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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


45. Der Säugling der Stute



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liebe Gott, taufte ihn und gab ihm den Namen »Pferdesohn«. Ein Jahr hatte er an seiner Mutter Brust getrunken, da ging er zu einem Baume, um ihn auszureißen. Es gelang ihm aber nicht. Auf seine Bitte gab ihm nun seine Mutter noch ein weiteres Jahr die Brust. Dann ging er wieder zu dem Baum. Da konnte er ihn ausreißen. »Jetzt werde ich dich verlassen, Mutter.« Nun zog er durch die Wälder, bis er einen Menschen traf. »Guten Tag!« — »Danke!« — »Wie heißt du?« — »Spalteholz.« — »Ach, wir wollen Brüderschaft machen. Los, komm mit mir!« Dann gingen sie weiter, bis sie noch einen Dritten trafen. »Guten Tag!« — »Danke!« — »Wie heißt du?« — »Spaltestein.« — »Wir wollen Brüderschaft machen!« Da machten sie Brüderschaft. »Los, weiter!« Da gingen sie weiter, bis sie noch einen Vierten trafen. »Guten Tag!« — »Danke!« — »'Wie heißt du?« — »Beugebaum.« — »Los, weiter!« Da wanderten sie zu vieren weiter, bis sie zu einer Räuberspelunke kamen. Die Räuber hatten gerade ein Kalb geschlachtet. Sowie sie aber unsere vier Wanderer erblickten, flohen sie und ließen alles Fleisch zurück. Jene kochten das Fleisch und aßen und übernachteten in dem Hause. Am Morgen sprach der Pferdesohn: »Drei von uns müssen in den Wald auf die Jagd, einer aber muß zu Hause bleiben, um das Essen zu kochen.« Da ließen sie den Spalteholz zurück, damit er Essen bereite. Nachdem er gutes Essen zugerichtet hatte, kam ein Greis zu ihm, der war eine Spanne lang und hatte einen ellenlangen Bart. »Gib mir zu essen!« — »Ich kann dir nichts geben, sonst kann ich ja meinen Kameraden, wenn sie von der Jagd zurückkehren, nichts vorsetzen.« Da ging der Alte in den Wald und schnitt vier Astgabeln. Dann warf er den Spalteholz zu Boden und klammerte ihn an Händen und Füßen an die Erde. Nachdem er alles aufgegessen hatte, gab er ihn wieder frei und ging von dannen. Spalteholz aber warf nun von neuem Fleisch in den Kessel zum Kochen. Als seine drei Kameraden von der Jagd kamen, fragten sie: »Hast du das Essen fertig?« — »Sobald ihr weggingt, habe ich das



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Fleisch aufgesetzt, es ist aber noch immer nicht gar.« — »Gib es, wie es ist; wir sind hungrig.« Da nahm er es heraus, wie es war, und sie aßen. Dann gingen sie zur Ruhe. Am zweiten Tag ließen sie einen andern als Koch zurück, und die drei andern gingen zur Jagd. Wieder kam jener Alte. »Gib mir etwas zu essen!« — »Ich kann dir nichts geben, sonst habe ich für meine Kameraden nichts, wenn sie von der Jagd kommen.« Da ging er wieder in den Wald und schnitt wieder vier Astgabeln, mit denen er unsern Koch an Händen und Füßen an die Erde klammerte. Dann aß er alles auf und ging davon, nachdem er zuvor den Gefesselten wieder befreit hatte. Dieser setzte nun von neuem Fleisch zum Kochen auf. Die andern kamen von der Jagd und fragten: »Hast du das Essen fertig?« — »Sobald ihr fortgegangen, habe ich das Fleisch aufgesetzt, aber es ist noch nicht gar, da es so zähe ist.« Nach dem Essen gingen sie zur Ruhe. Am dritten Tag ließen sie einen andern als Koch zurück. Die drei andern gingen zur Jagd. Die beiden, die an den zwei vorhergegangenen Tagen zu Hause geblieben waren, erzählten aber nichts von ihrem Erlebnis. — Wieder kam der Alte und bat um Essen. »Ich gebe dir nichts, sonst kann ich meinen Kameraden, wenn sie von der Jagd kommen, nichts vorsetzen.« Wieder ging der Alte in den Wald und schnitt vier Haken, womit er ihn an Armen und Beinen an die Erde klammerte. Nun aß er, befreite ihn dann wieder und ging davon. Die andern kamen von der Jagd und fragten: »Hast du das Essen fertig?« — »Seit ihr weg seid, kocht das Fleisch; es will aber nicht gar werden, denn es ist sehr zähe.« Am vierten Tage blieb der Pferdesohn als Koch zurück und bereitete gutes Essen. Der Alte kam. »Gib mir etwas zu essen, ich bin hungrig.« — »Komm her, daß ich dir gebe!« So rief er ihn ins Haus, packte ihn dann an seinem Barte und führte ihn zu einer Buche. In die Buche aber schlug er mit dem Beil einen Spalt und klemmte den Bart des Alten dazwischen. Dann zog er das Beil wieder heraus und trieb neben den Bart noch einige



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Keile in die Buche. So ließ er ihn dort. Die anderen kamen von der Jagd; er setzte ihnen zu essen vor und fragte: »Warum habt denn ihr nicht so gutes Essen bereitet wie ich?« — Sie aßen nun. Der Alte aber zog den Baum aus der Erde, nahm ihn über seine Schulter und zog ihn hinter sich her, bis er zu der Höhle in der anderen Welt gelangte. Der Pferdesohn aber sprach zu seinen Kameraden: »Kommt mit und seht, was ich gefangen habe!« Sie gingen mit, fanden aber nur noch die Stelle, wo die Buche gestanden hatte. Da meinte der Pferdesohn: »Kommt mit, ich muß ihn finden.« Da gingen sie immer der Spur des Baumes nach, bis sie zur Höhle des Alten kamen. »Hier ist er hineingekrochen. Wer will nun hineinschlüpfen, um ihn herauszuziehen?« Da sprachen sie: »Wir nicht, wir fürchten uns. Schlüpfe du hinein, du hattest ihn ja auch gefangen.« Er erwiderte: »Ich werde hineinschlüpfen, aber ihr müßt mir schwören, mir Treue zu halten.« Da schwuren sie, ihm Treue zu halten. Dann machten sie ein Korbgeflecht, und er ließ sich darin in die Höhle hinab. So kam er in die andere Welt. Dort war ein unterirdisches Schloß. Er fand den Alten, dessen Bart noch im Baume steckte, setzte ihn in den Korb, und seine Gefährten zogen ihn empor. Dann suchte er einen großen Stein und legte diesen in den Korb, indem er bei sich dachte: »Wenn sie den Stein hinaufziehen, werden sie auch mich wieder hinaufziehen.« Aber als jene den Korb halb emporgezogen hatten, durchschnitten sie das Seil. Da begann der Pferdesohn zu weinen: »Nun bin ich verloren.« Er gelangte unter die Erde und kam zu einem Haus. Dort wohnten ein alter Mann und eine alte Frau, beide blind, denn die Zenen 1 hatten ihnen die Augen ausgestochen. Pferdesohn ging zu ihnen und sprach: »Guten Tag!« — »Danke! Wer bist du?« — »Ich bin ein Mensch.« — »Bist du alt oder jung?« — »0, ich bin noch jung.« — »Du sollst unser Sohn werden.« — »Gut.« Der Alte hatte zehn Schafe. »Nimm doch die Schafe und weide sie, 1 Bösartige weibliche Wesen.



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mein Liebling. Gehe aber ja nicht nach rechts, sonst ergreifen dich die Zenen und stechen deine Augen aus. Dort ist nämlich ihr Gut. Gehe immer nach links. Da haben sie keine Macht, da ist meine Besitzung.«

Da ging er drei Tage lang immer nach links. Auf einmal kam ihm der Gedanke, sich zu einem Flötenspieler zu machen, und nun zog er mit den Schafen nach rechts. Da trat eine Zene ihm in den Weg und fuhr ihn an: »Du Aas, was suchst du hier?« Da begann er Flöte zu blasen: »Tanze ein wenig!« Er blies die Flöte, und sie tanzte. Als sie aber im besten Tanzen war, zerbrach er die Flöte mit den Zähnen. Die Zene sprach: »Was hast du denn gemacht, daß du die Flöte zerbrachst, wie ich gerade im besten Tanzen war?« — »Komm mit zu jenem Ahornbaum. Ich nehme sein Herz, um daraus eine Flöte zu machen. Dann flöte ich den ganzen Tag und du tanzest. Komm nur mit!« Sie gingen zum Ahornbaum, und er stieß sein Beil hinein und spaltete ihn entzwei. »Stecke deine Hand hinein und nimm das Herz heraus.« Da steckte sie ihre Hand hinein, er aber zog das Beil heraus und ließ ihre Hand im Baume. Da schrie sie: »Ziehe doch schnell meine Hand heraus, sie wird ja zerdrückt!« Da fragte er: »Wo sind die Augen des alten Mannes und der alten Frau? Wenn du es mir nicht sagst, schneide ich dir den Hals ab.« — »Geh zur dritten Kammer; in einem Glas sind sie dort aufbewahrt, die größeren gehören dem Manne, die kleineren der Frau.« — »Aber wie soll ich sie ihnen wieder anheften?« — »In einem Glas dort ist Wasser, befeuchte sie mit diesem Wasser, lege sie dann auf, so werden sie festkleben, bestreiche sie dann mit dem Wasser, dann werden sie sehen.«

Da schnitt er ihr den Hals ab, ging hin und nahm die Augen des Greises und der Greisin, nahm auch das Wasser und befeuchtete sie damit. Dann legte er sie ihnen auf, und sie klebten fest. Hierauf bestrich er die Augen nochmals mit dem Wasser, und sie sahen. Da sprachen die beiden Alten: »Wir danken dir, lieber Sohn! Du sollst ewig unser Sohn



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heißen. In deine Hand übergeben wir unsere ganze Habe; nun aber wollen wir zu unseren Verwandten gehen, denn seit zehn Jahren haben wir sie nicht mehr gesehen.« Dann bestieg der Alte einen Hammel und seine Frau ein Schaf, und der Alte sprach zu seinem Sohn: »Liebling, nun gehe spazieren, iß und trink nach Herzenslust.« Dann machten sich die beiden auf den Weg zu ihren Verwandten. Auch der Jüngling brach auf und wanderte durch den Wald. Auf einem Baum aber saßen die Jungen eines Adlers, und ein Drache kletterte gerade hinauf, um sie zu fressen. Als Pferdesohn das sah, stieg er hinauf und tötete ihn. Da sprachen die jungen Adler zu ihm: »Gott gebe dir Glück, da du jenen getötet hast, denn unsere Mutter hat uns erzählt, jedes Jahr habe sie Junge ausgebrütet, aber der Drache habe sie bisher alle gefressen. Aber wo sollen wir dich verbergen? Denn wenn unsere Mutter kommt, so wird sie dich fressen. Komm, leg dich unter uns, damit wir dich mit unsern Flügeln bedecken!« Als dann ihre Mutter kam, rief sie: »Ich rieche einen frischen Menschen!« — »Es ist keiner da, Mutter. Es scheint dir nur so, da du so hoch fliegst, der Dunst betäubt dich.« — »Das ist nicht wahr, es muß unbedingt ein Mensch da sein. Und wer hat denn den Drachen getötet?« — »Wir wissen's nicht, Mutter!« — »Zeigt ihn vor, daß ich ihn sehe.« — »Er ist hier zwischen uns.« Da zogen sie ihn heraus, und die Adlermutter sah ihn. Kaum hatte sie ihn erblickt, da verschlang sie ihn. Die Jungen begannen zu weinen und sich zu schlagen vor Trauer: »Er hatte uns vom Tode errettet, und du verschlangst ihn!« — »Wartet, ich werde ihn ausspeien.« Da spie sie ihn aus und fragte ihn: »Was begehrst du dafür, daß du meine Jungen vom Tode gerettet hast?« — »Ich verlange nichts weiter, als daß du mich wieder in die andere Welt hinaufbringst.« — »Wenn du das forderst, dann wäre es mir lieber, du hättest meine Jungen nicht gerettet. Denn es ist furchtbar schwer für mich, dich hinaufzubringen. Doch weißt du, wie ich dich befreien werde? Du mußt zwölf Backöfen voll Brot backen und mußt zwölf



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Kälber und zwölf Faß Wein nehmen.« Nach drei Tagen hatte er alles bereit. Da sprach sie: »Leg es auf meinen Rücken, und wenn ich den Kopf nach links wende, so wirf mir ein Kalb und einen Backofen voll Brot in den Mund, drehe ich ihn dann nach rechts, so schütte mir ein Faß voll Wein in den Schlund.«

So brachte sie ihn heraus. Er aber ging zu seinen Brüdern, den Jünglingen, mit denen er Brüderschaft geschlossen hatte. »Guten Tag, Brüder! Ihr glaubtet, ich würde umkommen. Wenn ihr recht an mir gehandelt habt, so werft eure Pfeile in die Höhe und sie werden vor euch herabfallen, ohne euch zu treffen. Habt ihr aber Verrat an mir geübt, so treffen sie euch in den Kopf!« Da stellten sich alle vier in eine Reihe und warfen ihre Pfeile in die Höhe. Pferdesohns Pfeil fiel unmittelbar vor seinem Gesicht zur Erde. Die anderen aber wurden von ihren Pfeilen in den Kopf getroffen, so daß sie starben.


Copyright: arpa, 2015.

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