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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


66. Der grüne Mann

In einer Mühle hauste ein junger Mann mit seiner Magd. Dieser Mann war ein großer Kartenspieler. Niemand konnte ihn besiegen, er war allen überlegen.

Da kam ein Herr und trat zu ihm ins Zimmer. Die beiden hatten ein Wort zusammen zu reden. »Willst du spielen?« fragte der Herr den jungen Mann, denn die Karten lagen auf dem Tisch. »Ja«, antwortete der junge Mann.

Und die beiden spielten. Als der Müller den Herrn besiegt hatte, fragte ihn dieser: »Was willst du haben?« — »Ich möchte gerne ein Schloß haben«, antwortete Hans. Kaum hatte er das Wort gesprochen, so hatte er das Schloß.

Der Herr sagte nun zu Hans: »Willst du noch einmal spielen?« —»Ja«, antwortete Hans. Und die beiden spielten, und diesmal gewann der Herr, und er sagte zu Hans: »Du mußt jetzt mein Schloß suchen. Mein Name ist der grüne Mann, der in Niemandsland wohnt. Und wenn du mein Schloß nicht in einem Jahr und einem Tag findest, werde ich dir den Kopf abschlagen. «

Die Zeit verging. Man sah Hans zu Pferde auf der Suche nach diesem Mann. Er ritt sehr weit; es war kalt, und es lag tiefer Schnee. Die Nacht brach über ihn herein, und er ward hungrig. Da sah er ein kleines Haus neben der Landstraße; er sprang vom Pferde, ging an die Tür und klopfte an.

Schau, eine kleine, alte Frau kam zu ihm heraus. Hans bat sie um ein Nachtlager. »Ja«, sagte die alte Frau, »komm nur herein!« Er setzte sich ans Feuer und plauderte mit der Alten, während sie das Abendbrot für ihn zubereitete. Hans fragte die alte Frau, ob sie etwas von einem Manne wüßte, dessen Name der grüne Mann sei, der in Niemandsland wohne. »Nein«, erwiderte die alte Frau, »ich habe niemals seinen Namen gehört. Aber ich werde dich morgen wissen lassen, ob ein Viertel der ganzen Welt ihn wohl kennt.«

Am Morgen frühstückten sie. Dann ging die alte Frau hinaus



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und rief den Jüngling. Draußen an der Tür stand eine Leiter. Die alte Frau stieg hinauf, kletterte auf das Haus und blies das Horn. Siehe, da kamen viele Leute. Da fragte die Alte sie, ob sie etwas über jenen Mann wüßten oder gehört hätten, und nannte ihnen den Namen. »Sein Name ist >der grüne Mann< usw.« — Nein, sagten sie, sie hätten diesen Namen noch nie gehört, und gingen wieder fort.

Die alte Frau blies wieder ins Horn. Da kamen die Vögel zu ihr. Sie fragte die Vögel, ob sie etwas von einem Manne wüßten oder gehört hätten, der den Namen >der grüne Mann< usw. trage. Als sie ihre Köpfe schüttelten, rief sie: »Packt euch!« Da flogen die Vögel wieder davon.

Die alte Frau sprach nun zu Hans: »Ich habe noch eine Schwester. Gehe zu ihr; sie wird das Weitere mit dir besprechen, denn sie weiß mehr, als ich weiß. Nimm mein Pferd und lasse dein Pferd hier.« Sie gab ihm ein Knäuel Garn und befahl ihm, das Knäuel über die Ohren des Pferdes zu werfen. Hans tat es und saß auf.

Er kam zu ihrem Hause, das genau so aussah, wie die alte Frau es ihm beschrieben hatte. Die Alte rief Hans ins Haus hinein und sagte: »Ich habe das Haus meiner Schwester lange Zeit nicht gesehen.«

Nachdem dann Hans das Pferd in den Stall gebracht hatte, rief die Alte ihn ins Haus zum Abendessen. Die beiden setzten sich an den Tisch und aßen. Als sie fertig waren, plauderten sie, und Hans nannte der alten Frau den Namen des grünen Mannes und fragte sie, ob sie schon von dem Manne gehört hätte. »Nein«, antwortete sie, »solch einen Namen habe ich noch nie gehört. Du sollst aber morgen früh etwas über ihn erfahren.« Dann gingen sie schlafen. Am andern Morgen zogen sie sich an, kamen herunter und aßen ihr Frühstück. Als sie damit fertig waren, ging die Alte hinaus, rief Hans, stieg auf die Leiter und blies das Horn.

Siehe da! Die halbe Welt kam angelaufen. Alle kamen zu ihr, und die Frau fragte sie, ob sie etwas über den Mann



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wüßten, und sie nannte seinen Namen - der grüne Mann usw. — Aber nein, sie hatten den Namen noch nie gehört. »Dann packt euch!« rief die Alte.

Die alte Frau blies wieder ins Horn. Siehe da! Die Hälfte aller Vögel der Welt kamen zu der alten Frau, und sie fragte sie, ob sie von solch einem Manne wüßten oder gehört hätten. »Sein Name ist >der grüne Mann< usw.« Nein, sie hatten den Namen noch nie gehört. »Dann packt euch«, rief sie den Vögeln zu.

»Komme herein, Hans, ich habe noch eine Schwester, wenn sie es nicht weiß, gibt es niemanden, der es weiß. Besteige mein Pferd, Hans, und laß das Pferd meiner Schwester hier. Nimm ein Knäuel Garn und wirf es dem Pferde über die Ohren.«

Das tat er. Nun kam er zu dem Hause der ältesten Schwester. Sie stand vor der Türe, als Hans kam, und blickte ihn an. »Das ist das Pferd meiner Schwester«, sagte sie, »ich habe es lange Zeit nicht gesehen. Bringe das Pferd in den Stall und gib ihm Futter!« Und Hans tat es.

Die alte Frau rief ihn darauf in das Haus zum Abendessen. Die beiden setzten sich an den Tisch und aßen sich satt, und Hans sprach mit der alten Frau und fragte sie, ob sie den Namen von dem Manne wisse. »Nein«, sagte die alte Frau, »ich habe ihn noch nie gehört. Aber du sollst morgen von ihm erfahren.« Dann gingen sie zu Bett.

Am andern Morgen stand die alte Frau auf, machte Feuer an, stellte den Kessel auf und rief Hans herunter. Er kam, setzte sich an den Tisch, und sie frühstückten. Als sie fertig waren, setzten sie sich ans Feuer; Hans rauchte seine Pfeife und unterhielt sich mit der alten Frau. Dann stand diese auf und ging hinaus, rief Hans und stieg die Leiter hinauf und blies in das Horn.

Und siehe da! Alle Bewohner der Welt kamen zu ihr. Die alte Frau fragte sie, ob sie etwas über den Mann wüßten, und nannte seinen Namen - der grüne Mann usw. — Nein, sie



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hatten den Namen niemals gehört. »Packt euch!« rief die alte Frau. Da gingen sie fort.

»Warte ein Weilchen, Hans, ich werde alle Vögel auf der ganzen Welt zusammenrufen«, sagte die Alte und blies wieder in das Horn.

Siehe da! Alle Vögel kamen zu ihr. Sie fragte sie, ob sie von dem Manne wüßten. »Ich werde euch seinen Namen nennen, er heißt der grüne Mann.« Doch alle Vögel sagten: »Nein!« Sie hatten seinen Namen noch nie gehört.

Die alte Frau kam nun herunter und öffnete ihr Buch, um nachzusehen, ob alle Vögel dagewesen wären. Da fand sie, daß ein Vogel gefehlt hatte. Nun stieg die Alte wieder auf das Haus und blies wieder das Horn. Und siehe! Jetzt kam auch der ausgebliebene Vogel. Es war der Adler. Da sagte sie zu ihm: »Hund, wo warst du so lange?« — »Ich war bei einem Manne, ich komme gerade von dem Lande des grünen Mannes.« Und der Adler erzählte, wo es war. »Pack dich!« rief die Alte. »Mehr wollte ich nicht wissen.«

»Komm herein, Hans, ich will dir etwas sagen. Laß das Pferd meiner Schwester hier und reite mein Pferd, und nimm ein Knäuel Garn und wirf es dem Pferde über die Ohren!«

Hans bestieg das Pferd. Und die alte Frau sprach zu Hans: »Berühre nichts auf dem Wege! Laß das Pferd ruhig gehen. Du wirst an einen großen See kommen und auf dem See drei weiße Vögel sehen; steige dann ab und verbirg dich am Ufer. Du wirst sehen, wie diese drei weißen Vögel sich dir nähern, ihr Federkleid abschütteln und ein Bad nehmen. Zwei werden zusammen in den See steigen und baden; der letzte wird etwas verweilen, aber dann ebenfalls seine Federn abschütteln. Dann werden alle drei miteinander baden. Paß nun auf, Hans, geh hin, nimm die Federn des dritten und behalte sie. Er wird zu dir kommen und seine Federn zurückverlangen. Gib sie ihm aber nicht, sondern befiehl ihm, dich über den See nach seines Vaters Schloß zu tragen.«



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Hans tat, wie ihm geheißen war. Er ritt fort und fand den See, von dem die alte Frau gesprochen hatte; und als der letzte Vogel ins Wasser gegangen war, nahm ihm Hans die Federn weg.

»Trage mich über den See zu deines Vaters Schloß!« befahl er ihm dann. Der Vogel erwiderte: »Ich habe keinen Vater.« —»Doch«, sagte Hans. »Nein«, versetzte er wieder.

Und der Vogel weinte und verlangte seine Federn von ihm zurück.

»Trage mich über den See, dann sollst du deine Federn haben«, sagte Hans. »Klettere auf meinen Rücken, aber erzähle meinem Vater nicht, daß ich dich über den See getragen habe, wenn du zum Schlosse hinaufsteigst.«

Und der Vogel trug ihn hinüber, und als er drüben war, verwandelte er sich in eine Jungfrau.

Hans stieg nun zum Schloß hinauf. Er kam an ein Tor und klopfte an. Schau! Da kam der Herr heraus und fragte: »Hast du das Haus gefunden, Hans? Es ist wohl eine meiner Töchter bei dir gewesen?« — »Kein Gedanke«, sagte Hans, »ich habe keine von ihnen gesehen!« — »So komm herein«, sprach der Herr und gab ihm zu essen. Dann befahl er ihm, den Stall reinzumachen, und sagte: »Wenn du es nicht tust, soll dir der Kopf abgeschlagen werden.« Hans zog seinen Rock aus, um ans Werk zu gehen. Aber statt eines Spatens voll Unrat, den er hinauswarf, kamen drei neue wieder herein. Er ermüdete endlich und legte die Arbeit nieder und setzte sich.

Plötzlich kam die jüngste Tochter und brachte ihm zu essen. »Komm, Hans, und iß!« sagte sie. Hans stand auf und aß, und als er gegessen hatte, war der Stall gereinigt, und aller Unrat war hinausgeworfen. Die Jungfrau aber sagte: »Hans, erzähle meinem Vater nicht, daß ich bei dir gewesen bin.«

Als der alte Herr herauskam und in den Stall sah, sagte er: »Ich weiß, Hans, daß meine Tochter bei dir war.« — »Ich habe deine Tochter nicht gesehen. Ich weiß von nichts. Ich



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kenne ja deine Tochter gar nicht«, beteuerte Hans. Da ging der Herr fort.

Doch als Hans aus dem Stall kam, stand plötzlich auch der Herr draußen und rief ihm zu: »Ich habe Bäume, die du bis mittag gefällt haben mußt.« Und er ging mit ihm, um ihm die Bäume zu bezeichnen, und es waren recht große Bäume. »Da sind sie, Hans, siehst du sie?« — »Ja«, antwortete Hans.

Hans zog seinen Rock aus, fällte aber nur drei Bäume. »Wenn ich zu Hause wäre, würde ich dort sterben, nun muß ich hier sterben«, klagte er dann und setzte sich nieder und weinte. Da kam die Jungfrau mit dem Mittagessen zu ihm und sagte: »Komm, Hans, und iß dein Mittagbrot.« Und Hans aß.

»Schau her!« sagte sie nun. Da sah er, daß alle Bäume gefällt waren. »Hans, erzähle meinem Vater nicht, daß ich bei dir war. Mein Vater wird dich danach fragen, du aber sage >nein<.« Und damit verließ ihn die Jungfrau.

Nun kam der alte Herr und sagte: »Hans, ich weiß, daß eine meiner Töchter bei dir war.« — »Du lügst! Ich weiß nichts von deinen Töchtern, nichts!« sagte Hans, und die beiden kehrten zum Schlosse zurück. »Ich brauche eine Scheune, die dort gebaut werden soll«, sprach der Herr. »Und Hans soll diese Scheune bauen, und er soll von jedem Vogel eine Feder nehmen, um das Dach herzustellen.« Hans baute also die Scheune auf, aber das ganze Dach fehlte noch. Er fing einen kleinen roten Vogel und nahm eine seiner Federn und ließ den kleinen roten Vogel wieder fliegen. Doch dann setzte er sich nieder und wußte nicht, was er weiter tun sollte.

Da saß er nun, als die Jungfrau mit dem Tee kam. »Steh auf, Hans, und trinke Tee«, sagte sie, und Hans sprang auf und trank und verzehrte alles. »Deine Aufgabe ist nun gelöst. Doch sage meinem Vater, Hans, daß du dich weder um ihn, nach um seine Töchter kümmerst.«

Und weiter sprach die Jungfrau zu Hans: »In dem See ist ein Berg, er ist eine Meile vom Ufer entfernt. Ein Vogel wird



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dorthin kommen und ein Ei legen. Morgen wird mein Vater dir das sagen, Hans. Und du sage, daß du es holen willst. Gehe mutig zum Wasser. Ich werde dort sein.«

Der Morgen kam. Der alte Herr trug Hans auf, was er zu tun habe. »Puh!« sagte Hans, »das ist unangenehm!« Er ging aber dennoch an das Wasser und setzte sich nieder. Plötzlich kam die Jungfrau mit dem Frühstück. »Hier hast du dein Frühstück, Hans.« Als er alles aufgegessen hatte, sprach sie: »Ziehe deinen Stiefel aus, Hans, und wünsche, daß der Stiefel in ein Schiff verwandelt werde.« So geschah es.

Und die beiden schuften sich ein und kamen zu dem Berge. Aber Hans konnte nicht hinaufklettern. »Wünsche, daß meine Finger sich in eine Leiter verwandeln, damit du hinaufklettern kannst!« Kaum sprach Hans diesen Wunsch aus, da war die Leiter zum Hinaufsteigen da. Und die Jungfrau sagte zu ihm: »Wenn du die Sprossen hinaufsteigst, nimm eine nach der andern, laß ja keine aus!« Doch er übersah eine, da brach ein Finger der Jungfrau. Nun nahmen sie das Ei. Und die beiden kehrten zurück. »Sage meinem Vater, Hans, wenn du zu dem Schlosse zurückkommst, und er dich fragt, ob ich bei dir war, >nein, ich weiß nichts von dir noch von deinen Töchtern<.«

Der alte Herr sagte: »Eine von meinen Töchtern war mit dir.« — »Nein«, antwortete Hans, »ich habe sie nicht gesehen.« — »Ich habe für dich noch eine kleine Morgenarbeit«, meinte nun der Herr. »Mir ist es recht; was ist es?« fragte Hans.

Als Hans draußen war, sah ihn die Jungfrau und sprach zu ihm: »Hans, ich habe zwei Schwestern. Morgen will mein Vater uns in drei weiße Vögel verwandeln. Wir drei Schwestern werden dreimal über das Haus fliegen. Und mein Vater wird bei dir sein und wird dir befehlen, dreimal dieselbe zu wählen. Wenn wir das Haus überfliegen, Hans, so wähle die erste und wenn wir zurückfliegen, wähle die mittlere, und wenn wir wieder zurückkehren, so wähle die dritte.«



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Der Morgen brach an. Der alte Herr und seine Frau standen mit Hans zusammen vor der Tür. Siehe! Da flogen drei Vögel über das Haus. »Ich will den ersten haben«, rief Hans. Halloh! sie kamen zurück. »Ich will den mittelsten haben!« Halloh! sie kamen wieder zurück. »Welcher soll es jetzt sein?« Hans sagte zu dem Herrn: »Ich will den letzten haben.« — »Ja, Hans, du sollst sie erhalten, sie soll dein Weib sein.«

Da heirateten sie sich. Und nachdem der alte Herr und seine Frau gestorben waren, lebte Hans mit seinem Weibe in dem Schlosse. Nun ist die Geschichte aus.


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