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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


43. Der liebe Gott und der arme Zigeuner

Es war einmal ein armer Zigeuner. Der hatte einen Haufen Kinder. Was sollte da der arme Zigeuner tun? Ihn rief niemand zur Arbeit. Verdienen konnte er nichts, und die Kinder starben fast vor Hunger. Da sagte er zu seiner Frau: »Frau, ich gehe in die weite Welt und komme nicht eher wieder nach Hause, als bis ich reich geworden bin.« Und er nahm seinen Schnappsack, steckte ein paar Zwiebeln hinein und brach auf. Unterwegs begegnete ihm Petrus und der liebe Gott. Und Petrus sagte zu dem armen Zigeuner: »Wo willst du hin, Alterchen?« — »Ach, Herr, ich gehe in die weite Welt, ich habe sechs Kinder, die vor Hunger sterben.« Petrus aber sagte: »Das tut mir herzlich leid«, und sprach zum lieben Gott: »Gib ihm etwas. Der arme Mann will auch leben.« Da antwortete der liebe Gott: »Ruf ihn einmal her!« Dann sagte er zu ihm: »Schau, Alterchen, nimm diesen Stock, der wird dir geben, was du dir auf der Welt wünschest.« Da kehrte der arme Zigeuner zurück, und als ihn seine Frau kommen sah, fing sie an zu schimpfen: »Nun, was hast du angerichtet, warum bist du denn gekommen, du ekliger Kerl?« — »Halt's Maul, jetzt bin ich reich geworden.« Und er schlug auf den Stock. »Was willst du von mir, Herr? Wünsche dir etwas!« — »Decke einen Tisch und setze darauf allerlei Speisen und Trank.« Und siehe, da füllte sich der Tisch mit lauter Braten. Und der Mann sagte zu seinen Kindern: »Kommt und eßt und seid guter Dinge.« Und so ging's heute, und so ging's auch morgen, denn der arme Zigeuner war jetzt reich geworden. Doch die böse Welt munkelte und wunderte sich über seinen Reichtum. »Wie mag der Alte doch so schnell reich geworden sein?« — »Wie er reich geworden ist? So wie jedermann reich wird!« sagte die Frau, aber zu ihrem Manne sagte sie ärgerlich: »Die Leute wundern sich, nimm den Stock und trag ihn wieder dorthin, woher du ihn genommen hast.«

Er gehorchte seiner Frau, nahm den Stock und trug ihn



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wieder dorthin. Da traf er wieder den lieben Gott und Petrus. »He, Alter, warum wirfst du denn den Stock weg?« fragte ihn Petrus. »Ach, ich brauche ihn nicht mehr, denn ich bin ja reich geworden.« Und der liebe Gott sagte zu Petrus: »Siehst du, er kann den Reichtum nicht vertragen. Er ist gewohnt, als am er Mann zu leben. Er soll ebenso arm bleiben, wie er gewesen ist. Er soll auch als Armer sterben!« So hatte der Zigeuner heute, morgen und übermorgen nichts zu essen und wurde wieder arm, wie er gewesen war. Er kam ganz auf den Hund, noch schlimmer, als es früher gewesen war. Er hatte keinen Stock mehr, der ihm Essen verschaffte. Er hatte leider auf seine Frau gehört, und darum blieb er arm. »Siehst du, Frau, was du angerichtet hast.« — »Ja, Mann, so hat es dir dein Kopf eingegeben, und so mußt du deshalb bleiben. Es war nicht schön für uns.« Wieder machte er sich auf den Weg und bettelte Petrus an: »Gib mir meinen Stock wieder.« — »Ich denke, du bist reich genug, warum widerstandest du denn nicht dem Wunsche deiner Frau? Darum hat dir Gott den Stock genommen. Du bist selbst schuld daran, und weil du nicht auf mich gehört hast, bist du jetzt wieder arm, wie du warst.« — »Ach laß, Gott ist groß, er wird es schon machen.« Und er begab sich zum lieben Gott. »Gib mir, Gott, etwas zu essen, meine Kinder haben Hunger.« Da gab ihm der liebe Gott einen Tisch, welcher sich mit allerlei Speisen' selber deckte. Und er sagte zum Alten: »Sieh, dieser Tisch wird alles geben, was du dir wünschest.« Da nahm der Zigeuner den Tisch und ging nach Hause. Und zu Hause angekommen, sagte er zu dem Tisch: »Decke dich, Tischlein.« Da kamen die verschiedensten Arten von Speisen und Getränken, Wein und Schnaps auf den Tisch. Seine Kinder setzten sich nieder und aßen und schwelgten. Und der Mann sagte zu



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seiner Frau: »Siehst du, Frau, Gott läßt mich nicht im Stich.« Da fing seine Frau an, den Leuten gegenüber den Tisch zu loben, der sich von allein decke und allein sich wieder abdecke. Als dies der Kaiser hörte, schickte er zu dem Zigeuner und gab Befehl, der Zigeuner solle ihm den Tisch geben, denn er habe Gäste. Als der Kaiser sah, was für ein guter Tisch das war, gab er ihn nicht wieder zurück, sondern ließ einen neuen machen und ihn dem Zigeuner ins Haus schicken. Der arme Mann sah den Tisch und sah, daß es nicht der seinige war, denn er bedeckte sich nicht mehr mit Speisen und Getränken. Wieder war er arm, und wieder ging er zum lieben Gott, der ihn fragte: »Nun, du bist schon wieder da?« —»Ja, Herr, ich bin wieder zu dir gekommen.« — »Nun, was willst du denn?« — »Gib mir etwas, meine Kinder sterben vor Hunger.« Da gab ihm der liebe Gott einen Hahn, der Dukaten legte. »Nimm den Hahn und gehe nach Hause.« Und der Zigeuner nahm den Hahn und band ihn am Halse fest. Und zu Hause angelangt, schlug er ihn und sagte: »Lieber Hahn, lege Dukaten.« Da füllte der Hahn einen ganzen Korb mit Gold, und der arme Mann wußte vor Reichtum nicht, was er mit dem Gelde anfangen sollte. Er sprach mit seiner Frau und sagte: »Frau, ich gehe auf den Markt und nehme den Hahn mit und gebe ihn jemandem, daß er ihn vergolde.« Und er ging zum Goldschmied und bat ihn: »Goldschmied, vergolde mir den Hahn, aber daß du mir ja nicht den Hahn verwechselst, denn dieser Hahn legt Geld.« Als das der Goldschmied hörte, behielt er den Hahn für sich und gab dem Zigeuner einen anderen, der keine Dukaten legte. Und als der Zigeuner kam, nahm er den vergoldeten Hahn und ging nach Hause. »Mein lieber Hahn, lege Geld.« Doch der Hahn legte keine Dukaten. Da erst sah der Zigeuner, daß es nicht mehr sein Hahn war, und wieder war er arm, und wieder ging er zum lieben Gott. Der aber sagte: »Du kommst wieder?« — »Ja, ich komme wieder.« Da gab ihm Gott eine Peitsche. »Nimm diese Peitsche.« — »Und was soll ich damit



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machen?« Da sagte ihm Gott: »Diese Peitsche wird dich grün und blau schlagen, wenn du zu ihr sagst >gib<, und wenn du wieder zu ihr sagst >gib<, dann hört sie auf.« Unterwegs packte ihn die Neugier, und er wußte gar nicht, was er vor Ungeduld machen sollte, und wollte einmal probieren, ob das wahr wäre. Er versuchte und sagte: »Gib, Peitsche.« Da schlug die Peitsche auf ihn los, daß ihm Hören und Sehen verging. Das Unglück wollte, daß er das rechte Wort vergessen hatte. Doch unwillkürlich entrann seinem Mund vor Schmerz das Wort: »Ja, gib«, und die Peitsche hörte auf zu schlagen. »Aoleo 1, beinahe wäre ich gestorben!« Als er nach Hause kam, fragte die Frau, was ihm Gott gegeben habe. »Schau, diese Peitsche dort.« Und mit dieser Peitsche ging er nun zu dem Goldschmied, der ihm den Hahn gestohlen hatte. »Gibst du mir meinen Hahn oder nicht?« Der Goldschmied aber erwiderte ihm gleich: »Ich habe deinen Hahn nicht gestohlen.« — »Gibst du meinen Hahn?« Und er sagte zur Peitsche: »Ja, gib, gib!« Und die Peitsche fuhr über den Goldschmied her, der vor Schmerz jammerte: »Ja, ich gebe den Hahn, befiehl, die Peitsche soll aufhören, ehe sie mich ganz totschlägt.« So bekam der Zigeuner seinen Hahn wieder und ging zufrieden nach Hause. Dann machte er sich wieder auf den Weg und wollte zum Kaiser gehen, der ihm den Tisch genommen hatte. »Ich gehe und hole mir meinen Tisch von dem Kaiser wieder.« Und der Kaiser sagte: »Habe ich dir den Tisch nicht gegeben?« — »Gib, Peitsche!« und da schlug die Peitsche den Kaiser beinahe zu Tode. Der Zigeuner aber nahm den Tisch und ging nach Hause. Und so war er reich geworden und ist es auch heute noch. Ich aber bin ein armer Schlucker geblieben.


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