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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


62. Der Dumme, der König wird

Es war einmal ein Bürgermeister, der neun Söhne hatte. Einer aber von ihnen war dumm. Er aß zusammen mit den Schweinen. Als die neun Brüder sich zum Militärdienst stellten, nahm man acht, den Beschränkten nahm man nicht. Da ging er auf Wanderschaft. Bald ging es ihm aber so schlecht, daß er fast vor Hunger starb. In seiner Not wandte er sich an seinen Vater, er sei Unteroffizier, sein Vater solle ihm 100 Mark schicken. Der schickte sie ihm. Darauf schrieb er wieder an seinen Vater, er solle ihm 200 Mark schicken, er sei Leutnant. Wieder schickte der Vater ihm das Geld. Alsdann sandte er ihm noch einen Brief, er solle ihm 300 Mark schicken, denn er sei Major. Da überlegte sein Vater: >Wenn er Major ist, warum bittet er mich um Geld? Der hat in seiner Dummheit den Brief gesandt.< Darum schickte ihm sein Vater nun kein Geld mehr. Aber der Sohn starb beinahe vor Hunger und wandte sich an den König. Der König warf ihn jedoch dreimal hinaus. Trotzdem ging er immer wieder hinein, bis der König ihn fragte: »Was willst du?« Jener törichte Jüngling antwortete: »Ich möchte Arbeit, nur soviel sollst du



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mir geben, daß ich davon leben kann.« Der König fragte ihn: »Welche Arbeit verstehst du?« Der Jüngling erwiderte: »Es ist einerlei, welche.« Da meinte der König, ob er wohl den kleinsten Ring von der Hand seiner jüngsten Tochter bringen könne. Der Dumme antwortete, er könne ihn bringen. Der König aber sprach zu ihm, wenn er ihn innerhalb zweier Jahre nicht bringen würde, dann Ware es um sein Leben geschehen. Der törichte Jüngling brach also auf und zog immer geradeaus durch Flüsse, Wälder und Felder. Wenn der Weg sich krümmte, folgte er ihm nicht, sondern wanderte immer geradeaus weiter. Als er schon einundeinhalb Jahre unterwegs war, legte er sich auf den Wegrain und begann zu weinen. Da trat eine Greisin zu ihm und fragte ihn: »Warum weinst du?« Er erwiderte ihr: »Ich bin eine Wette eingegangen mit dem König. Wenn ich nicht den Ring von der Hand seiner jüngsten Tochter bringe, tötet er mich.« Da sprach die Alte zu ihm: »Mein Sohn, weine nicht, du mußt von hier aus einen Weg von drei Monaten unter der Erde wandern. Wenn du ihn zurückgelegt hast, gewahrst du an einer Tür zwei Männer. Sobald sie dich erblicken, öffnen sie ihren Mund, um dich zu verschlingen. Du brauchst aber keine Furcht zu haben, du mußt nur zwischen ihnen hindurchspringen und dich auf das Bett des Mädchens legen. Wenn dann nachts um zwölf Uhr das Mädchen kommt, öffnet es seinen Mund, um dich zu verschlingen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten; und wenn sie zu dir sagt, du sollest von ihrem Bette aufstehen, mußt du sagen, du stündest nicht auf, ehe sie dir nicht den kleinsten Ring von ihrem kleinen Finger gäbe.« So geschah's, und sie gab ihm den Ring. Als sie den einen gegeben hatte, sprach er: »Mädchen, gib mir auch den zweiten Ring.« Sobald sie den zweiten gegeben hatte, sagte er zu ihr: »Gib mir auch den dritten!« Da gab sie ihm auch den dritten. Nachdem er neun Ringe von ihr bekommen hatte, sagte sie zu ihm: »Da du also meine Ringe von mir bekommen hast, magst du mich selbst nehmen. Denn so habe ich nun auch keinen Mut mehr.«



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Der Jüngling nahm sie nun und ging mit ihr zusammen. Sie hätten zwei Jahre gehen sollen, vollendeten aber ihren Weg in drei Monaten. Als sie zur Stadt kamen, wo der König wohnte, sprach der Jüngling zum Mädchen: »Bleibe du hier, während ich zu deinem Vater gehe.« Als er vor ihren Vater trat, sagte er zu ihm: »Guten Tag!« Und der König fragte den Jüngling: »Hast du den Ring gebracht?« — »Ich habe ihn gebracht. Was sagst du dazu, wenn ich auch den zweiten und dritten Ring herbeigebracht habe?« Und der Jüngling fügte hinzu: »Was wirst du sagen, wenn ich auch deine Tochter gebracht habe?« Da antwortete der König: »Wenn du auch meine Tochter herbeigebracht hast, dann sollst du König und das Mädchen Königin werden.« Da machte sich der Jüngling auf und ging zu dem Mädchen und führte sie nach Hause. Als ihr Vater und ihre Mutter sie erblickten, begannen sie zu weinen. Der Jüngling wurde nun Mitregent. Sechs Wochen hatte er mit seiner Gemahlin zusammengelebt, da sandte er einen Brief an seinen Vater und teilte ihm mit, daß er König geworden sei. Als sein Vater den Brief las, lachte er ihn aus und schickte ihm keine Antwort. Der Jüngling sandte darauf noch vier Briefe, aber nie bekam er eine Antwort. Da sprach er zu seiner Gattin, er müsse zu seinem Vater reisen, und befahl seinen Kutschern, sie sollten vier Pferde anspannen. Dann setzte er sich in den Wagen. Vier Diener und zwei Kutscher begleiteten ihn. Er fuhr bis zwölf Uhr nachts und gelangte zu einem Gasthaus. Als sie angehalten hatten, trat er hinein und fragte, ob sie hier übernachten könnten oder nicht. Der Wirt antwortete ihm, sie könnten übernachten. Aber sie fuhren den Wagen nicht gut und fuhren ihn in den Garten. Dann legte sich der König nieder und schlief. Es befanden sich aber dort 48 Räuber, die töteten die Bedienten, Kutscher und Pferde und zerstörten die Kutsche. Und es war da ein kleines Mädchen, die lief zum König, weckte ihn und sprach zu ihm, wenn er ihr den kleinen Ring von seinem Finger gäbe, dann würde sie ihm etwas sagen. Da gab er ihr



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den Ring, und sie sprach: »Stehe schnell auf und eile hinweg! Denn hier sind 48 Räuber, sie haben alle deine Pferde, Kutscher und Diener umgebracht und sie kommen, um auch dich zu töten.« Als er das hörte, sprang er im Hemd zwei Treppen hoch aus dem Fenster hinab und lief weg. Die Räuber holten ihn nicht ein, und er eilte, bis er zu seinem Vater kam, und erzählte ihm, er sei nun König. Als sein Vater das hörte, sprach er zu ihm: »Du Tor, geh hinaus und weide die Schweine und iß mit ihnen; was sie fressen, iß auch du.« Seine Gemahlin aber sandte Briefe an den Vater des Jünglings: »Ist der Jüngling dort oder nicht?« Er gab ihr aber keine Antwort, und sie wartete sechs Wochen lang. Dann befahl sie ihren Kutschern, sechs Pferde anzuspannen, und ließ ein Regiment Soldaten kommen. Hierauf stieg sie in ihre Kutsche und fuhr weg, von den Soldaten begleitet. Auch sie fuhr jenen gleichen Weg, und auch sie langte um zwölf Uhr nachts bei jenem Gasthaus an, wo ihr Gemahl eingekehrt war. Auf ihre Frage, ob sie übernachten könne oder nicht, antwortete ihr der 'Wirt, sie könne Unterkunft haben. Hierauf rief sie ihren Soldaten zu, sie sollten ihre Zelte aufschlagen. Dann ging sie hinein und bestellte sich Essen. Nun brachte ihr gerade jenes Mädchen das Essen, dem ihr Gemahl den Ring geschenkt hatte. Aber die Königin erblickte den Ring an der Hand des Mädchens und erkannte ihn. Sogleich fragte sie das Mädchen, woher sie den Ring habe, und sprach: »Du schlechte Dirne, gibst du mir diesen Ring oder nicht?« Da nahm das Mädchen den Ring und gab ihn ihr. Als die Königin nun fragte, wie sie zu diesem Ringe gekommen sei, und hinzufügte: »Wenn du nicht die Wahrheit sagst, werde ich dieses Wirtshaus sofort in Brand stecken«, da erzählte ihr das Mädchen die Wahrheit. Nachdem sie ihr alles berichtet hatte, nahm die Königin das Mädchen mit sich hinaus und befahl ihren Soldaten, sie sollten das Gasthaus zusammenschießen, denn es seien 48 Räuber darinnen. Da begannen die Soldaten auf das Haus zu schießen und töteten alle, die darinnen



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waren. Am Morgen schirrten sie an und fuhren weiter. Als sie abgefahren waren, kleidete sich die Königin in die Gewänder ihres Gemahls und erschien als der König. Als sie in dem Dorfe eintrafen, wo der Vater des Jünglings wohnte, fragte sie, wo der und der Bürgermeister wohne, der neun Söhne habe. Nachdem sie zu dem Bürgermeister gekommen war, fragte sie ihn: »Bürgermeister, du hast neun Söhne? Kannst du mir deine Söhne zeigen?« Da erzählte der Bürgermeister: »Acht Söhne sind beim Militär, und einer ist verrückt und fristet sein Leben bei den Schweinen.« Darauf antwortete die Königin: »Er sei, wie er sei; bringt ihn hierher.« Der Bürgermeister aber widersprach: »0 König, ich hole ihn nicht herbei, da er sehr beschränkt ist und ich mich seinetwegen schämen muß.« Die Königin jedoch gebot ihren Soldaten, sie sollten gehen und ihn herbeibringen, selbst wenn er so wäre, daß nicht einmal eine Fliege ihn berührte. Als sie ihn brachten, nahm ihn die Königin, küßte ihn und weinte über ihn. Dann legte sie die Gewänder ab und gab sie ihm. Hierauf sprach die Königin zu ihrem Gemahl: »Lieber Mann, dafür, daß dein Vater dich bei den Schweinen hat essen lassen, verbrenne ihn bei lebendigem Leib.« Der König aber entgegnete ihr: »Liebe Frau, da er so an mir gehandelt hat, mag er zu den Teufeln gehen.« Alsdann rief die Königin ihre Soldaten, und sie spannten an und fuhren nach Hause.

Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.


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