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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON IBRAHIM UND DSCHAMÎLA

El-Chasîb, der Herr von Ägyptenland, hatte einen Sohn, so schön, wie es keinen anderen gab; und aus Besorgnis um ihn ließ er ihn nie ausgehen, außer zum Freitagsgebet. Nun kam der Jüngling einmal, als er von dem Freitagsgebete heimkehrte, an einem alten Manne vorüber, der viele Bücher bei sich hatte; da saß er von seinem Pferde ab und setzte sich neben ihn nieder und begann die Bücher zu wenden und anzuschauen. In einem aber erblickte er das Bildnis einer Frau, die fast zu sprechen schien, der schönsten, die auf dem Angesichte der Erde gefunden wurde; da ward ihm der Verstand geraubt und sein Sinn verwirrt. Und er sprach: ,O Scheich, verkaufe mir dies Bild!' Jener küßte den Boden vor ihm und sprach: ,Mein Gebieter, es ist dein ohne Preis!' Da zahlte der Jüngling ihm hundert Dinare und nahm das Buch, in dem sich dies Bild befand; dann begann er es anzustarren, mit Tränen im Auge, Tag und Nacht, und er enthielt sich der Speise und des Tranks und des Schlafes. Und er sprach bei sich selber: ,Wenn ich den Buchhändler nach dem Maler dieses Bildes frage, so wird er ihn mir vielleicht kundtun; und wenn das Urbild am Leben ist, so will ich zu ihm zu gelangen suchen. Ist es aber nur ein Bild, so will ich davon ablassen, dieser Frau in Liebe anzuhängen, und will mich nicht um etwas quälen, das keine Wirklichkeit hat.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 953. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Jüngling bei sich selber sprach: ,Wenn ich den Buchhändler nach dem Maler



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dieses Bildes frage, so wird er ihn mir vielleicht kundtun. Und ist es nur ein Bild, so will ich davon ablassen, dieser Frau in Liebe anzuhängen, und will mich nicht mit etwas quälen, das keine Wirklichkeit hat.' Als es wieder Freitag wurde, ritt er bei dem Buchhändler vorbei; und wie der vor ihm aufsprang, sprach er zu ihm: ,Oheim, tu mir kund, wer dies Bild gemalt hat!' ,Hoher Herr,' gab jener ihm zur Antwort, ,ein Mann aus dem Volke von Baghdad hat es gemalt; er heißt Abu el-Kâsim es-Sandalâni, und er wohnt in einem Viertel des Namens el-Karch. Aber ich weiß nicht, wessen Bildnis dies ist.' Da verließ der Jüngling ihn, und ohne irgendeinem aus dem Volke seines Reiches etwas von seinen Absichten zu verraten, verrichtete er das Freitagsgebet und kehrte nach Hause zurück. Dann nahm er einen Sack und füllte ihn mit Gold und Edelsteinen im Werte von dreißigtausend Dinaren. Nachdem er bis zum anderen Morgen gewartet hatte, ging er fort, ohne jemandem etwas zu sagen. Er schloß sich einer Karawane an, und als er einen Beduinen erblickte, fragte er ihn: ,Sag, Oheim, wie weit ist es zwischen mir und Baghdad!' ,Ach, mein Sohn,' antwortete jener, ,wo bist du und wo ist Baghdad? Zwischen dir und jener Stadt liegt eine Reise von zwei Monaten!' Doch Ibrahîm fuhr fort: ,Oheim, wenn du mich nach Baghdad bringst, so will ich dir hundert Dinare geben, dazu noch diese Stute, die ich reite und die tausend Dinare wert ist.' Da sprach der Beduine: ,Allah sei Bürge für das, was wir reden! Heute nacht sollst du bei niemand anders zu Gaste sein als bei mir.' Der Jüngling willigte in seinen Vorschlag ein und verbrachte die Nacht bei ihm. Als die Morgenröte anbrach, nahm der Beduine ihn mit sich und führte ihn eiligst auf dem kürzesten Wege aus Gier nach jener Stute, die er ihm versprochen hatte; und sie zogen unablässig weiter, bis sie vor den Mauern von



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Baghdad anlangten. Dort sprach der Beduine zu ihm: ,Preis sei Allah für die glückliche Ankunft, mein Herr! Dies ist Baghdad.' Des freute sich der Jüngling über die Maßen, und nachdem er von der Stute abgestiegen war, gab er sie dem Manne der Wüste zugleich mit den hundert Dinaren. Dann nahm er den Sack und begann nach dem Viertel von el-Karch zu fragen sowie nach der Stätte der Kaufleute; da führte ihn das Schicksal in eine Gasse, in der sich zehn kleine Häuser befanden, auf jeder Seite fünf, die einander gegenüber lagen. Am oberen Ende der Gasse befand sich ein Tor mit zwei Türflügeln, an denen ein silberner Ring erglänzte; und in dem Torweg standen zwei Marmorbänke, die mit den schönsten Teppichen bedeckt waren. Auf einer von beiden saß ein Mann von ehrwürdigem Aussehen und schöner Gestalt, der in prächtige Gewänder gekleidet war; und vor ihm standen fünf Mamluken, so schön wie Monde. Als der Jüngling das sah, erkannte er die Zeichen, die ihm der Buchhändler beschrieben hatte, und er grüßte den Mann; jener gab ihm den Gruß zurück, hieß ihn willkommen, bat ihn, sich zu setzen, und fragte ihn nach seinem Ergehen. Der Jüngling erwiderte ihm: ,Ich bin ein Fremdling, und ich bitte dich, sei so gütig, mir in dieser Straße ein Haus auszusuchen, in dem ich wohnen kann.' Da rief der andere laut: ,He, Ghazâla!" Und nun kam eine Sklavin zu ihm heraus und sprach: ,Zu deinen Diensten, mein Herr!' Er befahl ihr: ,Nimm einige Diener mit dir und dann geht zu demunddem Haus, säubert es, stattet es aus und bringt alles dorthin, was es an Geräten und anderen Dingen bedarf, und zwar für diesen schöngestalteten Jüngling.' Die Sklavin ging hin und tat, wie er ihr befohlen hatte. Dann nahm der Scheich den Jüngling mit und zeigte ihm das Haus. Und als



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jener fragte: ,Lieber Herr, wie hoch ist die Miete dieses Hauses?' antwortete er: ,O Schöngesicht, ich nehme keine Miete von dir, solange du darin wohnst.' Dafür dankte ihm der Jüngling; und dann rief der Scheich eine andere Sklavin; nun trat ein Mädchen heraus, so schön wie die Sonne, und zu der sprach er: ,Bring das Schachspiel!' Als sie es gebracht hatte, breitete ein Mamluk das Schachbrett aus; und der Greis sprach zu dem Jüngling: ,Willst du mit mir spielen?' ,Gern', erwiderte jener; und sie spielten mehrere Male. Ibrahim gewann, und der Scheich rief: ,Das hast du gut gemacht, Jüngling! Du bist fürwahr vollkommen in deinen Eigenschaften. Bei Allah, es gibt in Baghdad niemanden, der mich besiegen kann; und nun hast du mich besiegt.' Als die Diener das Haus mit Teppichen und allein anderen, dessen es bedurfte, ausgestattet hatten, übergab der Alte dem Jüngling die Schlüssel und sprach zu ihm: ,Mein Gebieter, willst du nicht in mein Haus eintreten und von meinem Brot essen, so daß wir durch dich beehrt werden?' Der Jüngling willigte darin ein und ging mit ihm; und als sie zu dem Hause kamen, sah er ein schönes, prächtiges Gebäude, das mit Gold verziert war; in ihm befanden sich allerlei Gemälde, ferner viele Arten von Teppichen und andere Dinge, die keine Zunge beschreiben kann. Dort hieß der Alte ihn willkommen und befahl, die Speisen zu bringen; die Diener brachten einen Tisch, der aus San's in Jemen stammte, und setzten ihn nieder; dann brachten sie die seltensten Speisen, wie sie prächtiger und köstlicher nirgends gefunden werden. Der Jüngling aß, bis er gesättigt war, wusch sich danach die Hände und begann das Haus und die Ausstattung anzusehen. Darauf wandte er sich um und schaute nach dem Sack. den er mitgebracht hatte; doch er fand ihn nicht, und so sprach er: ,Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei



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Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen! Ich habe einen Bissen gegessen, der einen Dirhem oder zwei wert ist, und ich habe einen Sack verloren, in dem dreißigtausend Dinare waren. Doch ich suche Hilfe bei Allah.' Dann schwieg er und konnte nicht weiterreden. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 954. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Jüngling, als er sah, daß der Sack verloren war, von schwerer Sorge ergriffen ward und schwieg und nicht mehr reden konnte. Da brachte der Scheich das Schachspiel und sprach zu ihm: ,Willst du mit mir spielen?' ,Jawohl', erwiderte der Jüngling; und nun spielten sie, doch diesmal gewann der Alte. Da sagte Ibrahim: ,Gut!', verließ das Spiel und stand auf. ,Was ist dir, Jüngling?' fragte der Scheich; und jener antwortete: ,Ich suche den Sack.' Sofort erhob sich der Alte und holte ilm her und sprach: ,Da ist er, lieber Herr. Willst du jetzt wieder mit mir spielen?' ,Gern', erwiderte der Jüngling, spielte mit ihm und gewann wiederum. Der Alte sprach: ,Als deine Gedanken mit dem Sack beschäftigt waren, gewann ich; aber da ich ihn dir wiedergebracht habe, hast du mich besiegt.' Dann fuhr er fort: ,Mein Sohn, sage mir, aus welchem Lande bist du?' ,Aus Ägypten', antwortete jener; und der Scheich fragte weiter: ,Aus welchem Grunde bist du denn nach Baghdad gekommen?' Nun holte Ibrahim das Bildnis heraus und sprach: ,Wisse, Oheim, ich bin der Sohn von el-Chasîb, dem Herrn von Ägypten; ich sah dies Bild bei einem Buchhändler, und es raubte mir den Verstand. Als ich nach seinem Maler fragte, ward mir gesagt, das sei ein Mann im Viertel el-Karch, des Namens Abu el-Kâsim es-Sandalâni, in einer Gasse, die man



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als die Safrangasse kenne. Da nahm ich etwas Geld mit mir und kam allein hierher, ohne daß jemand um mein Tun wußte; ich möchte nun, daß du in der Fülle deiner Güte mich zu ihm führest, damit ich ihn fragen kann, weshalb er dies Bild gemalt hat und wessen Bild es ist. Was er nur immer von mir verlangt, das will ich ihm geben.' ,Bei Allah, mein Sohn,' erwiderte der Alte, ,ich bin Abu el-Kâsim es-Sandalâni; und dies ist ein wundersam Ding, wie das Schicksal dich zu mir geführt hat!' Als der Jüngling diese Worte von ihm vernommen hatte, eilte er auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihm Haupt und Hände und sprach zu ihm: ,üm Allahs willen, tu mir kund, wessen Bild es ist!' ,Ich höre und gehorche', sprach der Alte, ging hin, öffnete eine Kammer und holte eine Anzahl von Büchern heraus, in die er dasselbe Bild gemalt hatte. Dann sprach er: ,Wisse, mein Sohn, daß sie, die auf diesem Bilde dargestellt ist, meine Base ist; sie lebt in Basra, ihr Vater ist der Statthalter von Basra und heißt Abu el-Laith, sie selbst aber heißt Dschamîla. Es gibt auf dem Angesichte der Erde keine, die schöner wäre als sie; aber sie ist den Männern abgeneigt, und sie läßt nicht zu, daß man das Wort Mann in ihrer Gegenwart ausspricht. Ich bin schon zu meinem Oheim gegangen, um ihn zu bitten, daß er mich mit ihr vermähle, und ich habe viel Geld dafür ausgegeben; aber er konnte mir diesen Wunsch nicht erfüllen. Und als seine Tochter dies erfuhr, ergrimmte sie und ließ mir eine Botschaft zukommen, in der sie unter anderem sagte: ,Wenn du noch Verstand hast, so verweile nicht länger in dieser Stadt, sonst wirst du umkommen, und die Schuld ruht auf deinem Haupte.' Sie ist eine herzlose Tyrannin; und so mußte ich denn gebrochenen Herzens Basra verlassen. Doch ich malte dies Bild in Bücher und schickte sie in fremde Länder, auf daß ihr Bild vielleicht in die



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Hand eines schönen Jünglings fiele, wie du es bist; dann sollte er sich Zutritt zu ihr verschaffen, und sie sollte ihn lieb gewinnen; ich aber wollte ihm das Versprechen abnehmen, sie mir zu zeigen, wenn auch nur einen Augenblick von ferne.' Als Ibrahim ihn el-Chasîb diese Worte hörte, senkte er sein Haupt eine Weile in tiefen Gedanken; doch es-Sandalâni hub von neuem an: ,Mein Sohn, ich habe in Baghdad niemanden gesehen, der schöner wäre als du; und ich glaube, sie wird dich lieb gewinnen, wenn sie dich sieht. Willst du also, wenn du mit ihr vereinigt bist und sie gewonnen hast, sie mir zeigen, sei es auch nur einen Augenblick von ferne?' ,Jawohl', erwiderte Ibrahim; und der Scheich fahr fort: .Wenn dem wirklich so ist, so bleibe bei mir, bis du auf brichst!' Doch der Jüngling warf ein: ,Ich kann nicht länger verweilen; denn die Liebe zu ihr ist wie ein immer heißer brennendes Feuer in meinem Herzen.' Da sprach der Scheich zu ihm: ,Habe drei Tage Geduld, daß ich dir ein Schiff ausrüste. mit dem du nach Basra fahren kannst!' So wartete jener, bis Abu el-Kâsim ihm ein Schiff ausgerüstet und mit allem versehen hatte, was er an Speise und Trank und anderen Dingen nötig hatte. Nach drei Tagen sprach der Scheich zu dem Jüngling: ,Halte dich bereit zur Reise; denn ich habe dir ein Schiff ausgerüstet, auf dem alles ist, was du brauchst. Das Schiff ist mein Eigentum, und die Seeleute sind meine Diener; und an Bord befindet sich so viel, daß es dir genügen wird, bis du heimkehrst; auch habe ich den Seeleuten ans Herz gelegt, dich zu bedienen, bis du wohlbehalten wieder zurückkommst.' Alsbald machte der Jüngling sich auf und begab sich zum Schiffe, nachdem er von seinem Wirte Abschied genommen hatte; und dann segelte er stromabwärts, bis er in Basra ankam; dort holte er hundert Dinare für die Seeleute heraus, doch die sprachen zu ihm:



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,Wir haben unseren Lohn von unserem Herrn erhalten.' ,So nehmt dies als Gabe,' sagte er, ,und ich werde es ihm nicht mitteilen!' Da nahmen sie es und segneten ihn. Dann begab sich der Jüngling in die Stadt Basra und fragte: ,Wo wohnen die Kaufleute?' Man erwiderte ihm: ,In dem Chân, der da heißt Chân Hamdân.' Deshalb ging er weiter, bis er zu dem Basar kam, an dem der Chân stand; und aller Augen richteten sich auf ihn, da er so überaus schön und lieblich war. Darauf trat er in den Chân ein, begleitet von einem Seemann, und fragte nach dem Pförtner; man führte ihn zu ihm, und er erkannte in ihm einen hochbetagten Scheich von ehrwürdigem Aussehen. Er grüßte ihn, und jener gab ihm den Gruß zurück. Dann hub Ibrahim an: ,Oheim, hast du ein hübsches Zimmer?' ,Jawohl', erwiderte jener, führte ihn und den Schiffer, öffnete ihnen ein schönes Zimmer, das mit Gold verziert war, und sprach: ,Junger Herr, sieh, dies Zimmer ist dir angemessen.' Da zog Ibrahim zwei Dinare hervor und sprach zu dem Pförtner: ,Nimm diese beiden als Schlüsselgeld.' Jener nahm sie und segnete ihn; dann befahl der Jüngling dem Seemann, zum Schiffe zu gehen, und trat selber in das Zimmer ein. Der Pförtner des Châns aber blieb bei ihm und bediente ihn, indem er sprach: ,Hoher Herr, durch dich ist die Freude bei uns eingekehrt.' Nun gab der Jüngling ihm einen Dinar mit den Worten: ,Hol uns dafür Brot und Fleisch und Süßigkeiten und Wein!' So ging der Türhüter denn auf den Basar, und nachdem er all das für zehn Dirhems gekauft hatte, kehrte er zu Ibrahim zurück und gab ihm die übrigen zehn. Doch der sprach zu ihm: ,Gib sie für dich selbst aus!' Dessen freute sich der Pförtner des Châns über die Maßen. Dann aß der jüngling von alledem, was er hatte kommen lassen, nur ein Brot mit etwas Zukost und sprach zu dem Pförtner: ,Nimm dies für die



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Leute deines Hauses!' Der nahm es. brachte es den Seinen und sprach zu ihnen: ,Ich glaube, es lebt auf dem Angesichte der Erde kein edlerer und kein liebenswürdigerer Mensch als der Jüngling, der heute bei uns eingekehrt ist. Wenn er länger bei uns bleibt, so werden wir reich werden.' Dann trat der Pförtner wieder zu Ibrahim ein und sah ihn weinen. Da setzte er sich nieder und begann ihm die Füße zu reiben, und er küßte sie und sprach: ,Hoher Herr, warum weinst dm Möge Allah dich nie weinen lassen!' ,Oheim,' erwiderte Ibrahim, ,ich möchte heute abend mit dir trinken.' ,Ich höre und gehorche!' sagte darauf der Türhüter; und der Jüngling gab ihm fünf Dinare mit den Worten: ,Kaufe uns dafür Früchte und Wein!' Dann reichte er ihm wiederum fünf Dinare und sprach zu ihm: ,Kaufe uns dafür Nachtisch und Blumen und fünf fette Hühner; auch bringe mir eine Laute!' Nun eilte der Alte fort, kaufte, was jener ihm befohlen hatte, und sprach zu seiner Frau: ,Bereite diese Speisen zu und kläre uns diesen Wein! Was du zubereitest, muß aber sehr gut sein, denn dieser Jüngling hat uns mit seiner Güte überhäuft.' Seine Frau tat, wie er ihr befohlen hatte, mit der allergrößten Sorgfalt; und er nahm alles und brachte es zu Ibrahim, dem Sohne des Sultans, hinein. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 955. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Pförtner des Châns, nachdem seine Frau die Speisen und den Wein zubereitet hatte, alles nahm und zu Ibrahim, dem Sohne des Sultans hineinbrachte. Darauf aßen die beiden und tranken und waren guter Dinge. Doch dann begann der Jüngling zu weinen und sang diese beiden Verse: 387



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Mein Freund, wenn ich mein ganzes Leben opfern müßte,
Dazu auch all mein Geld. die Welt und was sie beut.
Das ganze Paradies und auch das ew'ge Leben
Für eine Liebesstunde. wär mein Herz bereit.

Dann tat er einen tiefen Seufzer und sank ohnmächtig nieder; und auch der Pförtner des Châns begann zu schluchzen. Als der Jüngling wieder zu sich kam, sprach der Türhüter zu ihm: ,Hoher Herr, was veranlaßt dich zu weinen, und wer ist sie, die du mit diesen Versen meinst? Sie kann doch nur Staub zu deinen Füßen sein.' Doch Ibrahim ging hin und holte ein Bündel der schönsten Frauenkleider und sprach zu ihm: ,Nimm dies für deine Frauen!' Da nahm der Pförtner sie von ihm hin und brachte sie seiner Frau; sie kam mit ihm und trat zu dem Jüngling ein; doch siehe, er weinte wiederum. Nun sprach sie zu ihm: ,Du brichst unsere Herzen. Tu uns kund, nach welcher Schönen du begehrst, und sie soll alsbald nichts anderes sein als deine Magd!' Der Jüngling erwiderte: ,Oheim, wisse, ich bin der Sohn el-Chasîbs, des Herrn von Ägypten, und ich bin von Liebe erfüllt zu Dschamîla, der Tochter des Statthalters el-Laith.' Doch die Frau des Türhüters rief: ,Allah, Allah! Mein Bruder, laß diese Reden, damit uns niemand hört; sonst sind wir des Todes! Denn es gibt auf dem Angesicht der Erde keine, die gewalttätiger wäre als sie; und niemand darf vor ihr das Wort Mann aussprechen, da sie den Männern abgeneigt ist. Mein Sohn, wende dich von ihr zu einer anderen!' Als er ihre Worte vernommen hatte, weinte er bitterlich, und der Pförtner des Châns sprach zu ihm: ,Ich habe nichts als mein Leben; aber das will ich wagen aus Liebe zu dir, und ich will dir ein Mittel finden, durch das du dein Ziel erreichen mögest.' Darauf gingen die beiden von ihm fort; er aber begab sich am nächsten Morgen ins Bad und legte dann ein königliches



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Gewand an. Da traten auch schon der Pförtner und seine Frau zu ihm herein und sprachen zu ihm: ,Hoher Herr, wisse, es wohnt hier ein buckliger Schneidersmann, der istder Schneider der Herrin Dschamîla. Geh zu ihm und tu ihm kund, wie es um dich steht, vielleicht kann er dir einen Weg zeigen, auf dem du zu deinem Ziele gelangen kannst!' Sofort machte der Jüngling sich auf und begab sich zu dem buckligen Schneider; und als er zu ihm eintrat, fand er bei ihm zehn Mamluken, so schön wie Monde. Er begrüßte sie, und sie gaben ihm den Gruß zurück; dann hießen sie ihn willkommen und baten ihn, sich zusetzen, fast verwirrt durch seine Schönheit und Anmut; auch als der bucklige Schneider ihn sah, ward ihm der Sinn berückt durch die schöne Gestalt. Da sprach der Jüngling zu ihm: ,Ich wünsche, daß du mir meine Tasche nähest'; und der Schneider trat heran, nahm einen seidenen Faden und nähte die Tasche, die jener absichtlich zerrissen hatte. Und als der Mann mit dem Nähen fertig war, holte der Jüngling fünf Dinare heraus, gab sie ihm und kehrte in seine Wohnung zurück. Der Schneider sprach: ,Was habe ich für diesen jungen Herrn getan, daß er mir die fünf Dinare gegeben hat?' Dann verbrachte er die Nacht in Gedanken an seine Schönheit und seinen Edelmut. Am nächsten Morgen ging Ibrahim wieder zu dem Laden des buckligen Schneiders, trat ein und begrüßte ihn; jener gab ihm den Gruß zurück und hieß ihn in höflichster Weise willkommen. Nachdem der Jüngling sich gesetzt hatte, sprach er zu dem Buckligen: ,Nähe mir meine Tasche! Sie ist mir wieder zerrissen.' Jener antwortete ihm: ,Herzlich gern, mein Sohn', trat heran und nähte sie. Darauf gab Ibrahim ihm zehn Dinare; und der Schneider nahm sie, ganz erstaunt ob seiner Schönheit und Großmut. Dann sprach er: ,Bei Allah, junger Herr, dein Tun muß ganz sicher einen



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Grund haben; denn so verfährt man nicht beim Nähen einer Tasche. Doch sage mir, wie es in Wahrheit um dich steht! Wenn du einen dieser Knaben liebst, so ist bei Allah - unter ihnen keiner schöner als du; sie alle sind Staub zu deinen Füßen, ja, sie sind Sklaven vor dir. Oder wenn es etwas anderes ist als dies, so tu es mir kund!' ,Oheim,' erwiderte Ibrahim. ,dies ist nicht der Ort zum Reden; denn meine Geschichte ist seltsam gar, und mein Erlebnis ist wunderbar.' Der Schneider fuhr fort: ,Wenn dem so ist, so komm mit mir in ein besonderes Zimmer!' Darauf führte er ihn an der Hand und trat mit ihm in ein Zimmer hinter dem Laden. Dort sprach er zu ihm: ,Junger Herr, jetzt erzähle mir!' Ibrahim also erzählte ihm seine Geschichte von Anfang bis zu Ende; der Schneider aber staunte über seine Worte und rief: ,Junger Herr, fürchte Allah für dich! Die du da nennst, ist eine Tyrannin, die den Männern abhold ist. Hüte deine Zunge, mein Bruder; sonst wirst du dich selbst zugrunde richten!' Als der jüngling solche Worte von ihm vernahm, weinte er bitterlich, und er rief, indem er sich an die Säume des Schneiders klammerte: ,Hilf mir, Oheim; sonst bin ich des Todes! Ich habe mein Reich und das Reich meines Vaters und meines Großvaters verlassen und bin ein einsamer Fremdling in fernem Lande geworden; ich kann nicht länger ohne sie sein.' Wie der Schneider nun sah, was über ihn gekommen war, hatte er Mitleid mit ihm und sprach: ,Mein Sohn, ich habe nur mein Leben; aber das will ich wagen aus Liebe zu dir; denn du hast mein Herz verwundet. Darum will ich dir morgen ein Mittel ersinnen, durch das dein Herz Trost finden soll.' Ibrahim segnete ihn und kehrte zum Chân zurück; dort erzählte er dem Pförtner, was der Bucklige ihm gesagt hatte, und jener sprach: ,Er hat fürwahr freundlich an dir gehandelt.' Als es wieder Morgen ward, legte der Jüng



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ling seine prächtigsten Kleider an, nahm einen Beutel voll Dinare mit sich und begab sich zu dem Buckligen. Nachdem er ihn begrüßt und sich gesetzt hatte, sprach er zu ihm: ,Oheim, halte mir dein Versprechen!' Darauf antwortete ihm jener: ,Mach dich sogleich auf, hol drei fette Hühner und drei Unzen Zuckerkand und zwei kleine Krüge; die fülle mit Wein und nimm auch einen Becher dazu! All das tu in einen Beutel und steig morgen nach dem Frühgebet zu einem Fährmann ins Boot und sprich zu ihm: ,Ich wünsche, daß du mich nach unterhalb von Basra fährst.' Wenn er dann sagt: ,Ich kann nicht weiter fahren als eine Parasange', so sprich zu ihm: ,Wie du willst!' Wenn er aber so weit gefahren ist, erwecke die Geldgier in ihm, daß er dich ans Ziel führe; wenn du dann dahin kommst, so ist der erste Blumengarten, den du siehst, der Garten der Herrin Dschamîla. Sobald du ihn erblickst. geh zu seinem Tor! Dort findest du zwei hohe Stufen, die mit Teppichen aus Brokat belegt sind und auf denen ein buckliger Mann gleich mir sitzt. Dem klage deine Not und flehe ihn um seine Hilfe an; vielleicht wird er mit deinem Elend Mitleid haben und dir dazu verhelfen, daß du sie siehst, wenn auch nur mit einem Blick aus der Ferne! Ich weiß keinen anderen Weg als diesen. Wenn jener aber kein Mitleid mit deinem Elend hat, so sind wir beide des Todes. ich und du. Dies ist der Rat, den ich geben kann; die Sache aber steht bei Allah dem Erhabenen.' Ibrahim sprach: ,Ich flehe Allah um Hilfe an. Was Allah will, das geschieht. Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah!' Dann verließ er den buckligen Schneider und begab sich in seine Wohnung; nachdem er dann alles, was jener ihm nannte, erhalten hatte, tat er es in einen kleinen Beutel. Am nächsten Morgen eilte er zum Ufer des Tigris, und dort fand er einen schlafenden Fährmann; den



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weckte er, gab ihm zehn Dinare und sprach zu ihm: ,Setze mich über nach unterhalb von Basra!' Jener erwiderte ihm: ,Mein Gebieter, nur unter der Bedingung, daß ich nicht weiter als eine Parasange zu fahren brauche; wenn ich nämlich diese Strecke auch nur um eine Spanne überschreite, so sind wir des Todes, ich und du.' Ibrahim sagte: ,Wie du willst!' Da nahm jener ihn und fuhr mit ihm stromabwärts; und als sie sich dem Garten näherten, rief er: ,Mein Sohn, von hier aus kann ich nicht weiter fahren; wenn ich diese Grenze überschreite, so sind wir des Todes, ich und du.' Doch Ibrahim zog wiederum zehn Dinare für ihn heraus und sprach zu ihm: ,Nimm dies Geld und suche damit deine Lage zu bessern.' Weil nun der Fährmann Scheu vor ihm hatte, sprach er: ,Ich befehle die Sache in die Hand Allahs des Erhabenen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 956. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Fährmann, als der Jüngling ihm wiederum zehn Dinare reichte, sie hinnahm und sprach: ,Ich befehle die Sache in die Hand Allahs des Erhabenen.' Und er fuhr weiter mit ihm stromabwärts. Kaum aber waren sie dem Garten nahe, da erhob Ibrahim sich in seiner Freude und sprang vom Boote aus ans Ufer, etwa einen Speerwurf weit, und warf sich dort nieder; der Ferge jedoch kehrte um und flüchtete. Dann schritt der Jüngling weiter und fand alles, was der Bucklige ihm von dem Garten geschildert hatte; er sah auch das Tor offen und im Torweg ein Lager aus Elfenbein, auf dem ein buckliger Mann von freundlichem Aussehen saß, angetan mit vergoldeten Kleidern und in der Hand eine silberne Keule, die mit Gold überzogen war. Auf den eilte der Jüngling zu, beugte sich über seine Hand und küßte



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sie. Der Bucklige fragte ihn: ,Wer bist du? Woher kommst du? Wer hat dich hierher gebracht, mein Sohn?' Jener Mann war aber, als er Ibrahim ibn el-Chasîb erblickte, über dessen Anmut erstaunt. Da sprach der Jüngling zu ihm: ,Ach, Oheim, ich bin ein unwissender Knabe und ein Fremdling'; und er weinte. Da hatte jener Mitleid mit ihm und zog ihn zu sich auf das Lager, wischte ihm die Tränen ab und sprach zu ihm: ,Dir soll kein Leid widerfahren! Wenn du ein Schuldner bist, so möge Allah deine Schulden tilgen; und wenn du in Gefahr bist, so möge Allah dich gegen die Gefahr sichern!' ,Ach, Oheim,' erwiderte Ibrahim. ,ich bin nicht in Gefahr, und ich habe keine Schulden: vielmehr habe ich Geld in Fülle dank der Hilfe Allahs.' Nun fragte der Bucklige: ,Mein Sohn, was ist denn dein Begehr, so daß du dich und deine Schönheit an eine Stätte wagst, an der das Verderben lauert?' Da erzählte der Jüngling ihm seine Geschichte und berichtete ihm, wie es um ihn stand. Doch als jener seine Worte vernommen hatte, senkte er sein Haupt eine Weile zu Boden; dann fragte er: ,Ist der Mann, der dich zu mir wies, der bucklige Schneider?' ,Jawohl', antwortete der Jüngling, und der andere fuhr fort: ,Er ist mein Bruder, und er ist ein gesegneter Mann.' Dann fügte er hinzu: ,Mein Sohn, hätten sich die Liebe zu dir und das Mitleid mit dir nicht in mein Herz gehenkt, so wäret ihr alle verloren, du und mein Bruder und der Pförtner des Châns und seine Frau.' Und wiederum sagte er: ,Wisse, dieser Garten hat auf dem Angesichte der Erde nicht seinesgleichen, und er heißt der Garten der wilden Färse.' Während meines ganzen Lebens hat ihn noch kein anderer Mensch betreten als der Sultan und ich und Dschamîla, der er gehört. Ich lebe hier seit zwanzig Jahren, aber noch nie habe ich gesehen, daß jemand an diese



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Stätte gelangt wäre. Alle vierzig Tage kommt die Herrin in einer Barke hierher und geht an Land, umgeben von ihren Dienerinnen unter einem Baldachin aus Atlas, dessen Säume zehn Mädchen an goldenen Haken halten, bis sie hineingegangen ist; und so habe ich noch nie etwas von ihr gesehen. Doch ich habe ja nur mein Leben; und das will ich für dich wagen.' Da küßte der Jüngling ihm die Hand, und der Wächter sprach zu ihm: ,Setze dich zu mir, bis ich einen Plan für dich ersonnen habe.' Danach nahm er ihn bei der Hand und führte ihn in den Garten hinein. Als Ibrahim jenen Blumengarten erblickte, deuchte es ihn, er wäre das Paradies; denn er sah dort, wie die Bäume ineinander verschlungen waren, wie die Palmen hoch aufragten, die Bäche sprangen und die Vöglein mit mancherlei Stimmen sangen. Dann führte der Wärter ihn in einen Pavillon, und dort sprach er zu ihm: ,Dies ist die Stätte, an der die Herrin Dschamîla zu sitzen pflegt.' Da schaute der Jüngling den Pavillon an und erkannte, daß er eines der seltensten Lusthäuser war. Denn an ihm befanden sich lauter Gemälde in Gold und Azurfarbe, und er hatte vier Türen, zu denen man auf fünf Stufen hinaufstieg. In der Mitte aber war ein Wasserbecken, zu dem Stufen aus Gold hinab führten, und diese Stufen waren mit Edelsteinen eingelegt; und inmitten des Beckens stand ein goldener Springbrunnen mit großen und kleinen Figuren, die das Wasser aus dem Munde spieen. Und da die Figuren, wenn das Wasser herausfloß, in verschiedenen Klängen ertönten, so schien es dem, der sie hörte, als ob er im Paradies wäre. Rings um den Pavillon floß ein Kanal mit einem Wasserwerk, dessen Eimer aus Silber gearbeitet und mit Brokat bedeckt waren. Und links neben dem Wasserwerk befand sich ein Gitter aus Silber, durch das man auf eine grüne Aue sah; dort waren allerlei wilde Tiere,



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Gazellen und Hasen. Rechts daneben aber war ein zweites Gitter, das auf eine Wiese führte; und dort waren lauter Vögel, die alle in mancherlei Stimmen sangen und den Hörer berückten. Als der Jüngling das alles geschaut hatte, war er von Entzücken erfüllt. Dann setzte er sich wieder in den Torweg des Gartens und der Gärtner setzte sich neben ihn und sprach zu ihm: ,Wie gefällt dir mein Garten?' ,Er ist das Paradies auf Erden', antwortete Ibrahim; der Gärtner lächelte und ging dann eine Weile fort. Als er zurückkehrte, hatte er eine Platte bei sich, auf der Hühner und Wachteln waren, allerlei leckere Speisen und Süßigkeiten aus Zucker; die stellte er vor den Jüngling hin mit den Worten: ,Iß dich satt!' So aß denn Ibrahim', bis er gesättigt war; und als der Gärtner sah, wie jener gegessen hatte, freute er sich und rief: ,Bei Allah, dies ist die Art von Königen und Prinzen.' Dann fragte er: ,O Ibrahim, was hast du bei dir in diesem Beutel?' Der Jüngling öffnete ihn vor seinen Augen, und der Gärtner sprach: ,Nimm ihn mit dir; er wird dir nützen, wenn die Herrin Dschamîla kommt! Denn wenn sie hier ist, kann ich dir nichts mehr zu essen bringen.' Dann erhob er sich, nahm Ibrahim bei der Hand und führte ihn an eine Stätte gegenüber dem Pavillon Dschamîlas; dort machte er ihm eine Laube zwischen den Bäumen und sprach zu ihm: ,Hier steig hinauf; und wenn sie kommt, so kannst du sie sehen, während sie dich nicht sieht! Dies ist das Äußerste, was ich für dich tun kann; auf Allah aber ruht unser Vertrauen! Wenn sie singt, so trink du zu ihrem Gesang; und wenn sie fortgeht, mögest du in Sicherheit dorthin zurückkehren, von wo du gekommen bist, so Allah der Erhabene will.' Der Jüngling dankte ihm und wollte ihm die



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Hand küssen; doch er entzog sie ihm. Darauf legte Ibrahim den Beutel in die Laube, die jener für ihn gemacht hatte; und nun sprach der Gärtner zu ihm: ,Ibrahim, schau dich im Garten um und iß von seinen Früchten! Die Zeit der Ankunft deiner Herrin ist auf morgen festgesetzt.' Nachdem Ibrahim sich also in dem Garten ergötzt und von seinen Früchten gegessen hatte, brachte er die Nacht bei dem Gärtner zu. Als aber der Morgen sich erhob und die Welt mit seinen leuchtenden Strahlen durchwob, sprach Ibrahim das Frühgebet; da trat auch schon der Gärtner bleichen Angesichts zu ihm und sprach: ,Wohlan, mein Sohn, steig in die Laube hinauf! Denn die Dienerinnen sind schon gekommen, um die Stätte zu bereiten; und sie kommt hinter ihnen her.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 957. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Gärtner, als er zu Ibrahîm ibn el-Chasîb in den Garten trat, zu ihm sprach: ,Wohlan, mein Sohn, steig in die Laube hinauf! Denn die Dienerinnen sind schon gekommen, um die Stätte zu bereiten; und sie kommt hinter ihnen her. Hüte dich auszuspucken oder zu schnauben oder zu niesen, sonst sind wir beide des Todes, ich und du!' Da ging der Jüngling hin und stieg in die Laube hinauf; doch der Gärtner ging fort und sprach: ,Allah gewähre dir Sicherheit, mein Sohn!' Während Ibrahim nun dort saß, erschienen plötzlich fünf Dienerinnen, derengleichen noch nie jemand gesehen hatte; die traten in den Pavillon ein, legten ihre Oberkleider ab und wuschen ihn, besprengten ihn mit Rosenwasser, beräucherten ihn mit Aloeholz und Ambra und statteten ihn mit Brokatdecken aus. Nach ihnen kamen fünfzig Dienerinnen mit Musikinstrumenten, und unter ihnen



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schritt Dschamîla unter einem Baldachin aus rotem Brokat, dessen Säume die Sklavinnen an goldenen Haken hielten, bis sie in den Pavillon eintrat; doch Ibrahim sah nichts von ihr, noch auch von ihren Gewändern, und so sprach er bei sich: ,Bei Allah, meine ganze Mühe war vergeblich! Doch es ist nicht anders möglich, als daß ich warte, bis ich sehe, wie es wird.' Da brachten die Dienerinnen Speise und Trank; und nachdem sie gegessen und ihre Hände gewaschen hatten, stellten sie für die Herrin einen Stuhl auf, und sie setzte sich nieder. Darauf spielten sie alle auf den Musikinstrumenten und sangen mit unvergleichlich schönen Stimmen. Plötzlich trat eine alte Kammerfrau hervor, klatschte in die Hände und tanzte, während die Mädchen sie hin und her zogen, bis der Vorhang gehoben wurde und Dschamîla lächelnd heraustrat. Nun konnte Ibrahim sie schauen, wie sie mit Schmuck und Prachtgewändem bedeckt war und auf dem Haupte eine Krone, besetzt mit Perlen und Edelsteinen, trug; um ihren Hals schlang sich ein Halsband aus Perlen, und um ihren Leib lag ein Gürtel aus Chrysolithstäbchen mit Schnüren aus Rubinen und Perlen. Die Mädchen küßten vor ihr den Boden, während sie lächelte. ,Als ich sie ansah' — so erzählte Ibrahîm ibn el-Chasîb -, ,ward ich wie von Sinnen, mein Verstand ward berückt, meine Gedanken verwirrten sich; so sehr überwältigte mich eine Schönheit, derengleichen es auf dem Angesichte der Erde nicht gab. Und ich sank in Ohnmacht; als ich aber wieder zu mir kam, standen mir die Tränen in den Augen, und ich sprach diese beiden Verse:

Ich schau dich an und kann die Augen nimmer schließen;
Dein Bild soll durch der Lider Schleier nicht verblassen.
Ach, wenn ich auch mit allen meinen Blicken schaute,
Die Augen könnten deine Reize doch nicht fassen.'



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Darauf sprach die Alte zu den Mädchen: ,Zehn von euch sollen nun beginnen zu tanzen und zu singen!' Doch als Ibrahim sie sah, sprach er bei sich: ,Ich wünschte, die Herrin Dschamîla tanzte selber.' Als nun die zehn Mädchen ihren Tanz beendet hatten, umringten sie die Prinzessin und sprachen: ,O Herrin, wir möchten, daß du bei dieser Feier tanzest, auf daß unsere Freude dadurch vollkommen werde; wir haben noch nie einen schöneren Tag erlebt als den heutigen.' Wieder sprach Ibrahim ibn el-Chasîb bei sich: ,Jetzt sind sicher die Tore des Himmels aufgetan, und Allah hat mein Gebet erhört!' Dann küßten die Mädchen ihrer Herrin die Füße und sprachen zu ihr: ,Bei Allah, wir haben deine Brust noch nie so freudig erregt gesehen wie heute.' Und sie ließen nicht ab, in ihr die Lust zum Tanzen zu erregen, bis sie ihre Obergewänder ablegte; und nun stand sie da in einem Hemde, das mit Gold durchwirkt und mit allerlei Edelsteinen besetzt war, und zeigte Brüste, die Granatäpfeln glichen, und enthüllte ein Antlitz, gleich dem Monde in der Nacht seiner Fülle. Und Ibrahim erschaute Bewegungen, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte; sie schritt tanzend dahin in Weisen, wundersam und unbekannt, die sie so herrlich selbst erfand, bis sie bewirkte, daß alle der Perlen vergaßen, die in den Bechern schäumten, und von wiegenden Turbanen auf den Häuptern träumten. Ja, sie war, wie der Dichter sagt:
Sie ward nach ihrem Wunsch geschaffen; und im Gleichmaß,
Nicht kurz und auch nicht lang, ist sie die Schönheit ganz.
Es ist, als wäre sie aus Perlenglanz geschaffen;
Aus jedem Glied erstrahlt des Mondes Schönheitsglanz.

Oder wie ein andrer sagt:

Schau, wie des Tänzers Leib dem Weidenzweige gleicht,
Wie mir, wenn er sich wiegt, die Seele fast entweicht!
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Und wie kein einz'ger Fuß bei seinem Tanze ruht,
Als wär in seinen Füßen meines Herzens Glut!

,Während ich sie anschaute' — so erzählte Ibrahîm -, ,fiel ein Blick von ihr auf mich, so daß sie meiner gewahr wurde. Sobald sie mich sah, erblich ihr Antlitz; und sie sprach zu ihren Dienerinnen: ,Singt, bis ich zu euch zurückkehre!' Dann ging sie und holte ein Messer, das eine halbe Elle lang war, und schritt auf mich zu, indem sie sprach: ,Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen!' Als sie nahe vor mir stand, verlor ich fast das Bewußtsein. Doch wie sie mich betrachtete und mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, entfiel das Messer ihren Händen, und sie rief: ,Preis sei Ihm, der die Herzen wandelt!' Dann sprach sie zu mir: ,Jüngling, sei guten Mutes; dir sei Sicherheit gewährt vor dem, was du befürchtest!' Da begann ich zu weinen; sie aber trocknete mir mit eigener Hand die Tränen, indem sie sprach: ,Jüngling, sage mir, wer du bist und was dich an diese Stätte geführt hat!' Nun küßte ich den Boden vor ihr und ergriff ihren Saum; und sie fuhr fort: ,Dir soll kein Leid widerfahren; kein andrer Mann als du hat meine Augen erfüllt. Drum sage mir, wer du bist!' Da erzählte ich ihr' — so berichtete Ibrahîm weiter -,meine Geschichte von Anfang bis zu Ende; und erstaunt rief sie: ,Mein Gebieter, ich beschwöre dich bei Allah, bist du Ibrahim, der Sohn von el-Chasîb t' jawohl', erwiderte ich; und nun warf sie sich auf mich und sprach: ,Mein Gebieter, du bist es, um dessentwillen ich die anderen Männer gemieden habe !Denn als ich hörte, daß in Ägypten ein Jüngling lebe, wie auf Angesichte der Erde kein schönerer zu finden sei, da gewann ich dich lieb nach der Beschreibung, und mein Herz ward dir in Liebe zugetan, weil ich so viel von deiner herrlichen Anmut hörte; und es erging mir mit dir wie der Dichter sagt:



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Mein Ohr gewann ihn vor dem Auge lieb;
Denn oftmals liebt das Ohr noch vor dem Auge.

Drum Preis sei Allah, der mich dein Antlitz hat sehen lassen! Bei Gott, wäre es ein anderer gewesen als du, so hätte ich den Gärtner und den Pförtner des Châns und den Schneider kreuzigen lassen, sie und jeden, der zu ihnen seine Zuflucht nimmt!' Dann fügte sie hinzu: ,Wie soll ich etwas beschaffen, das du essen kannst, ohne daß meine Frauen es bemerken?' Darauf gab ich ihr zur Antwort: ,Ich habe bei mir, was wir essen und trinken können'; und ich öffnete den Beutel vor ihr. Sie nahm ein Huhn, und nun gaben wir einander die Bissen in den Mund; als ich solches von ihr erleben durfte, wähnte ich, es wäre ein Traum. Danach holte ich den Wein hervor, und wir tranken; und all das geschah, während sie bei mir weilte und die Mädchen mit dem Singen beschäftigt waren. In dieser Weise verbrachten wir die Zeit vom Morgen bis zum Mittag; doch dann hub sie an und sprach: ,Mache dich auf und rüste dir ein Boot und warte auf mich an derundder Stätte. bis ich zu dir komme; denn ich kann es nicht ertragen, von dir getrennt zu sein!' ,Meine Gebieterin,' erwiderte ich, ,wisse, ich habe ein Boot bei mir; das gehört mir, und die Seeleute stehen in meinem Solde; sie warten jetzt auf mich.' Sie sagte: ,Das ist, was wir wünschen', und begab sich zu den Dienerinnen. — — « Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 958. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Herrin Dschamîla, nachdem sie sich zu ihren Frauen begeben hatte, zu ihnen sprach: ,Auf, laßt uns in unser Schloß gehen!' Jene aber wandten ein: ,Wie können wir jetzt schon fortgehen, wo wir sonst doch immer drei Tage zu bleiben pflegen?' Sie erwiderte:



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,Ich fühle einen schweren Druck auf mir, als ob ich krank wäre, und ich fürchte, der wird noch schwerer werden.' ,Wir hören und gehorchen!' gaben sie zur Antwort und legten ihre Obergewänder an. Dann begaben sie sich zum Ufer und stiegen in das Boot. Alsbald ging der Gärtner zu Ibrahim, da er nichts von dem wußte, was geschehen war; und er sprach: ,Ibrahim, du hast nicht das Glück gehabt, dich ihres Anblicks zu erfreuen; sonst pflegt sie immer drei Tage hier zu verweilen und ich fürchte, sie hat dich gesehen.' Ibrahim antwortete: ,Sie hat mich nicht gesehen, und auch ich habe sie nicht gesehen; denn sie hat den Pavillon nicht verlassen.' ,Du sprichst die Wahrheit, mein Sohn,' fuhr der Gärtner fort, ,denn wenn sie dich gesehen hätte, wäre es um uns geschehen; doch bleibe bei mir, bis sie in der nächsten Woche wiederkommt und du sie erblickst und dich an ihr satt siehst !'Darauf entgegnete lbrahîm: ,Lieber Herr, ich habe Geld bei mir und bin darum besorgt; auch habe ich Leute daheim gelassen, und ich fürchte, sie werden sich mein Fernsein zunutze machen.' Nun sagte der Gärtner: ,Ach, mein Sohn, es fällt mir schwer, mich von dir zu trennen', und umarmte ihn und nahm Abschied von ihm. Ibrahim aber kehrte in den Chân zurück, in dem er wohnte; und als er den Pförtner des Hauses traf, ließ er sich von ihm sein Geld geben. Jener sprach zu ihm: ,Gute Nachricht, so Gott will!' Doch Ibrahim erwiderte: ,Ich habe keinen Weg zu meinem Ziele gefunden; darum will ich zu den Meinen zurückkehren.' Da weinte der Pförtner und sagte ihm Lebewohl; und er lud sich die Sachen des Jünglings auf und geleitete ihn zum Schiff. Nachdem dies geschehen war, begab Ibrahim sich zu der Stätte, die Dschamîla ihm angegeben hatte, und wartete dort auf sie. Wie es nun dunkle Nacht wurde, siehe, da kam sie auf ilm zu, aber in Gestalt eines verwegenen



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Mannes, mit einem Barte, der das Gesicht rings umschloß, und einem Gürtel um den Leib; in der einen Hand trug sie Pfeil und Bogen, in der anderen ein blankes Schwert. Und sie fragte ihn: ,Bist du der Sohn von el-Chasîb, dem Herrn Ägyptens?' ,Der bin ich', erwiderte Ibrahim; doch sie fahr ihn an: ,Was für ein Galgenstrick bist du, daß du kommst, um die Töchter der Könige zu verführen Auf, steh dem Sultan Rede!' ,Da sank ich' — so erzählte Ibrahim -,ohnmächtig nieder; und die Seeleute erstarben vor Furcht in ihrer Haut. Doch als sie sah, wie es um mich stand, riß sie jenen Bart herunter, warf das Schwert aus der Hand und nahm den Gürtel ab; da erkannte ich sie als die Herrin Dschamîla. Und ich sprach zu ihr: ,Bei Allah, du hast mir das Herz zerrissen!' Den Seeleuten aber rief ich zu: ,Lasset das Schiff rasch fahren!' Da machten sie die Segel los und fuhren rasch dahin; und kaum waren wenige Tage verstrichen, so kamen wir in Baghdad an. Dort sahen wir ein Schiff am Ufer liegen; und als die Seeleute, die auf ihm waren, uns bemerkten, riefen sie den Seeleuten zu, die bei uns waren, und hüben an: ,He, du da, und he, du da, wir wünschen euch Glück zur guten Heimkehr!' Darauf trieben sie ihr Schiff an das unsere heran, und als wir hineinschauten, war Abu el-Kâsîm es-Sandalâni darin! Kaum erblickte er uns, so rief er: ,Dies ist es, was ich wünschte. Ziehet hin in Allahs Hut! Ich will mich an meine Geschäfte begeben.' Er hatte aber eine Fackel in der Hand; und nachdem er mir zugerufen hatte: ,Preis sei Allah für deine glückliche Heimkehr! Hast du dein Ziel erreicht?', und ich geantwortet hatte: ,Jawohl', hielt er die Fackel dicht an uns heran. Als Dschamîla ihn erblickte, ward sie verwirrt und ihre Farbe erblich. Doch es-Sandalâni rief, als er sie erkannte: ,Gehet hin in Allahs Schutz! Ich fahre jetzt nach Basra in Geschäften des Sultans; doch das Geschenk wird



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dem zuteil, der zugegen ist.' Dann holte er eine Schachtel mit Süßigkeiten hervor und warf sie in unser Schiff; doch in ihnen war Bendsch. Ich sprach zu ihr: ,Mein Augentrost, iß davon!' Sie aber weinte und sprach: ,O Ibrahim, weißt du, wer dies ist?' ,Jawohl,' erwiderte ich, ,dies ist derundder.' Da fuhr sie fort: ,Er ist der Sohn meines Oheims; und er hat mich früher von meinem Vater zur Ehe begehrt, aber ich wies ihn ab. Nun fährt er nach Basra und wird gewiß meinem Vater von uns berichten.' ,Meine Gebieterin,' antwortete ich, ,er wird in Basra nicht eher ankommen, als bis wir Mosul erreicht haben.' Aber wir wußten nicht, was im Schoße des Schicksals für uns beide verborgen war. So aß ich denn ein Stück von den Süßigkeiten; doch kaum war es in meinen Magen gekommen, so schlug ich mit dem Kopfe auf den Boden. Als der Morgen graute, mußte ich niesen, und da flog das Bendsch mir zur Nase heraus. Ich tat die Augen auf, und wie ich mich nackt unter Trümmern liegen sah, schlug ich mir ins Gesicht und sprach bei mir: ,Dies ist ein Streich, den mir es-Sandalâni gespielt hat.' Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte; und ich hatte nichts auf dem Leibe als eine Hose. Doch ich stand auf und schritt etwas weiter; da kam plötzlich der Wachthauptmann mir entgegen, begleitet von Leuten mit Schwertern und Stöcken, so daß ich erschrak. Wie ich nun dort ein verfallenes Badhaus erblickte, lief ich hinein, um mich zu verstecken; dabei stolperte mein Fuß über etwas, und als ich mit der Hand danach griff, ward sie von Blut besudelt. Ich wischte die Hand an meiner Hose ab, ohne zu wissen, was es war, und streckte meine Hand noch einmal aus; da traf sie auf eine Leiche, und deren Kopf kam auf meine Hand zu liegen. Den warf ich alsbald nieder, indem ich sprach: ,Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah, dem Erhabenen



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und Allmächtigen!' Dann verkroch ich mich in einen der Winkel des Badhauses; der Wachthauptmann aber blieb vor dem Eingang zum Hause stehen und rief: ,Geht hier hinein und sucht nach!' Da traten zehn von ihnen mit Fackeln ein, während ich mich in meiner Furcht hinter eine Mauer schlich; von dort konnte ich mir nun den Leichnam ansehen, und ich erkannte, daß es eine junge Frau war, deren Antlitz dem Vollmond glich; ihr Haupt lag auf der einen Seite, und ihr Leib auf der anderen, gekleidet in kostbare Gewänder. Wie ich das sehen mußte, erbebte mein Herz vor Entsetzen. Dann trat auch noch der Wachthauptmann selbst ein und rief: ,Durchsucht alle Winkel des Hauses!' So kamen die Leute bald in den Raum, in dem ich mich befand, und als einer von ihnen mich erblickte, kam er auf mich zu mit einem Messer in der Hand, das eine halbe Elle lang war; und wie er nahe vor mir stand, rief er: ,Preis sei Allah, dem Erschaffer dieses schönen Angesichts! Jüngling, woher bist du?' Dann aber packte er mich bei der Hand und fragte: ,Jüngling, warum hast du diese Frau getötet?' Ich antwortete: ,Bei Allah, ich habe sie nicht getötet, ich weiß auch nicht, wer sie getötet hat. Ich habe mich nur aus Furcht vor euch an diesen Ort geflüchtet.' Und ich erzählte ihm meine Geschichte und bat ihn: ,üm Allahs willen, tu mir kein Unrecht! Ich bin jetzt in Sorge um mein Leben.' Er aber nahm mich und führte mich vor den Wachthauptmann; und als er die Blutspuren auf meiner Hand erblickte, sprach er: ,Hier bedarf es keines Beweises; schlagt ihm den Kopf ab!' — —« Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 959. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Sohn von el-Chasîb des weiteren erzählte: ,Als man mich vor den Wachthauptmann



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geführt hatte und der die Blutspuren auf meiner Hand sah, sprach er: ,Hier bedarf es keines Beweises; schlagt ihm den Kopf ab!' Wie ich diese Worte vernahm, weinte ich bitterlich; eine Tränenflut begann aus den Augen hervorzubrechen, und ich hub an, diese Verse zu sprechen:

Wir gehen einen Pfad, der für uns vorgesehen;
Und wem ein Pfad beschieden ist, der muß ihn gehen.
Und droht an einer Stätte einem sein Verderben.
So wird er nur gerad an dieser Stätte sterben.

Dann tat ich einen tiefen Seufzer und sank ohnmächtig zu Boden. Des Henkers Herz hatte Mitleid mit mir, und er sprach: ,Bei Allah, dies ist nicht das Gesicht eines Mörders.' Doch der Wachthauptmann wiederholte: ,Schlagt ihm den Kopf ab!' Da setzte man mich auf das Blutleder und legte mir eine Binde um die Augen. Der Schwertträger ergriff sein Schwert, bat den Wachthauptmann um Erlaubnis und wollte mir eben den Kopf abschlagen, während ich rief: ,Weh mir armem Fremdling!' —da kamen plötzlich Reiter herangesprengt, und eine Stimme erscholl: ,Laßt ab von ihm! Zieh deine Hand zurück, Henker!'

Mit diesem wunderbaren Geschehnis hatte es eine seltsame Bewandtnis. Der Herr von Ägypten, el-Chasîb, hatte nämlich seinen Kammerhern an den Kalifen Harûn er-Raschîd gesandt, und zwar mit Geschenken und Kostbarkeiten und zugleich mit einem Briefe, in dem er ihm mitteilte: ,Wisse, mein Sohn ist seit einem Jahr verschwunden; und ich habe vernommen, daß er in Baghdad sei. Drum wende ich mich an die Güte des Stellvertreters Allahs, er möge nach Kunde von ihm forschen und eifrig nach ihm suchen und ihn mit dem Kammerherrn zu mir senden.' Als der Kalif das Schreiben gelesen hatte, befahl er dem Wachthauptmann nachzuforschen,



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wie es in Wahrheit um ihn stände. Unaufhörlich fragten der Wachthauptmann und der Kalif nach ihm, bis dem Hauptmann gesagt ward, er sei in Basra, und dieser teilte es dem Herrscher mit. Darauf schrieb jener einen Brief und gab ihn dem Kammerherrn von Ägypten, indem er ihm befahl, nach Basra zu reisen und eine Schar aus dem Gefolge des Wesirs mit sich zu nehmen. In seinem Eifer, den Sohn seines Herrn zu finden. zog der Kammerherr sofort hinaus; und da traf er den Jüngling, wie er auf dem Blutleder vor dem Wachthauptmann saß. Als dieser nun den Kammerherrn erblickte und ilm erkannte. saß er ab vor ihm; da fragte ihn der Kammerherr: ,Was ist das für ein Jüngling? Und was ist sein Verbrechen?' Der Wachthauptmann erzählte ihm den Hergang; aber der Kammerherr, der freilich nicht wußte, daß jener der Sohn des Sultans war, sagte darauf: ,Fürwahr, das Antlitz dieses Jünglings ist nicht das Antlitz eines Mörders.' Dann befahl er dem Hauptmann, ihm die Fesseln zu lösen; und als der das getan hatte, sprach er: ,Führ ihn her zu mir!' Nun führte er ihn zu ihm: aber die Schönheit des Jünglings war geschwunden durch die Schrecken, die er durchgemacht hatte. Da sprach der Kammerherr zu ihm: ,Tu mir deine Geschichte kund, Jüngling! Und sage mir, wie diese ermordete Frau zu dir kommt!' Als Ibrahim den Kammerherrn anblickte, erkannte er ihn, und er sprach zu ihm: ,Weh dir! Kennst du mich nicht? Bin ich nicht Ibrahim. der Sohn deines Herrn? Vielleicht bist du gekommen, um mich zu suchen?' Der Kammerherr schaute ilm genau an, und als er ihn ganz sicher erkannte, fiel er ihm zu Füßen. Kaum hatte aber der Wachthauptmann gesehen, was der Kammerherr tat, so erblich seine Farbe, und der Kammerherr fuhr ihn an: ,Weh dir, du Tyrann! Hast du den Sohn meines Gebieters el-Chasîb, des Herrn von Ägypten, töten wollen?' Da küßte



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der Hauptmann den Saum des Kammerherrn und er sprach zu ihm: ,O mein Herr, wie konnte ich ihn kennen? Wir haben ihn doch nur in diesem Zustande gesehen und die tote Frau neben ihm gefunden.' Doch jener fuhr fort: ,Weh dir, du taugst nicht für das Amt des Wachthauptmanns. Dies ist ein Knabe von fünfzehn Jahren, der noch kein Vögelein getötet hat; wie sollte der einen Menschen ermorden? Warum hast du dich nicht mit ihm geduldet und ihn gefragt, wie es um ihn stand?' Darauf riefen der Kammerherr und der Hauptmann: ,Suchet nach dem Mörder der Frau!' Nun gingen die Leute von neuem in das Badhaus und entdeckten dort ihren Mörder: den ergriffen sie und schleppten ihn vor den Wachthauptmann. Jener nahm ihn und brachte ihn in den Palast des Kalifen und tat dem Herrscher kund, was geschehen war. Da befahl er-Raschîd, den Mörder der Frau hinzurichten; und zugleich gab er Befehl, den Sohn von el-Chasîb herbeizuführen. Als er dann vor ihm stand, lächelte der Herrscher ihm ins Antlitz und sprach zu ihm: ,Erzähle mir deine Geschichte, alles, was dir widerfahren ist!' Da berichtete der Jüngling ihm seine Erlebnisse von Anfang bis zu Ende, und dadurch ward der Kalif gewaltig erregt; drum rief er Masrûr, den Träger des Schwertes, und sprach: ,Geh sofort, dring in das Haus von Abu el-Kâsim es-Sandalâni und bring ihn und die Jungfrau zu mir !'Jener eilte alsbald dorthin, und als erin das Haus eindrang, sah er, wie die Jungfrau mit ihrem eigenen Haar gefesselt und dem Tode nahe war. Masrûr befreite sie und brachte sie und es-Sandalâni vor er-Raschîd. Wie der sie erblickte, staunte er ob ihrer Anmut; dann aber blickte er es-Sandalâni an und sprach: ,Nehmt ilm und hackt ihm die Hände ab, mit denen er diese Maid geschlagen hat! Dann kreuzigt ihn und liefert all sein Hab und Gut an Ibrahim aus!' Sie führten diesen Befehl aus;



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doch während sie es taten, kam plötzlich Abu el-Laith zu ihnen, der Statthalter von Basra, der Vater der Herrin Dschamîla, um bei dem Kalifen Hilfe zu suchen gegen Ibrahim, den Sohn von el-Chasîb, dem Herrn von Ägypten, und bei ihm Klage zu führen, daß der ihm seine Tochter geraubt habe. Da gab ihm er-Raschîd zur Antwort: ,Sieh, er war die Ursache ihrer Befreiung von Qual und Tod.' Dann ließ er Ihn el-Chasîb kommen; und als der zugegen war, sprach er zu Abu el-Laith: , Willigst du nicht ein, daß dieser Jüngling, der Sohn des Sultans von Ägypten, der Gatte deiner Tochter werde?' ,Ich höre und gehorche Allah und dir, o Beherrscher der Gläubigen!' erwiderte der Statthalter; und der Kalif ließ alsbald den Kadi und die Zeugen rufen. Dann vermählte er die Maid mit Ibrahim ibn el-Chasîb, gab ihm allen Besitz von es-Sandalâni und rüstete ihn aus für die Rückkehr in seine Heimat. Dort lebte Ibrahim mit seiner Gemahlin in größter Fröhlichkeit und schönster Seligkeit, bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt und die Freundesbande zerreißt. Preis sei dem Lebendigen, der nimmer stirbt!'

Ferner wird erzählt, o glücklicher König,


Copyright: arpa, 2015.

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