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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


37. Die frierende alte Zauberin

Es war einmal ein Kaiser, und dieser Kaiser hatte keine Kinder. Eines Tages ging er mit der Kaiserin am Ufer der Donau spazieren. Da sah er einige schöne Fische und ließ sich einen fangen, und seine Köchin mußte ihn zubereiten. Die Kaiserin aß davon und wurde guter Hoffnung. Und guter Hoffnung wurde auch die Köchin. Und als die Zeit gekommen war, gebaren die Kaiserin und die Köchin jede einen Sohn. Die Knaben wuchsen heran und wurden beide gemeinsam erzogen. Da bat das Kind des Kaisers: »Vater, kaufe doch dem armen Kinde Kleider, denn ich schäme mich, mit ihm zusammen zu spielen.« Da ließ der Kaiser ihm einen



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schönen Anzug machen, und als die Kinder beide nach Hause kamen, konnte die Kaiserin ihr Kind nicht mehr von dem anderen unterscheiden. Deshalb legte sie den Schürhaken ins Feuer und zeichnete eins der Kinder auf der Hand, damit sie es als ihr Kind erkenne. Da sagte das Kind: »Mütterchen, mich hat soeben das Glück gezeichnet. Ich bleibe nicht mehr länger zu Haus, ich gehe in die weite Welt.« Und der junge Bursche holte sich ein Pferd aus dem Staue, bestieg es und ritt in die weite Welt. Er nahm auch einen Hund mit, und als sie weit geritten waren, da sah er in einem Walde ein Haus. Dort wohnte die heilige Sonntag. Er hielt sich aber unterwegs nicht lange auf und verweilte nicht lange bei der heiligen Sonntag. Sie hatte ihm jedoch geraten, er solle Vorsicht im Walde üben. Nun kam er an ein großes Feuer. Aber keine Menschenseele saß daran. Doch der junge Bursche hielt am Feuer an und setzte sich daran nieder, um sich zu wärmen. Da erschien plötzlich eine alte Frau. Sie kam zitternd heran und sagte: »Hu, mich friert.« — »Komm her, Mütterchen, wenn dich friert.« — »Ach ich fürchte mich«, sagte sie, »vor dem Hunde, ich habe Angst, daß er mich beißt.« — »Komm nur näher, Mütterchen, ich halte den Hund schon, damit er dich nicht beißt.« — »Ach nein, junger Held, gib mir erst ein Haar von deinem Pferd und von deinem Hunde.« Er war auch so töricht und gab ihr ein Pferde- und ein Hundehaar. Und was denkst du wohl, was die alte Frau damit machte? Sie verzauberte den jungen Burschen mitsamt dem Pferd und dem Hund. Nun konnte der Hund ihr nichts mehr antun. Und sie steckte alle drei in den Keller. Doch sein Pflegbruder, der mit ihm erzogen war, sah plötzlich zur selbigen Stunde, daß von der Wand Blut herabfloß. Da lief er zu seiner Mutter und sagte: »Mutter, ich gehe meinen Bruder suchen, auch wenn ich dabei sterben sollte. Es ist ihm ein Unglück zugestoßen.« Da machte er sich auf die Suche nach seinem Bruder, der in Wirklichkeit gar nicht sein Bruder war, kam auch wieder in jenen Wald, wo das Haus stand, und ging hinein und



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fand die heilige Sonntag, die ihn belehrte: »Junger Held, nimm dich in acht. Am Feuer dort sitzt eine alte Frau, eine Zauberin. Nimm dich in acht, daß sie dich nicht verzaubert wie deinen Bruder!« — »Sage mir, liebe Fee, was soll ich tun?« — »Wenn du ans Feuer kommst, so sei nicht so töricht und gib ein Haar von deinem Pferd und deinem Hund weg, denn sonst verzaubert dich die alte Frau, wie sie deinen Bruder verzaubert hat.«

Darauf gelangte der junge Held ans Feuer. Er setzte sich, und siehe, die alte Frau kam wirklich zitternd auf ihn zu. Der Knabe fragte sie: »Was hast du denn, Mütterchen?« — »Ach, mich friert.« — »Hier ist doch Feuer, kannst du dich denn nicht wärmen?« — »Ach nein, dann kommt der Hund. Ich kann nicht, ich fürchte mich vor dem Hunde.« — »Hab keine Furcht, ich halte den Hund schon.« — »Gib mir erst ein Haar vom Hund und vom Pferd.« — »Ach, was du willst, das bin ich weder gewohnt, noch gewillt zu geben. Komm her, wenn du willst, oder scher dich zum Teufel, wenn du nicht willst.« Da ließ sie sich betören, und der junge Held rief dem Hunde zu: »Faß sie, denn sie hat mir meinen Bruder umgebracht.« Da faßte sie der Hund, und als sie vor Angst nicht aus noch ein wußte, fragte sie der Knabe: »Wo ist mein Bruder?« — »Er ist zu Hause bei mir.« — »Geh und hole ihn her, daß ich ihn befreie.« Da ging sie mit ihm und holte den Bruder, das Pferd und den Hund hervor. Und schließlich gab der junge Held nach altem Brauch der bösen Frau eins mit der Keule und tötete sie. Und die beiden Brüder brachen gemeinsam nach Hause auf, und als ihre Mütter sie wiedersahen, da wußten sie vor Freude nicht, was sie tun sollten. Sie herzten und küßten ihre Kinder mit gleicher Liebe, denn der andere war auch wie ihr Kind geworden.


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