeigelaufen. »Da sind sie, und siehst du da unten die Felder? Bleibe dort bis nach dem Mittagessen und komme zu der und der Zeit nach Hause. Es sind achtzehn Hasen. Wenn du sie nicht vollzählig zurückbringst, so soll dir der Kopf abgeschlagen werden.«

Darauf zog der Bursche mit den Hasen ab. Er kam zu den Feldern, fand eine Quelle und setzte sich bei ihr nieder. Er stellte den Korb neben sich, und die Hasen zerstreuten sich — der ein hierhin, der andere dorthin. Er setzte sich hin und rauchte seine Pfeife, und als er damit fertig war, dachte er ans Essen und öffnete den Korb. Während er aß, kam eine kleine, alte Frau zu ihm. »Gib mir einen Bissen«, bat sie. »0 nein, da würde nichts für mich bleiben, es ist wenig genug für mich.« Da ging die Frau wieder fort.

Nun brach die Nacht an, und er mußte die Hasen nach dem Schlosse bringen. Als er aufstand und nach ihnen suchte, fand er jedoch nur zwei oder drei. Er kratzte sich am Kopf, denn wie er die Felder hinaufstieg und nach dem Schloß kam, hatte er nur zwei oder drei Hasen bei sich.

Der alte Herr kam heraus und zählte selbst die Hasen. Als er sah, daß nicht einmal die Hälfte von ihnen da war, ging er wieder ins Schloß hinein und ließ den Burschen draußen warten. Bald aber kam er mit einem großen Messer heraus, schnitt ihm den Kopf ab und steckte ihn auf das Gittertor.



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Nun wollen wir hören, wie es den beiden anderen Brüdern erging. Der zweite Sohn sagte zu seiner Mutter: »Ich will auch fortgehen, um mein Glück zu suchen. Ich weiß, daß es meinem Bruder irgendwo gut ergeht. Backe mir einen Kuchen, Mutter.« — »Was für einen willst du haben? Willst du einen großen Kuchen mit der Verdammnis darin haben, oder willst du einen kleinen Kuchen, in dem ein Segen ist?« — »Ich will den großen haben, Mutter.« Nun ging er fort auf die Landstraße und kam zu demselben großen Gittertor. Als er daran emporblickte, sah er seines Bruders Kopf. Er öffnete das Tor, ging hindurch und kam zu dem Schloß. Wie es seinem ältesten Bruder ergangen war, so erging es auch ihm. Der alte Herr nahm zum Schluß ein großes Messer und schnitt ihm den Kopf ab, trug ihn zum Tore hinunter und setzte ihn auf die andere Seite des Gitters.

So waren also zwei Köpfe da! Einer auf dieser und einer auf jener Seite.

Nun will ich wieder zu dem kleinen Haus auf dem Hügel hinaufsteigen! Dort saß also unsere Mutter. Ihr jüngster Sohn war ausgegangen, um ein wenig Holz für seine Mutter zu sammeln. Als er nun heimkam, sagte er zu ihr, daß auch er gern fort möchte, um sein Glück zu suchen. »Ich weiß, daß meine beiden Brüder irgendwo ein gutes Leben führen. Backe mir also einen Kuchen, Mutter.« — »Wohin willst du gehen? Bleibe doch zu Hause! Wenn du auch in die Fremde gehst, werde ich niemanden haben, der mir ein wenig Holz oder sonst etwas besorgt.« Doch er blieb dabei: »Backe mir einen Kuchen!« — »Welchen willst du haben, den großen Kuchen und die Verdammnis drinnen oder den kleinen Kuchen mit dem Segen?« — »Ich möchte den kleinen mit dem Segen, Mutter.« — »So gehe und hole mir in diesem Siebe Wasser.« Hans nahm das Sieb und ging zum Wasser. Da kam ein kleiner roter Vogel herbeigeflogen und riet ihm, Blätter und Lehm in das Sieb zu legen. Das tat Hans und füllte das Sieb voll Wasser und ging damit in das Haus seiner Mutter.



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Die Mutter bereitete gerade den kleinen Kuchen. Als sie damit fertig war, sagte sie: »Ich weiß nicht, warum du fortgehen willst und mich hier allein läßt!« — »Ich will gehen, Mutter. Was soll ich hier? Meine beiden Brüder sind gegangen, da will ich auch gehen.« Er wanderte die Landstraße entlang, bis er müde wurde, und fand dasselbe Gitter. Als er daran emporblickte und die Köpfe seiner beiden Brüder sah, lachte er über sie, verspottete sie eine Weile und warf Steine nach ihnen, bis er genug davon hatte. »Was tut ihr da, ihr beiden Narren?« rief er. Dann öffnete er das Gitter und ging den Weg hinauf, barhäuptig und barfuß wie er war. So kam er zu dem Schlosse, und der alte Herr und die alte und die junge Herrin saßen alle drei am Fenster. Und sobald das junge Fräulein den Jüngling erblickte, wie er zum Schlosse heraufkam, lächelte sie ihm freundlich zu.

Als er an die Türe kam, ging der alte Herr zu ihm hinaus. »Was begehrst du?« — »Was soll ich sagen? Alles, was du mir geben willst.« — »Welche Arbeit verstehst du?« — »Ich kann jede verrichten.« Da sandte der Herr ihn zu der anderen Tür, ließ ihn eintreten und Platz nehmen. Er fragte, ob er Abendbrot wünsche. »Ja«, erwiderte Hans. Da brachten sie ihm reichlich zu essen und reichlich zu trinken. Der alte Herr unterhielt sich mit ihm, während Hans aß. Dann ging der Herr hinaus und brachte ihm einige alte Kleider und trug ihm auf, sich zu waschen und zu rasieren, und sagte: »Ziehe diese Kleider an, wenn du fertig bist.« Der Bursche wusch sich also und rasierte sich, kleidete sich aus und zog die Kleider an, die ihm der Herr gebracht hatte.

Dann ging er hinaus, um auf dem Platz vor dem Schloß ein wenig spazierenzugehen. Der alte Herr kam auch heraus, und unterhielt sich mit ihm. Darauf ließ er die Hasen heraus, um sie Hans zu zeigen, und zählte sie, um zu wissen, wieviele es wären. Dann sprach er: »Gehe morgen mit ihnen in jene Felder hinunter. Du darfst keinen verlieren. Ich habe ihre Zahl in meinem Buche aufgeschrieben.«



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Als der Morgen kam, war der alte Herr schon draußen, um die Hasen zu rufen. Er blies auf der silbernen Pfeife, und alle Hasen legten sich ihm zu Füßen. »Hier sind sie, Hans! Drüben steht dein Mittagessen. Gehe nun hinunter und komme zur festgesetzten Zeit wieder herauf.«

Hans ging und kam zu jener kleinen Quelle und setzte sich dort nieder. Die Hasen zerstreuten sich bald hierhin und dorthin. Es war ein heißer Sommertag, und Hans schlief ein. Nach einiger Zeit erwachte er, denn er hatte Hunger. Er öffnete den Korb und begann zu essen. Siehe da! Die kleine, alte Frau kam zu ihm und bat: »Gib mir ein Stückchen ab, Hans. Ich bin hungrig.« — »Ja, setze dich hin und iß, da ist noch genug für dich«, antwortete er. Als die alte Frau sich satt gegessen hatte, sagte sie: »Nun, Hans, gehe wohin du willst, ich werde die Hasen hüten. Komme kurz vor Dunkelwerden wieder zurück.«

Da begann Hans auf Igel Jagd zu machen. Er fand einen großen, tötete ihn und zog ihm das Fell ab. Dann machte er ein Feuer an, kochte ihn und aß ihn auf.

Als es Abend wurde, kam er zu der alten Frau zurück, denn es war nun Zeit, wieder nach dem Schlosse zurückzukehren. Die alte Frau gab Hans eine silberne Flöte und befahl: »Blase darauf, Hans.« Hans nahm sie und blies. Kaum hatte er angefangen zu blasen, schau, da kamen alle Hasen zu ihm heran. Er zählte sie, und sie waren alle da. »Hans, bringe mir morgen ein bißchen Essen mit«, bat die Frau. »Ja«, sagte Hans und ging mit den Hasen heim.

Nun kamen die drei, der Herr und die beiden Damen, aus dem Schlosse heraus, und der alte Herr zählte die Hasen, um zu sehen, ob sie alle da wären. »Ja«, sagte er schließlich, »sie sind alle da. Gehe nun ins Haus, Hans, und lasse dir dein Abendbrot geben.« Währenddessen sprach der Herr zu seiner Frau: »Diesen Jungen können wir gebrauchen«, und sie stimmte ihm zu. Als nun Hans hineingegangen war, um sein Abendbrot zu holen, sprachen die drei noch weiter über ihn,



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und als er wieder herauskam, fragten sie ihn: »Willst du morgen früh wieder hinausgehen, Hans?« — »Ja«, sagte Hans, »ich will.«

Am andern Morgen stand Hans auf, um alle Stiefel zu putzen, und der alte Herr stand auch auf und ging hinaus. »Hast du gefrühstückt, Hans?«fragte er. »Nein, noch nicht«, antwortete Hans. »So geh und frühstücke erst. Ich möchte, daß du wieder mit den Hasen hinuntergehst.« —»Ja, ich will jetzt gehen.« — »Dein Mittagessen ist in dem Korbe, Hans.«

Der Herr blies auf der silbernen Pfeife, und da liefen die Hasen herbei. »Sind alle da?«fragte Hans. »Zähle sie«, sagte der Herr zu Hans, und Hans zählte sie und sprach: »Ja, Herr, sie sind alle da.«

Er ging mit den Hasen in die Felder hinab. Da saß wieder die kleine, alte Frau. Hans gab ihr den Korb und sagte: »Es ist Essen im Überfluß darin. Ich brauche nur wenig.« Sie sprach: »Nun, Hans, geh, wohin du Lust hast, komme aber ein wenig vor Anbruch der Nacht wieder hierher.«

Hans ging weit über die Felder, bis er müde wurde. Dann kam er zu der alten Frau zurück. »Bist du hungrig, Hans?« fragte sie. »In dem Korbe ist Speise, wenn du ein wenig haben möchtest.« Dann sagte die alte Frau zu Hans: »Du wirst die junge Dame auf der Landstraße treffen, sie wird mit dir sprechen wollen, und sie wird dein Weib werden, Hans. Bringe mir auch wieder ein wenig zu essen. Vergiß mich nicht.« Hans blies die silberne Pfeife, und alle Hasen kamen gesprungen. Es fehlte nicht ein einziger.

Nun kehrte Hans nach Hause zurück, und als er eine ganz kleine Strecke auf der Landstraße gegangen war, sah er die junge Dame bei den Kühen. Und Hans machte eine Verbeugung vor ihr. Die junge Dame lächelte ihm zu, und die beiden plauderten zusammen. Schließlich versprachen sie sich, einander zu heiraten.

»Hans, sage es nicht meinem Vater«, bat sie, »ich wünsche nicht, daß er es weiß. Wir wollen in die Stadt gehen und uns



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dort heiraten. In einigen Tagen wollen wir gehen. Ich werde zuerst gehen, und du sollst mir folgen.«

Dann gab sie dem Jüngling an, wo sie sich in der Stadt treffen wollten, und machte sich auf den Weg. Hans folgte ihr und traf sie in der Stadt an dem verabredeten Orte. Am nächsten Tage wurden sie in einer schönen Kirche getraut, und dann gingen sie in ein großes Gasthaus. Endlich gingen sie nach Hause, und als sie heimgekommen waren, legte Hans seine besten Kleider ab und ging in den Stall, und sie ging in das Schloß, während er die Pferde besorgte. Und der alte Herr fragte die junge Dame: »Wo warst du?« — »Ich war nicht weit«, antwortete sie ihm.

Hans gedachte der kleinen, alten Frau, und er ging ins Haus, um für sie Essen zu holen, und trug es zu ihr hinaus. »Ich werde dich nie vergessen«, versprach er ihr und gab ihr die Speisen. Da weissagte die alte Frau ihm Glück: »Schließlich werden die alten Herrschaften sterben, dann wirst du an ihre Stelle treten. Aber ich muß ein Häppchen haben, wenn ich nach dem Schlosse komme.« — »Ja«, sagte Hans, »du sollst es haben, solange du lebst.«

Nach Hansens Heirat lebten der Schloßherr und seine Frau noch ein Jahr. Und Hans war noch immer als Diener da und schlief im Stalle. Doch nun starben der Herr und die alte Herrin, und Hans trat an ihre Stelle. Alsbald holte er seine alte Mutter, denn sie war zu alt, um länger allein sein zu können. Er führte sie ins Schloß und brachte sie zu den Kammerfrauen, die sie bedienen sollten. Und seine Frau gab ihr Kleider. Dann führten sie sie in das Wohnzimmer, und ihre Schwiegertochter plauderte mit der alten Frau und freute sich, sie bei sich zu haben. Sie lebte nun im Schlosse bis an ihr Lebensende.

Hans und sein Weib lebten noch viele Jahre, bis sie alt wurden und starben, und ihr Sohn ist nun Herr in dem Schloß.

Das ist alles, was ich dir erzählen kann.


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