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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


38. Die zwei Brüder

Es waren einmal zwei Brüder. Der jüngere war ein kühner und tapferer Held; der ältere auch, er war aber schmächtiger und hatte ein gutes Herz. Da sagte eines Tages der kleine Bruder zum größeren: »Bruder, ich gehe in die weite Welt, bleib du zu Hause. Wenn du dieses Taschentuch mit Blut getränkt sehen wirst, dann weißt du, daß ich tot bin.« Der Knabe brach auf und unterwegs begegnete ihm ein Schäfer im Walde. »Guten Tag, Schäfer!« — »Guten Tag auch, Knabe«, gab der Schäfer ihm zurück. »Woher kommst du denn, und wohin willst du?« fuhr der Schäfer fort. »Ich suche die Furcht.« — »Wenn du die Furcht suchst, dann mußt du diesen Weg gehn. Aber nimm dich vor den Drachen in acht, daß sie dich junges Blut nicht fressen!« —»Ach, ich habe keine Furcht.« — »Du bist wohl gar ein großer Held? Ich kann dir aber nicht glauben, iß erst diesen Backofen voll Brote und trinke diesen Kessel voll Milch aus; wenn du das fertigbringst, dann will ich dir glauben, daß du die Drachen töten wirst.« Der junge Held machte sich daran, aber schau, er konnte den Backofen voll Brote nicht aufessen. Da sagte ihm der Schäfer: »Siehst du, daß es dir nicht gelang! Du wirst im Kampfe mit den Drachen umkommen.« Der Held antwortete ihm: »Das hält mich nicht ab, ich gehe trotzdem.« Er ging mutig schnurstracks auf die Behausung der Drachen los und trat in den Garten der Drachenmutter ein. Und siehe, da kam gerade ihre Tochter aus dem Palast. Als sie den jungen Helden erblickte, wie er immer weiter durch den Garten drang, eilte sie zu ihrer Mutter und sagte zu ihr: »Mutter, Mutter, sieh, sieh, ein großer Held ist in unseren Garten eingedrungen. Was wollen wir nur mit ihm machen?« — »Was werden wir weiter mit ihm anfangen, wir essen ihn natürlich!« Sie wandte sich zu dem kühnen Helden, der es wagte, in ihren Garten einzudringen, und rief: »He, junger Held, komm ein wenig näher, was dich auch zu uns führt, willkommen seist



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du uns!« Da ging er auch zu ihr. Sie machte gerade alles zum Backen zurecht, setzte die Backglocke 1 übers Feuer und fing an, den Brotteig zu zerteilen. Währenddessen sagte sie zum Helden: »Ich bitte dich, junger Held, blase ein wenig das Feuer an, komm ein bißchen näher, hier bei mir mußt du das machen.« Wirklich ließ er sich betören und ging ans Feuer. Und als er im Begriffe war zu blasen, da verschlang sie ihn mit Haut und Haaren.

In diesem Augenblick färbte sich das Taschentuch, das der Jüngling seinem Bruder beim Abschied zurückgelassen hatte, blutrot. Das war für diesen das Zeichen, daß sein Bruder gestorben war. Da sagte der ältere Bruder zu seiner Mutter: »Mutter, mein Bruder ist ums Leben gekommen, ich gehe ihn suchen, ich will ihn rächen.« Damit brach er auf, um seinen Bruder zu suchen. Er kam durch denselben Wald, durch den auch der andere Bruder gegangen war, und begegnete ebenfalls jenem Hirten. Der fragte ihn: »He, junger Held, wo willst du denn hin?« — »Ich suche meinen Bruder.« — »Was, deinen Bruder? Dich soll wohl auch die Drachenmutter fressen wie ihn?« — »Und wenn mir auch dasselbe Los beschieden ist, ich gehe doch und versuche es.« — »Nun, wenn du einen Backofen voll Brote aufessen und diesen großen Kessel voll Milch austrinken kannst, dann wird es dir auch gelingen, die Drachenmutter umzubringen.« Nachdem der junge Held das gehört hatte, machte er sich sofort an diese schwierige Aufgabe. Zum größten Staunen des Schäfers aß er den ganzen Backofen voll Brote auf und trank auch noch, ohne einmal abzusetzen, den vollen Kessel Milch. Nicht ein einziges Mal setzte er ab und nicht ein einziges Mal hörte man ihn beim Trinken tief Atem holen, auch jiepste er keineswegs hinterher. Das war selbst dem Schäfer zuviel, und er rief ein um



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das andere Mal: »Bravo, Bravo! Wisse, daß du die Drachenmutter töten wirst!« Der Held brach schnurstracks zu ihr auf, drang in den Garten ein und richtete allerlei Schaden in dem Garten an. So wütend war er auf die Drachenmutter. Er begann, ihre Apfel und Birnen zu essen, und aß sie alle bis auf den letzten mit Strunk und Stiel. Das sah die Tochter und eilte zu ihrer Mutter und rief: »Mutter, o weh, in unseren Garten ist diesmal ein ganz Verwegener eingedrungen, behüt uns Gott! Er ißt uns alle Apfel und Birnen weg.« — »Ruf ihn doch her!« Auf ihren Ruf kam der junge Held herbei; sie gab ihm einen Schemel zum Sitzen, und er ließ sich darauf nieder. Die Drachenmutter trug die Backglocke ans Feuer, da fing das Feuer an zu rauchen. Als sie das sah, bat sie: »Blase doch, bitte, ein wenig ins Feuer!« Er aber antwortete: »Seit wann ist es Sitte, daß Gäste ins Feuer blasen? Schämst du dich denn nicht, mich als Feuerschürer hinzusetzen?« — »Was ist da weiter dabei, wenn du ein wenig ins Feuer bläst! Du siehst, wir haben keinen Knecht; ich mache das immer so. Blase nur ein wenig!« Doch in dem Augenblick, als sie ein paar Schritte zur Seite machte, ergriff der Held seine Streitkeule und zerhieb sie in zwei Teile. Siehe, da kam auch schon sein Bruder ihm entgegen, und der Altere nahm ihn bei der Hand und führte ihn nach Haus. Da wurde ein großes Fest gefeiert, und bald darauf machten beide Brüder Hochzeit. Und ich war auch dabei, ich habe getanzt, gegessen und getrunken, und diesen Hut hier haben sie mir mitgegeben.


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