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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


46. Der betrogene Drache

Ein alter Mann hatte eine Menge Kinder und wohnte mit ihnen in einer Erdhöhle im Walde. Eines Tages sprach er zu seiner Frau: »Backe mir ein Brot, denn ich will gehen, um einen Erwerb zu suchen.« Er ging also in den Wald hinein und gelangte zu einer Quelle. Bei der Quelle stand ein Tisch, auf diesen legte er das Brot. Da kamen die Krähen herbei und fraßen es auf, während er schlief. Als er erwachte und Fliegen sah, die sich über die Krumen hermachten, schlug er mit seiner Hand zu und tötete 100 Fliegen. Nach dieser Tat schrieb er auf den Tisch, er habe Hundert mit einem Faustschlag niedergemacht. Dann legte er sich wieder nieder und schlief weiter. Auf einmal kam ein Drache mit einem Ledersack, um Wasser zu schöpfen. Da sah er, daß auf dem Tisch geschrieben stand, jener habe Hundert getötet. Und wie er



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nun den Greis erblickte, geriet er in große Angst. Als der Alte aber erwachte, war das Fürchten auf seiner Seite. Da redete ihn der Drache an: »Wir wollen Brüderschaft machen.« Und sie schwuren, Kreuzbrüder werden zu wollen. Der Drache schöpfte sein Wasser und sprach zum Alten: »Komm mit mir in mein Schloß.« Also gingen sie miteinander, der Alte immer voran. Und jedesmal, wenn der Drache ausatmete, schob er den Alten nach vorn, und wenn er den Atem einzog, zog er ihn rückwärts. Da fragte der Drache: »Bruder, warum läufst du bald vorwärts und bald rückwärts?« Der Alte erwiderte: »Es kommt mich immer eine böse Anwandlung an, dich töten zu wollen.« Da meinte der Drache: »Halt, Bruder, dann will ich vorangehen, und du gehst hinter mir; vielleicht kommt dir dann ein anderer Gedanke.« So gelangten sie zu Kirschbäumen. »Bruder«, sagte der Drache, »wir wollen Kirschen essen!« Der Drache stieg auf den Baum und der Alte pflückte von unten. Da sprach der Drache: »Steig auch herauf, hier oben sind bessere.« Der Greis entgegnete: »Die sind nicht besser, denn die sind ja von den Vögeln beschmutzt.« — »Greif nach diesem Zweig.« Der Alte griff danach. Da ließ der Drache den Zweig wieder fahren und schleuderte so den Alten in die Höhe. Der fiel auf einen Hasen und ergriff ihn. Der Drache fragte: »Was hast du gemacht, Bruder, bist du von dem Zweig herabgefallen?« — »Ich bin selbst herabgesprungen, um den Hasen zu fangen, denn es blieb keine Zeit mehr, ihm nachzueilen, deshalb ließ ich mich auf ihn fallen.« Danach stieg der Drache wieder herunter und ging mit dem Alten nach Hause. Dort angelangt, fragte der Greis die Frau des Drachen: »Möchtest du ein Geschenk, Schwägerin?« — '>Danke schön, Schwager.« Der Drache flüsterte ihr nämlich heimlich zu: »Wünsche dir nichts, er würde uns sonst töten, denn mit einem Fausthieb hat er Hundert niedergestreckt.« Danach schickte der Drache den Alten weg, um Wasser zu holen. »Geh, Bruder, bringe Wasser.« Jener nahm also den Ledersack und einen Spaten



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und ging damit zum Brunnen. Um den Brunnen zog er einen Graben. Der Drache kam zu ihm und fragte: »Was machst du da, Bruder?« — »Ich will den ganzen Brunnen ausgraben und nach Hause tragen.« Der Drache entgegnete: »Laß mich selbst Wasser schöpfen, du verdirbst mir sonst die Quelle.« Als der Drache das Wasser geschöpft hatte, nahm er den Alten bei der Hand und führte ihn nach Hause.

Ein andermal schickte er ihn in den Wald, um einen Baumstamm zu bringen. Jener rindete eine Linde ab, machte sich daraus ein Seil und band einige Bäume zusammen. Wieder kam der Drache. »Was tust du da, Bruder?« — »Ich will den ganzen Wald umhauen und nach Hause bringen.« — »Du richtest mir den ganzen Wald zugrunde, Bruder, da will ich lieber selbst den Baumstamm holen.« Der Drache nahm also den Baum auf seine Schultern und ging nach Hause. Dort sprach er zu seinem Weib: »Was sollen wir nur tun, Frau, der wird uns noch umbringen, wenn er zornig wird!« Die Frau erwiderte: »Nimm die große Keule unseres Onkels und schlag sie ihm auf den Kopf.« Der Alte aber hatte es mitangehört. Anstatt sich nun wie sonst in der Nacht auf die Bank zur Ruhe zu legen, nahm er die Mörserkeule, legte diese auf die Bank, umhüllte sie mit einem Gewand, setzte ihr seine Mütze auf den Kopf und legte sich selbst unter die Bank. Als der Drache die Mütze fühlte, schlug er mit der Keule danach. Der Alte aber stand auf, legte die Mörserkeule unter die Bank und nahm selbst auf der Bank Platz und rieb sich ein wenig am Kopfe. »Gott soll dich töten, Bruder, zusammen mit deinem ganzen Hause, ein Floh hat mich am Kopf gebissen.« — »Hörst du, Frau, ich glaubte ihn mit der Keule erschlagen zu haben, und nun sagt er, es habe ihn nur ein Floh gebissen. Was sollen wir mit ihm machen, Frau?« — »Gib ihm einen Sack voll Gold, und dann soll er uns verlassen.« — »Was soll ich dir geben, Bruder, daß du dich wieder entfernst? Ich werde dir einen Sack voll Gold geben, und dann magst du gehen.« — »Ich bin einverstanden.« Er gab



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ihm also einen Sack, ganz mit Gold gefüllt. »Nimm den, Bruder, und geh fort.« — »Ich habe mein Geschenk selbst herbeigetragen, trag du nun auch das deinige.« Da nahm der Drache den Sack auf seine Schulter und trug ihn. Als sie zu der Erdhöhle, der Wohnung des Alten, kamen, sprach dieser: »Warte hier, Bruder, ich will ins Haus gehen, um die Hunde anzubinden, denn sonst würden sie dich zerreißen.« Der Greis ging also in sein Haus zu seinen Kindern und schnitt ihnen Messer aus Holz. Dann wies er sie an, wenn sie den Drachen sähen, sollten sie sagen »Mutter, unser Vater bringt einen Drachen, den wollen wir verspeisen.« Der Drache hörte das, warf den Sack weg und floh. Da begegnete er dem Fuchs. »Wohin fliehst du, Drache?« — »Der Alte will mich erschlagen.« — »Hab keine Angst. Komm mit mir, ich werde ihn umbringen, denn er ist im Grunde ein Schwächling.« Die Kinder kamen heraus und schrien: »Mutter, der Fuchs bringt uns die Drachenhaut, die können wir gebrauchen, um unsere Höhle zu decken.« Da ergriff der Drache die Flucht, faßte den Fuchs und schlug ihn zu Boden, so daß er starb. Nun holte sich der Alte aus dem Dorf einen Wagen, lud das Geld darauf, zog ins Dorf, baute sich Häuser und kaufte Ochsen und Rinder.


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