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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


51. Die bestrafte Mutter

Es war einmal ein Königssohn, der ging auf die Jagd und verlor seine Genossen. In einem Heuschober befand sich ein kleines Mädchen, und als er an ihm vorbeiging, hörte er es weinen. Er nahm das Kind mit und brachte es nach Hause. »Sieh, Mutter, was ich gefunden habe!« Die Mutter gab sie in die Küche zur Köchin, damit diese sie großzöge. — Sie pflegte sie nun schon zwölf Jahre. Die Kaiserin kleidete sie in schöne Gewänder, nahm sie in das Schloß und setzte sie mit an den Tisch. Der Königssohn gewann sie lieb, denn sie war schön; es gab kein schöneres Mädchen auf der Welt. Sie hatten sich nun beide schon drei Jahre lieb, ohne daß es die Kaiserin wußte. Eines Tages sagte der Prinz: »Mutter, ich will mir eine Frau heimführen.« — »Zu welchem Kaiser willst du gehen?« — »Ich möchte die nehmen, die mit am Tische sitzt.« — »Nimm sie nicht, mein Herzenskind!« — »Wenn ich



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sie nicht bekomme, muß ich sterben.« — »So nimm sie denn!« Und so verheiratete er sich mit ihr.

Da kam der Befehl, er müsse in den Krieg ziehen. Er ließ sie schwanger zurück. Die Kaiserin rief zwei Minister: »Führt sie in den Wald und tötet sie, bringt mir dann ihr Herz und den kleinen Finger.« Da setzten sie sie auf einen Wagen und führten sie in den Wald. Hinter ihnen her lief ein Hündchen. Als sie sie nun in den Wald geführt hatten und töten wollten, sprach die junge Frau: »Tötet mich nicht, denn ihr hattet doch nur Gutes von mir.« — »Aber was sollen wir machen, da wir doch das Herz mitbringen sollen?« — »Schlachtet das Hündchen, denn sein Herz sieht wie das eines Menschen aus, und schneidet meinen kleinen Finger ab.« Sie schlachteten das Hündchen, nahmen sein Herz und schnitten ihr den kleinen Finger von der Hand. Darauf bat sie: »Sammelt Holz und macht mir Feuer, schält dem Lindenbaum die Rinde ab und fertigt mir daraus eine Hütte.« Da machten sie eine Hütte zurecht, steckten Feuer an und gingen nach Hause; das Herz und den kleinen Finger nahmen sie mit sich.

Die junge Frau gebar nun im Walde einen Sohn. Da kam der liebe Gott und der heilige Petrus und tauften ihn. Als Taufgeschenk gab ihm Gott ein Gewehr, daß er einmal ein Jäger würde. Alles Wild, das er sähe, solle er mit dem Gewehr erlegen, und sie gaben ihm den Namen Silvester. Dann verwandelte der liebe Gott die ärmliche Hütte in ein Haus, in dem das Feuer nie mehr erlosch. Er gab ihnen auch Brot: soviel sie davon auch aßen, so zehrten sie es doch niemals auf. So wuchs der kleine Knabe heran, und bald nahm er die Flinte in die Hand und ging in den Wald. Was er erlegte, brachte er seiner Mutter, und sie verzehrten es. Als er wieder einmal durch den Wald streifte, gelangte er zu dem Schloß der Drachen und setzte sich vor der Tür nieder. Um Mittag kamen die Drachen nach Hause. Schon von weitem sah er elf von ihnen und tötete sie mit seinem Gewehr, doch den zwölften betäubte er nur. Er nahm ihn, trug ihn in den Palast und



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schloß ihn in ein Zimmer; dann ging er zu seiner Mutter und sagte ihr: »Komm mit mir, Mutter!« — »Wohin soll ich gehen, mein Liebling?« — »Komm mit mir, wohin ich dich führe.« Sie ging mit ihm zu dem Schloß. »Nimm dir diese zwölf Schlüssel, Mutter: In jedes Zimmer magst du gehen, aber dieses eine darfst du nie betreten.«

Er ging wieder in den Wald, um zu jagen. Die Mutter aber sprach bei sich: >Warum hat wohl mein Sohn gesagt, daß ich nicht hier hineingehen soll? Ich will doch einmal sehen, was darin ist.< Und sie öffnete das Zimmer. Da sprach der Drache zu ihr: »Wenn du ein kleines Mädchen bist, sollst du meine Schwester sein, doch wenn du eine Frau bist, sollst du meine Gattin werden.« — »Ich bin eine Frau.« — »Also mußt du meine Gattin werden.« — »Ich will dir gehören, aber du mußt ohne Falschheit zu mir halten.« — »Das will ich.« — »Nun, so schwöre!« — »Ich schwöre.« Und so schwur der Drache. Dann forderte er sie auf: »Schwöre auch du.« Und auch sie schwur. Nun küßten sie sich, und sie nahm ihn mit sich ins Haus, wo sie aßen und tranken und sich liebkosten. Da gewahrte sie ihren Sohn, wie er aus dem Walde zurückkehrte, und sie sprach: »Mein Sohn kommt, geh schnell wieder in die Kammer.« Er ging hinein und verschloß sie.

Als am Morgen der Sohn wieder in den Wald ging, um zu jagen, ließ sie den Drachen wieder zu sich kommen. Und sie aßen und tranken, und da sagte er: »Wie wäre es, wenn wir deinen Sohn umbrächten, wie gut könnten wir dann leben! Stelle dich doch krank und erzähle ihm, du hättest einen Traum gehabt, er müsse dir Bärenmilch zum Trinken herbeiholen; dann kann dir nichts mehr geschehen, denn die Bärin wird ihn verschlingen.« Der Sohn kam aus dem Wald zurück und fragte: »Was ist dir, Mutter?« Da antwortete sie: »Ich habe einen Traum gehabt: Bringe mir Bärenmilch, sonst muß ich sterben.« — »Ich bringe sie dir, Mutter.« Er ging wieder in den Wald und traf eine Bärin. Als er Anstalten machte, sie zu töten, rief jene: »Laß ab, Mann, was willst du?« — »Du



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mußt mir Milch geben.« — »Gerne, hast du ein Gefäß?« — »Ja.« — »So komm und melke mich.« Da molk er sie und brachte die Milch seiner Mutter. »Nimm, Mutter!« Die Mutter tat so, als wolle sie trinken, schüttete die Milch aber aus.

Am andern Morgen ging er wieder in den Wald und traf die heilige Luje 1 . »Wer bist du?« — »Ich bin die heilige Luje.« — »Werde meine Schwester.« — »Aber wer bist du?« — »Ich bin Silvester.« — »Dann bist du ja das Patenkind Gottes, und der liebe Gott ist dein Vormund. Auch ich gehöre dem lieben Gott.« — »So sollst du meine Schwester sein.« — »Ja, so sei es!« Als er weiterging, traf er die heilige Paraschtuji. »Wer bist du?« — »Ich bin Paraschtuji. Und wer bist du?« — »Ich bin Silvester.« — »So bist du Gottes Patenkind, und auch ich gehöre dem lieben Gott.« — »Dann sei du meine Schwester!«

Der Jüngling ging nach Hause, und als seine Mutter ihn sah, sprach sie: »Mein Sohn kommt.« — »Schicke ihn zum Wildschwein, daß er dir Milch bringe, das wird ihn sicher auffressen.« — »Bist du immer noch krank, Mutter?« fragte der Sohn. »Ja. Ich hatte einen Traum: Du mußt mir Milch von der Wildsau bringen.« — »Ich weiß nicht, Mutter, ob ich sie bringen kann oder nicht, aber ich will es versuchen.« Er ging und traf das Wildschwein. Schon war er im Begriff, es durch einen Flintenschuß zu erlegen, da rief es: »Halt ein, töte mich nicht! Was für einen Wunsch hast du denn?« — »Du sollst mir Milch geben.« — »Hast du ein Gefäß, dann komm und melke mich!« — Die Milch brachte er seiner Mutter. Sie tat, als wolle sie sie trinken, goß sie aber wieder aus. Als er wieder in den Wald ging, ließ sie den Drachen zu sich kommen und klagte: »Es war umsonst, das Schwein hat ihn wieder nicht verschlungen.« Da riet ihr der Drache: »Dann schicke ihn in die Blutberge, die wie Widder sich mit ihren Gipfeln stoßen, damit er dir Wasser bringe, Wasser des Lebens und der Genesung. Wenn er dort nicht stirbt, dann geht



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er überhaupt nicht zugrunde.« Als der Sohn zurückkehrte, erzählte sie ihm: »Ich hatte einen Traum: Du mußt mir Wasser von den blutigen Bergen holen, die sich wie Widder mit ihren Gipfeln stoßen, dann wird mir nichts mehr fehlen.« Er ging zur heiligen Luje. »Wohin willst du, mein Bruder?« — »Ich bin auf dem Weg in die Berge, um meiner Mutter Wasser zu holen.« — »Geh nicht, Bruder, du wirst dort sterben.« — »Ich gehe doch, Schwester.« — »Dann nimm dir wenigstens mein Pferd, wenn du wirklich gehen willst, denn mein Pferd wird dich dorthin tragen. Nimm dir auch eine Uhr mit, denn die Berge stoßen sich von früh bis zum Mittag, um Mittag ruhen sie zwei Stunden. Wenn du dort um die zwölfte Stunde eintriffst, dann nimm in deine beiden Gefäße Wasser aus zwei Brunnen.«

Er kam um die Mittagszeit dort an, stieg ab und schöpfte Wasser in seine beiden Gefäße, Wasser des Lebens und der Genesung. Als er zur heiligen Luje zurückkam, sprach diese: »Setz dich hin, schlafe und ruhe aus, denn du bist müde.« Und sie verbarg das Wasser und goß anderes hinein. Er erhob sich und sprach: »Wohlan, Schwester, ich will jetzt nach Hause gehen.« — »Nimm mein Pferd und reite dahin, nimm auch Säcke mit.« Als er nach Hause zu seiner Mutter ging, sah sie ihn auf dem Pferd daherreiten und sagte zu dem Drachen: »Da kommt mein Sohn angeritten.« Der riet ihr: »Sag ihm, du habest geträumt, du müßtest ihm die Hände mit einem seidenen Strick auf dem Rücken binden, und wenn er ihn zerreiße, so würde er ein Held, und du würdest wieder gesund.« — »So binde mich, Mutter!« Sie nahm einen dicken seidenen Strick und band ihm die Hände auf dem Rücken. Er zog und bekam ein rotes Gesicht; er riß wiederum und wurde bläulich, und als er es zum dritten Male versuchte, wurde er schwarz. Da rief sie: »Komme nun, Drache, und schneide ihm den Hals ab!« Der Drache kam herbei: »Was soll ich jetzt mit dir anfangen?« — »Schneide mich ganz in Stücke, lege mich dann in die Säcke und auf mein Pferd; es



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soll mich auch tot dahin tragen, woher es mich lebend brachte.« Er zerschnitt ihn, steckte ihn in die Säcke und legte diese auf sein Pferd. »Geh, trage ihn tot dahin, von wo du ihn lebend gebracht hast.« Das Pferd lief geradeswegs zur heiligen Luje. Luje kam heraus, sah ihn, nahm ihn hinein und rief die heilige Tetrad und Paraschtuji. Sie legten ihn in eine große Wanne, wuschen ihn sorgfältig, legten ihn auf den Tisch und setzten ihn wieder ganz zusammen, Stück für Stück. Dann nahmen sie das Wasser der Genesung, bespritzten ihn, und sein Leib wurde wieder wie zuvor; dann besprengten sie ihn mit dem Wasser des Lebens, und er wurde wieder lebendig.

»Ach, ich habe schwer geschlafen.« — »Du hättest bis zur Ewigkeit geschlafen, wenn ich nicht gewesen wäre.« — »Ich will zu meiner Mutter gehen, Schwester.« — »Dann geh mit Gott, nimm aber mein Schwert mit dir.« Als er zu seiner Mutter kam, sang sie und tanzte mit dem Drachen. Er ging hinein zu dem Drachen. »Guten Abend!« Sie erwiderten den Gruß. »Nun, was soll ich mit dir machen, Drache?« — »Schneide mich in Stücke, lege mich in Säcke und auf mein Pferd. Woher es mich lebend gebracht hat, dahin soll es mich auch tot tragen.« Er schnitt ihn in Stücke, legte ihn in Säcke und auf sein Pferd, stach aber diesem die Augen aus. »Geh, wohin du willst.« Das Pferd ging, stieß sich aber mit dem Kopfe an den Bäumen, und alsbald fielen die Fleischstücke aus den Säcken. Und Raben fraßen sein Fleisch.

Silvester erlegte nun mit seinem Gewehr einen Hasen, zog ihm das Fell ab, steckte ihn auf einen Bratspieß und briet ihn auf dem Feuer. Dann sagte er zu seiner Mutter: »Mutter, schau einmal her zu mir!« Als die Mutter auf ihn schaute, schlug er sie auf die Augen, und diese sprangen heraus. Dann nahm er sie an der Hand, führte sie zu einem Faß und sprach: »Mutter, wenn du dies Faß mit Tränen gefüllt hast, dann möge dir der liebe Gott verzeihen; wenn du dies Bündel Heu gegessen und das Faß mit Tränen gefüllt hast, dann soll dir



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Gott verzeihen, auch dein Augenlicht sollst du dann wiederbekommen. «

Er band sie dort fest, ging weg und ließ sie drei Jahre dort. Nach drei Jahren erinnerte er sich wieder ihrer. »Ich will zu meiner Mutter gehen und sehen, was sie tut.« Sie hatte nun das Faß gefüllt und das Bündel Heu gegessen. »Jetzt möge dir der liebe Gott verzeihen, denn auch ich vergebe dir; und damit >Gott befohlen!«


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