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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


68. Die drei Brüder und der Zwerg

Es waren einmal drei Brüder, die waren auf der Wanderschaft, um sich nach Arbeit umzusehen. Die Nacht überraschte sie, und sie wußten nicht, wohin sie gehen sollten, um ein Unterkommen zu finden. Es war dunkel, und sie wanderten auf einer alten Landstraße durch den Wald.

Da sahen sie einen Lichtschimmer und kamen müde und hungrig zu einer Hütte. Durch den Türspalt gewahrten sie einen Tisch und darauf das fertige Abendbrot. »Geh hinein«, sprach der älteste Bruder. »Nein, ich mag nicht hineingehen, gehe du doch hinein!« — »Nein, ich wage es auch nicht!« — »Was seid ihr für Narren, ihr beide«, sagte Hans, der dritte. Und Hans ging hinein, setzte sich an den Tisch und aß sich satt. Die beiden anderen sahen ihm zu, aber sie fürchteten sich, in das Haus einzutreten. Schließlich gingen sie aber doch hinein, setzten sich nieder und aßen ebenfalls.

Auf einmal kam eine kleine Frau. »Es ist manches Jahr her, daß ich hier einen Menschen gesehen habe«, sagte sie. »Wie seid ihr denn hergekommen?« — »Wir suchen Arbeit.« — »Morgen werde ich Arbeit für euch finden«, sprach sie. Darauf gingen sie alle zu Bett.



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Als sie morgens aufstanden, fanden sie auf dem Feuer einen großen Topf Haferbrei und Milch. Das aßen sie.

Nun befahl die Frau dem ältesten Bruder, die Axt aus der Scheune zu holen und in den Wald zu gehen und Bäume zu fällen. Er ging, zog seinen Rock aus und machte sich an die Arbeit. Da kam ein kleines, altes Männlein und fragte ihn, wer ihm befohlen habe, den Wald abzuholzen. Doch er konnte dieses kleine, alte Männchen nicht sehen-so klein war es. Er sah zu Boden. Da entdeckte er es endlich im Grase. Das alte Männchen schlug und prügelte ihn, bis er blutete, und ließ ihn dann liegen. Nun kam die Magd mit dem Mittagessen. Sie eilte zurück und sagte den beiden anderen Brüdern, sie möchten kommen und ihn nach Hause holen. Da brachten sie ihn nach Hause und legten ihn zu Bett.

Am anderen Morgen ging der zweite Bruder in den Wald. Der älteste erzählte ihm, daß da ein kleiner Mann wäre, der ihn geschlagen habe. Doch der zweite Bruder lachte ihn spöttisch aus. Frohen Mutes ging er in den Wald und zog seinen Rock aus, um die Bäume zu fällen. Aber sieh! Jemand fragte ihn, wer ihm erlaubt habe, die Bäume zu fällen. Da sah er sich um, aber auch er konnte nichts sehen. Erst nach langer Zeit erspähte er das Männchen im Grase. »Pack dich«, sagte er. Aber der kleine Mann prügelte auch ihn windelweich.

Das kleine Mädchen kam wieder mit dem Mittagessen. Nachdem er gegessen hatte, kehrte das kleine Mädchen zurück und sagte den beiden anderen Brüdern, sie möchten herunterkommen und ihn nach Hause tragen. Sie gingen also hinunter und brachten ihn nach Hause. Hans lachte sie nun beide aus und meinte: »Nun, morgen werde ich selbst gehen!«

Am nächsten Morgen ging Hans zum Walde hinab und fällte Bäume. Plötzlich hörte er etwas und sah zur Erde nieder. Als er den kleinen Mann im Grase erblickte, gab er ihm einen Fußtritt. »Du hättest besser daran getan, ruhig zu sein«, sagte der kleine Mann und schlug ihn. Hans fiel zu Boden, und der kleine Mann schlug auch ihn halbtot.



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So lag Hans da, als das kleine Mädchen mit seinem Mittagessen kam. Sie kehrte wieder zurück und sagte zu den beiden Brüdern, sie sollten gehen und auch ihn nach Hause bringen. Die beiden gingen zu ihm hinunter. »Nein«, sagte Hans, »laßt mich hier und geht eurer Wege.« Da gingen sie nach Hause. Hans aber beobachtete den kleinen, alten Mann und sah, daß er unter einen Stein kroch. Dann stand er auf, ging nach Hause und trug seinen beiden Brüdern auf, in den Stall zu gehen und die Pferde herauszuführen - vier an der Zahl. Sie nahmen einen starken Strick mit sich, und alle drei gingen mit den Pferden zum Walde hinunter und legten den Strick um den Stein. Dann bestiegen sie die Pferde und rissen mit ihrer Hilfe den Stein aus dem Loch und fanden darunter eine Quelle.

»Steige hinunter«, sagte einer. »Ich nicht«, entgegnete der andere, »ich will nicht hinuntergehen.« — »So will ich hinuntergehen«, sagte Hans. »Macht den Strick fest und laßt mich hinunter, und wenn ihr mich rufen hört >Zieht mich hinauf!<, dann zieht mich hinauf; und wenn ich euch sage: >Laßt mich hinunter!<, so laßt mich hinunter.«

Die beiden Brüder banden ihn fest und ließen ihn hinab. Er ließ sich ein ganz kleines Stück hinunter, doch da schlug ihn schon der kleine, alte Mann. »Zieht mich hoch!« rief er.

Nach einer Weile ließ er sich wieder hinunter. Da er aber nun vergaß, >Zieht mich hoch!< zu rufen, so gelangte er in ein wunderbares Land und sah dort den kleinen Alten wieder. Der sprach zu ihm: »Weil du in dieses Land gekommen bist, will ich dir etwas sagen. Du wirst drei Schlösser finden. In dem ersten lebt der Riese mit zwei Köpfen.« Und der kleine, alte Mann fügte hinzu: »Du mußt mit ihm kämpfen, aber« — so riet er ihm - »wähle nur das alte Schwert. Ich werde dort dir zur Seite sein.« — »Ich werde mich vor ihm fürchten«, meinte Hans, doch der Alte antwortete: »Gehe ruhig hin und fürchte nichts. Ich werde dir beistehen.«

Nun kam Hans zu dem Schlosse. Als er an das Tor klopfte,



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kam eine Dienerin heraus, und er fragte sie, wo der Herr wäre. Sie sagte: »Er ist drinnen im Hause. Wünschest du ihn zu besuchen?« — »Ja«, antwortete Hans, »ich möchte mit ihm kämpfen.« — »Er wird dich töten«, sprach sie. Aber Hans erwiderte: »Geh, bitte ihn herauszukommen.« Da ging das Mädchen und bat den Herrn herauszukommen.

»Willst du etwas essen?« fragte der Riese. »Nein«, erwiderte Hans, '>komm heraus. Ich will mit dir kämpfen.« — »Komm her und wähle dir ein Schwert«, sprach der Herr. Hans wählte das rostige, alte Schwert. »Warum wählst du das rostige, alte Schwert? Nimm ein blankes!« — »Nein! Dieses ist gut genug für mich«, meinte Hans.

Die beiden gingen hinaus vor das Tor und kämpften. Schon fiel ein Kopf des Riesen zu Boden. »Laß mich leben, Hans, ich will dir mein ganzes Geld geben«, rief er. »Nein«, sagte Hans und hieb nach dem anderen Kopf und schlug auch ihn ab. Und dieses geschah bei dem Kupfer-Schloß — so nannten es die Leute.

Nun ging Hans zu dem nächsten Schlosse, dem silbernen. Dort war ein Riese mit drei Köpfen .Hans nahm wieder das rostige Schwert und schlug zwei Köpfe ab. »Töte mich nicht, Hans, schone mein Leben. Ich will dir die Schlüssel des Schlosses geben.« — »Nein, das will ich nicht«, sagte Hans, und der dritte Kopf flog ab.

Dann ging Hans zum nächsten Schlosse, dem goldenen. Dort war ein Riese, der hatte vier Köpfe. »Kommst du her, um mit mir zu kämpfen?« fragte er. »Ja«, erwiderte Hans. Der Riese befahl ihm, sich ein Schwert zu nehmen, und Hans wählte das alte, rostige Schwert. Dann gingen sie hinaus. Schon hatte er dem Riesen drei Köpfe abgeschlagen, da flehte dieser: »Töte mich nicht, Hans, ich will dir meine Schlüssel geben.« — »Nein«, sagte Hans, und ab war der vierte Kopf. Nun gehörten ihm alle drei Schlösser und das ganze Geld. Und in jedem Schlosse lebte eine schöne Dame. Hans machte sich nun auf den Rückweg, und die Dame aus dem goldenen



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Schlosse ging mit ihm. Er kam zu dem silbernen Schlosse und holte auch jene Dame. Dann ging er zu dem kupfernen Schlosse und nahm die Dame, die darin wohnte, auch mit. Und die vier begaben sich an die Stelle, wo Hans heruntergekommen war.

Dort saß der kleine, alte Mann und wartete auf ihn. Hans sandte die drei Damen dort hinauf, wo seine beiden Brüder noch warteten. Nun bat der alte Mann um Fleisch, und Hans kehrte nach dem Schlosse zurück und kochte Fleisch für ihn. Darauf stieg der alte Mann ein ganz kleines Stück Weges mit Hans hinauf. Dann hielt er an und verlangte wieder Fleisch. Hans gab ihm etwas Fleisch, und er stieg wieder ein kleines Stück mit ihm hinauf. Wieder hielt er an und verlangte Fleisch. Nachdem Hans ihm etwas gegeben hatte, gingen sie ein kleines Stück weiter hinauf. »Gib mir ein wenig Fleisch«, sprach das Männchen wieder. Aber Hans hatte keines mehr. Er hatte nur ein kleines Stück mitgenommen und wußte nun nicht, wie er sich helfen sollte. Da griff er in seine Tasche, zog sein Messer heraus und schnitt ein wenig Fleisch von seinem Bein ab und gab es dem alten Mann. So gelangte Hans endlich zur Oberwelt.

Die beiden Brüder waren mit zwei von den Damen fortgegangen und hatten Hans die häßlichste zurückgelassen. Der älteste Bruder hatte die schönste Dame genommen, und der zweite Bruder die andere, die häßlichste aber war für Hans geblieben.

Hans fragte, wohin sie gegangen seien. Die Dame gab ihm Auskunft, und er eilte hinter ihnen her. Bei der Kirche holte er sie ein. Gerade wollten sie sich trauen lassen. Die schönste Dame aber schaute sich nach Hans um. Da sprach er zu sich: »Diese wird mein!« Hans nahm also die schönste für sich und heiratete sie. Die andere Dame ließ er seinem ältesten Bruder. So blieb denn für den zweiten Bruder die häßliche Dame übrig. Das sind also die drei Brüder und die drei Damen.

Nun wollten sie hinunter zu den Schlössern gehen. Hans



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bat also das alte Männlein, sie doch alle wieder hinunterzubringen. »Ich will euch hinuntertragen«, sprach es, »aber du mußt mir auch zu essen geben, wenn ich hinunterkomme.« — »Ja«, antwortete Hans, »ich will dir mehr als genug geben.« Da trug der Alte sie alle hinunter.

Der alte Mann wich nun Hans nicht mehr von der Seite. Dieser setzte den einen Bruder mit seiner Frau in das kupferne Schloß und den andern Bruder in. das silberne. Hans selbst aber zog in das goldene Schloß. Und er behielt den kleinen, alten Mann bei sich, solange er lebte. Nun bin ich fertig.


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