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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


64. Der arme Maler

Es war einmal ein Graf, der hatte eine Tochter im Alter von siebzehn Jahren. Und er erlaubte ihr nicht, ins Freie zu gehen. Aber eines Tages ging sie doch einmal hinaus ins Freie und stieg zum Flusse hinunter. Da kam das Fährboot über das Wasser gefahren, und darin befanden sich zwei Räuber, die entführten des Grafen Tochter.

Man suchte das Mädchen ein Jahr lag, aber man fand es nicht. In der Nähe des Grafen wohnte ein armer Maler. Eines Tages sagte der Maler zu dem Grafen: »Ich will durch das ganze Land ziehen und das Mädchen suchen. Welchen Weg schlug das Mädchen ein, als sie das Haus verließ?« Und der Graf zeigte ihm, in welcher Richtung das Mädchen zum Wasser gegangen war. Da machte sich der Maler auf den Weg.

Er rastete dicht an dem Platz, zu dem die Räuber das Mädchen getragen hatten. Diese schlugen und beraubten auch ihn; es waren dieselben Räuber, die das Mädchen entführt hatten. Dann schleppten sie den Jüngling tief in den Wald hinein.

Der Jüngling war ein sehr geschickter Maler. Der Anführer der Räuber sprach zu ihm: »Wenn du uns gehorchst, werden wir dich nicht schlagen. Ich habe diese einzige Tochter. Du mußt schwören, daß du sie nie liebkosen wirst. Wenn das Mädchen zu dir sagt: >Willst du mich nicht liebkosen?<, mußt du es uns augenblicklich berichten.« Und der Räuber ging fort, um zu stehlen.

Als der Räuber fort war, nahm das Mädchen den Jüngling bei der Hand und führte ihn ins Haus durch 24 Türen. Hinter der letzten Tür schloß sie den Jüngling ein und zog ihre Pistole heraus. Da ergriff der Jüngling die Pistole und schoß sie in den Kopf. Als ihre Mutter kam, erschoß er auch



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sie. Dann ging der Jüngling durch die Zimmer; aber er fand sie nicht, die er suchte. In dem letzten endlich fand er sie, fand er das Mädchen, des Grafen Tochter, die mit 17 Jahren



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gestohlen war. Sie war völlig unbekleidet. Als sie den Jüngling vor sich sah, fühlte sie ihr Herz schlagen. Da merkte er, daß das Mädchen des Grafen Tochter war, nach der er das ganze Land durchsucht hatte.

Und der Jüngling sagte zu ihr: »Ich bin dir durch das ganze Land, ja durch die ganze Welt gefolgt, um dich zu finden. Was sollen wir tun? Wohin sollen wir gehen?«

Und er nahm sie auf seinen Rücken und nahm Fleisch, Brot, Wein und viel Geld mit sich und ging mit ihr in den Wald.

Aber er wußte nicht, welchen Weg er gehen solle. Da kamen sie an das große Wasser. Hier konnten sie nicht weitergehen, das große Wasser lag vor ihnen. Da sagte er zu dem Mädchen: »Wir können nicht hinüber. Laß uns hier anhalten. Wir wollen auf den großen Baum klettern und uns schlafen legen, denn die Räuber werden hinter uns herkommen und würden uns finden, wenn wir unten blieben.«

Als die Räuber von ihrem Raubzug zurückkehrten, sahen sie, daß des Häuptlings Tochter und sein Weib erschlagen waren und daß des Grafen Tochter gestohlen war. Da gingen sie sofort in vielen Richtungen auseinander, um den Jüngling zu suchen, denn sie wußten, daß er es gewesen war, der des Räubers Weib und seine Tochter getötet hatte und mit des Grafen Tochter entflohen war. Die Räuber fuhren im Fährboot auf dem Wasser. Sie kamen auch an den Baum, auf dem der Jüngling und das Mädchen schliefen, und sie banden das Boot daran an. Einer der Räuber sagte: »Kamerad, sicher wird der Junge kommen und das Mädchen mit ihm. Er muß hierher kommen. Wohin sollte er sonst entfliehen? Von hier kann er nicht weiter gehen.« Der andere antwortete: »Ich will mich niederlegen und du, Kamerad, mußt wachen, und wenn ich aufstehe, kannst du schlafen.«

Der Knabe und das Mädchen beobachteten die Räuber. Und der Knabe nahm die Weinflasche und goß sie dem Räuber in den Mund, als er schlief. Sagte der Räuber zu dem



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anderen: »Gieße nicht Wasser in meinen Mund, laß mich schlafen, denn ich bin müde.«

Sagte der andere Räuber: »Ich habe kein Wasser in deinen Mund gegossen.« — »Du hast doch Wasser in meinen Mund gegossen!« Und die Räuber schlugen einander. Der eine wurde von seinem Gefährten erschlagen, und den andern erschoß alsdann der Knabe vom Baum aus.

Nun stiegen der Knabe und das Mädchen von dem Baum herunter und setzten sich in dasselbe Boot, in dem die Räuber das Mädchen damals entführt hatten. Und sie gingen heim zu dem Grafen, dem Vater des Mädchens. Er gab das Mädchen dem jungen Maler, und sie hielten Hochzeit. Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er heute noch.


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