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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


52. Der schöne Petrus

E ine Witwe hatte einen Sohn. Man nannte ihn den schönen Petrus. Eines Tages drückte dieser seinen Ring in die Wand und sprach: »Mutter, wenn aus dem Ringe Blut fließt, dann bin ich tot.« Dann machte er sich auf und verließ seine Heimat. Unterwegs traf er einen Drachen mit sechs Köpfen. Er ergriff sein Schwert, tötete ihn, machte aus ihm sechs Haufen und steckte daneben eine rote Fahne in den Boden. Als er weiterging, kam ein Drache mit zwölf Köpfen ihm entgegen. Wieder zog er sein Schwert, tötete auch ihn, machte zwölf Haufen und steckte eine schwarze Fahne auf und ging weiter. Da kam einer mit vierundzwanzig Köpfen, er tötete ihn ebenfalls, machte vierundzwanzig Haufen aus ihm und ließ eine weiße Fahne zurück. Die Drachen - es waren im ganzen zwölf - hatten die Tochter des Kaisers geraubt und in ihre Burg gesperrt und kämpften täglich von früh bis um Mittag miteinander um das Mädchen. Dem Tapfersten sollte sie zufallen.

Die Mutter des Jünglings hatte diesem beim Abschied gesagt: »Du wirst nicht von eines Helden Hand sterben, sondern ein Schwächung wird dir den Tod bringen.«

Er ging nun zu jenem Schloß und sah das Mädchen am Fenster und fragte sie: »Was tust du hier?« — »Mich haben die Drachen geraubt und hier eingeschlossen.« — »Und wohin



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gingen sie?« — »Draußen kämpfen sie um mich.« — »Und wann kommen sie zurück?« — »Am Mittag werden sie zum Essen kommen. Dann werfen sie eine Keule gegen die Pforte als Zeichen, daß das Essen bereit sein soll.«

Der Jüngling öffnete die Tür und ging zu dem Mädchen hinein. Als dann die Drachen die Keule gegen die Tür warfen, ergriff sie der Jüngling, schleuderte sie zurück und tötete die Drachen alle. »Nun fürchte nichts, denn sie sind tot.« Da nahm er sich die Tochter des Kaisers. Sowie der Kaiser gehört hatte, die Drachen hätten seine Tochter geraubt, sprach er: »Wer sie von den Drachen befreit, soll sie heiraten.« Er wußte aber nicht, daß sie der schöne Petrus inzwischen befreit hatte, er glaubte, die Drachen hielten sie noch gefangen. In jener Stadt aber lebte ein Mann namens Tschutilla, der keine Hände hatte. Der ging zum Kaiser und sprach: »Ich, o Kaiser, will deine Tochter von den Drachen befreien.« — »Gut, wenn du sie holst, dann ist sie dein.« Da machte sich Tschutilla auf zu dem schönen Petrus. Doch als die Nacht über ihn kam und er keine Schlafstätte hatte, kroch er in einen Hühnerstall. In der Frühe erhob sich der schöne Petrus, wusch sich und schaute durchs Fenster. Da kroch Tschutilla gerade aus dem Stall, und der schöne Petrus erblickte ihn. Und sofort kam ihm der Gedanke: »Von diesem droht mir der Tod.« Tschutilla trat hinein und sagte: »Guten Morgen, schöner Petrus!« — »Guten Morgen, Tschutilla!« — »Wohlan, schöner Petrus, gib mir die Tochter des Kaisers.« — »Ich geb sie dir nicht«, erwiderte der. Da faßte Tschutilla ihn am Hals und drückte seinen Kopf auf die Türschwelle. »Gib mir das Mädchen, schöner Petrus, sonst schneide ich dir den Hals ab.« — »Das magst du tun, ich geb es dir doch nicht.« Da schnitt ihm Tschutilla den Hals ab und führte das Mädchen mit sich weg.

Da begann Blut aus dem Ringe zu fließen. Petrus' Mutter sah es und wußte: »Jetzt ist mein Sohn tot.« Und sie machte sich auf, um ihn zu suchen. Sie kam zuerst zur roten Fahne und sagte sich: »Hier ist mein Sohn gewesen.« Dann ging sie



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weiter und kam zur schwarzen Fahne und sagte bei sich: »Hier ist mein Sohn gegangen.« Schließlich fand sie auch die weiße Fahne und wußte: »Auch hier war mein Sohn.« Da kam sie zu der Burg und fand ihren Sohn erschlagen, zwei Schlangen tranken gerade sein Blut. Die eine schlug sie tot, die andre Schlange aber trug im Mund ein Blatt herbei, und als sich die Frau der Schlange näherte, richtete sich diese auf. Die Frau sah es, tötete auch sie, nahm das Blatt, setzte dann den Kopf ihres Sohnes auf den Körper, bedeckte ihn mit dem Blatt, und siehe, er erhob sich. »Mutter, ich habe schwer geschlafen.« — »Du hättest bis zur Ewigkeit geschlafen, wenn ich nicht gekommen wäre.« — »Mutter, ich will nun zu meiner Geliebten gehen.« — »Geh nicht, mein Lieber!« — »Pah, ich werde doch gehen, Mutter.« — »Wenn du gehst, dann helfe dir Gott!«

Er ging nun geradeswegs zu Tschutilla, ergriff ihn, zerhieb ihn ganz und gar in kleine Stücke und warf diese den Hunden zum Fraße vor. Hierauf führte er die Tochter des Kaisers zu ihrem Vater, und das Mädchen sprach: »Vater, dieser Mann hat mich von den Drachen befreit.« Der Kaiser vermählte sie nun, machte ihn zum König, und vielleicht leben sie bis zum heutigen Tage.


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