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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


33. Der rote und der weiße Kaiser'

Es war einmal ein roter und ein weißer Kaiser. Der rote Kaiser hatte keine Kinder, aber der weiße Kaiser hatte ein Mädchen, und das war sein einziges Kind. Er schickte die Amme mit seinem Töchterchen aufs Land, wo die Amme das kleine Mädchen an der frischen Luft spazieren führte. Da aber der rote Kaiser keine Kinder hatte, brachte er eine Bande Zigeuner zusammen, eine Bande von solchen Zigeunern, die mit Zelten herumziehen. Die sollten von der Amme die Kaisertochter stehlen. Wirklich stahlen auch die Zigeuner das Mädchen von der Amme, während sie schlief. Die Kaisertochter spielte gerade am Kopfe der Amme, als die Zigeuner



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kamen und sie wegholten. Die Amme merkte es nicht. Als sie erwachte, rieb sie sich die Augen, suchte und suchte, fand aber die ihr anvertraute Kaisertochter nicht. Die Zigeuner hatten sie ja gestohlen, der böse Kaiser hatte sie dazu angestiftet. Da lief die Amme hin und her und schrie: »Wer hat mir das Mädchen genommen? Wo ist das Mädchen? Es wird doch keiner es gefressen haben, ein böses Tier, irgendwo muß es doch sein!« Sie fing bitterlich an zu weinen. »Wie soll ich ohne seine Tochter vor das Angesicht des Kaisers treten?« Sie ging jedoch zum Kaiser, kniete vor ihm nieder und weinte. Da begriff der Kaiser und fragte sie: »Wo ist meine kleine Tochter, du kommst ohne sie?« Da antwortete die Amme: »Ich weiß es nicht, wo das kleine Mädchen ist.« Der Kaiser wurde wütend: »Ich muß alles wissen, sag es mir, was haben sie mit meiner Tochter gemacht? Hast du sie nicht mit dir genommen? Bist du nicht mit ihr spazieren gegangen? Sag es nur, als der Abend kam, hast du dich hingelegt, da hat der Schlaf dich übermannt, nicht wahr?« Die Amme sagte ihm die Wahrheit: »Ja, so ist's, Kaiser. Ich will nicht lügen. Während das Mädchen neben mir spielte, überkam mich auf der schönen grünen Wiese der Schlaf, mit keinem Gedanken dachte ich daran, daß jemand kommen könnte, das Mädchen zu rauben. Als ich mich erhob, suchte und suchte ich, fand aber das Mädchen nicht mehr!« Da saß der Kaiser und sann nach; er sann aber nicht lange, dann ging er an die Stelle, wo die Amme mit dem Mädchen gesessen hatte und wo sich die Freveltat zugetragen hatte. Er kam an den Ort, ihm kam aber nicht der Gedanke, daß jemand das kleine Mädchen geraubt haben könnte. Er glaubte, ein wildes Tier habe es gefressen. Der Kaiser kam traurig wieder nach Hause und ließ die Kaiserin rufen und sagte ihr: »Ach, was suchen wir denn noch, alles Suchen ist doch vergebens, unser Töchterchen ist von einem wilden Tier gefressen. Was sollen wir denn nun anfangen? Und wenn wir auch der Amme eine schwere Strafe geben, zu was ist das nütze, es ist doch alles vergebens. Wir



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können unser Töchterchen nicht wiederfinden und auch nicht wieder lebendig machen, wir werden es wohl nie wiedersehen.« Dann rief er die Amme: »Nun, wir verzeihen dir, wir lassen dir das Leben. Hätte ich dich im rechten Augenblick erwischt, ich hätte dich ermordet. Aber jetzt bin ich wieder zur Überlegung gekommen; was nützt mir dein Tod, ich habe beschlossen, daß du am Leben bleiben sollst.«

Die Zeit verging. Das geraubte Mädchen befand sich beim roten Kaiser. Der weiße Kaiser wußte aber nicht, daß seine Tochter beim roten Kaiser weilte. So wuchs das Mädchen zur Jungfrau heran. Auf diese Weise hatte der rote Kaiser nun ein Kind, der weiße Kaiser keins. Die Frau des weißen Kaisers legte sich eines Abends schlafen, und während sie so neben ihrem Gatten lag, erzählte sie im Schlafe alles, was ihr träumte: »Wir werden einen Sohn bekommen, ein Kind im Traume. Ich werde im Traume schwanger werden.« Eine Stimme sagte ihr im Traume: »Doch du mußt dich in acht nehmen, wenn du das Kind gebären wirst. Laß es um Himmels willen nicht auf dem bloßen Erdboden herumgehen. Bis zum 21. Jahre darf es den Boden nicht berühren, denn sonst würde es von der Erde verschlungen werden.« Sie erhob sich und erzählte ihrem Gemahl, dem weißen Kaiser, ihren Traum. »Mein Guter, Lieber, was denkst du wohl, was ich geträumt habe? Ich lag so im Schlafe, da sagte mir eine Stimme im Traume, daß ich einen Sohn gebären werde, doch ich solle ihn nicht auf den Erdboden lassen bis zum 21. Jahre.« — »Was macht das, meine Gute? Ich freue mich schon darauf.« Und als der Kaiser sah, daß die Zeit um war, da konnte er sich vor Freude nicht fassen. Sie wußten nicht, ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen wäre. Sie rieten. »Mir ist es gleich«, sagte der Kaiser, »Hauptsache, daß ein Kind im Hause ist.« Da gebar die Kaiserin einen Jungen, und dem Kaiser wurde berichtet', daß alles so eingetroffen sei, wie es



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seiner Gemahlin im Traum geweissagt war. »Jawohl, Euer Gnaden, so ist's.« — »Doch jetzt müssen wir aufpassen, daß der Junge den Erdboden nicht berührt, denn sobald er auf die Erde tritt, wird ihn der Boden verschlingen.« Der Kaiser gab Befehl, daß die Ammen und Kammermädchen Tag und Nacht auf ihn achteten. Die Zeit verging, der Junge wurde groß. Da ging eines Tages der Kaiser auf die Jagd. Sein Sohn bat ihn: »Vater, ich will auch mit auf die Jagd.« Der Kaiser antwortete ihm: »Mein Sohn, für dich ist die Jagd nichts.« Der Junge fragte ihn: »Wie soll ich das verstehen, warum denn nicht? Nur ein bißchen will ich auf die Jagd, ich will mich ein bißchen zerstreuen.« Da rief ihn der Vater ins Zimmer und erzählte ihm, was seine Mutter vor seiner Geburt geträumt hatte. »Sieh mal, ich nehme dich deshalb nicht mit auf die Jagd, weil der Boden dich verschlingen wird in dem Augenblick, wo du vom Pferd steigst. Und ich sollte ohne dich dann weiterleben?« Der Knabe sagte: »Ich habe gar nicht nötig, den Erdboden zu betreten.« »Los, nun dann geh mit mir! Aber denke daran, du darfst nicht vom Pferde steigen!« — »Gib auch mir eine Waffe in die Hand, ich schieße vom Pferde aus!« Man gab ihm auch eine Waffe, sie brachen zusammen auf; und heidi, ging's auf die Jagd. Kaum waren sie zum Tore hinaus, als ihnen schon das Wild über den Weg lief, so viel gab es. Jetzt trennten sie sich, einer nach dem andern ging einzeln dem Wilde nach. Auch der Kaisersohn kam an die Reihe. Als er so zu Pferde einem Wilde nachjagte, sauste er unter einigen Apfelbäumen, deren Zweige tief herabhingen, dahin. Auf dem eiligen Ritt fiel ihm seine Kappe vom Kopf. Da hielt er sein Pferd an und war schon im Begriff, seine Kappe aufzuheben, da kam ihm der Rat seines Vaters in den Sinn, daß er ja nicht vom Pferde steigen solle. Der Kaisersohn dachte nach: »Wie soll ich das nun anfangen, meine Kappe muß ich wiederhaben!« Er blickte um sich und rief, er sah aber niemand, den er rufen konnte, seine Kappe aufzuheben. Sollte er nun mit bloßem Kopfe reiten?



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Er wußte sich keinen andern Rat, er zog seinen Säbel und berührte die Kappe mit der Säbelspitze, aber tiefer hinab reichte sein Arm nicht. »Was soll ich nun machen? Halt, da kommt mir ein Gedanke. Ich werde vom Pferde steigen, aber nur mit einem Fuß, mit dem einen werde ich den Boden berühren, mit dem anderen im Steigbügel hängenbleiben. Auf diese Weise kann ich meine Kappe wieder bekommen, und die Erde kann mich doch nicht verschlingen.« Während der Knabe darüber nachdachte, was er tun solle, da sperrte die Erde ihren Rachen auf; und als er einen Fuß auf die Erde setzte, da verschlang die Erde den Jungen, nur das Pferd blieb einsam am Rande des Erdloches stehen, und die Kappe konnte niemand aufheben. Die andere Welt hatte den Kaisersohn verschlungen. Bitterlich weinend kam der Knabe auf der anderen Welt an. Er besann sich auf die Worte seines Vaters: »Hättest du doch den Befehl deines Vaters nicht übertreten! Habe ich nicht Kappen genug zu Hause gehabt. So mußte es nun kommen, und immer noch wird mein Pferdchen an dem gähnenden schwarzen Schlunde stehen.« Oben auf der Welt konnte niemand dem Pferde nahe kommen, es biß und schlug aus. Auch der Kaiser kam zu der Erdspalte und wollte das Pferd holen, doch auch er konnte es nicht. Da begriff er, was geschehen war, daß der Sohn seinem Worte nicht gehorcht hatte. »Mein Sohn hat sicher geglaubt, daß ich lüge?« Der Kaisersohn ging in der unterirdischen Welt auf einem großen, weiten Wege und wanderte durch die Finsternis Tag und Nacht, er ging zwei Monate. Jener Weg führte nämlich zu dem schwarzen Kaiser. Und siehe da, ein Licht in der Ferne! In dem Augenblick, wo er das Licht erblickte, sah er auch schon das Schloß vor sich, das dem schwarzen Kaiser gehörte. Sogleich ging er auf sein Ziel los. Der schwarze Kaiser und die schwarze Kaiserin hatten zwei Töchter, von denen die jüngste Dianetta und die ältere Sultana hieß. Kaum hatte Dianetta den Kaisersohn gesehen, war sie schon in ihn verliebt. Was sagte nun der schwarze Kaiser? »Sieh dort, Gemahlin,



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was uns dort für ein zarter Braten zur Mittagszeit gekommen ist!« Die schwarze Kaiserin sagte: »Den werde ich nicht allein essen.« Da sagte der schwarze Kaiser: »Meine liebe Gemahlin, wir wollen ihn nicht so richten, er soll nicht geschlachtet werden.« — »Warum nicht?« fragte sie. Da antwortete der Kaiser: »Ach, wir geben ihm eine Strafe, wenn es ihm gelingen wird, die Aufgabe zu lösen, die wir ihm stellen, so soll er für diesmal dem Tode entrinnen, und wir werden mit ihm nichts weiter zu schaffen haben.« Die Kaiserin war nicht ganz damit einverstanden, doch sie sagte zu dem Kaisersohn: »Du kannst nochmals mit dem Leben davonkommen, ich will dir diesmal verzeihen, aber wenn du die Aufgabe nicht löst, werde ich dich mit Haut und Haaren fressen«, und dachte: »Und doch werde ich ihn fressen.« Der schwarze Kaiser sagte für sich: »Mir ist es gleich, was ihr mit ihm macht, möglich, daß ich ihn freispreche, auch wenn er die Aufgabe nicht löst, dann werde ich aus ihm einen rechtschaffenen Menschen machen.« Doch die schwarze Kaiserin sagte zum Kaiser: »Ich habe keine Geduld mehr, ich will nicht länger warten, gib ihm die Aufgabe, die du ihm geben willst!« — »Habe Geduld, ich gebe sie ihm.« So gab er sie ihm denn auch. Er ließ den Knaben zu sich ins Zimmer rufen. Da fing der Kaiser an zu reden und sagte: »Junger Held, damit du weißt, daß du hierher gelangt bist, sollst du eine Strafe bekommen.« Da fragte der Knabe: »Warum?« — »Ich bin nämlich der schwarze Kaiser von der anderen Welt, ich fresse Menschen.« — »Warum?« fragte der Kaisersohn. »Was fragst du noch, richtest du mich denn? Du bist doch in meinen Palast gekommen, ich bin noch großmütig und gebe dir nur eine Aufgabe, und du sollst entrinnen, wenn du diese Aufgabe lösen wirst. Ich werde dich dann nicht fressen, ich werde dich wieder laufen lassen, daß du wieder hingehest, woher du gekommen bist. Wisse, weshalb du diese Aufgabe erhalten hast: weil dich der Erdboden verschlungen hat; denn die Erde meint es gut mit mir, damit ich immer etwas zu essen



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habe. Doch ich darf dich noch nicht fressen, bevor du nicht die Aufgabe zu lösen versucht hast.« — »Schön«, sagt der Knabe unerschrocken, »welche Aufgabe stellst du mir denn?« »Du sollst sie gleich hören: Kannst du einen ganzen Wald von Bäumen schlagen? Ich werde ihn dir zeigen, du hast aber nicht viel Zeit dazu, vom Morgen bis zum Abend mußt du alles zu Holzscheiten zerhackt haben, und 1500 Ar 1 ist der Wald groß.« Als das der Knabe hörte, fing er bitterlich zu weinen an. Nach einem Weilchen sagte er: »Das also ist der Wald, den du mir zum Umhauen gibst.« — »Ja, das ist er«, sagte der schwarze Kaiser. Nun blieb dem Knaben nichts weiter übrig, wohl oder übel, er mußte es versuchen. Schweren Herzens brach er auf. Man gab ihm ein völlig stumpfes Beil in die Hand. Der Kaiser führte ihn selber an Ort und Stelle, er zeigte ihm nochmals den großen Wald und schärfte ihm nochmals ein, daß gegen Abend, wenn er wiederkäme, der ganze Wald umgehauen sein müßte, und außerdem müßten noch die Baumstämme in Stücke zerhackt sein. Der Kaisersohn ließ sich nichts merken und tat so, als ob ihm dies ein leichtes sei. Er erwiderte dem schwarzen Kaiser: »Gut, ich will es schaffen.« Der Kaiser brach wieder nach Hause auf. Da war nun der Knabe allein, er stellte sich vor den Wald, überschaute die Riesenaufgabe und weinte angesichts der Unmöglichkeit, die Aufgabe zu lösen. Zuerst versuchte er es mit dem Beile, aber wie er den ersten Hieb tat, da zerbrach der Stiel, und die Axt blieb zur einen Hälfte im Stamme, zur anderen Hälfte lag sie zerbrochen am Boden. Von dem kräftigen Schlage wurde der Knabe zur Erde geschleudert. Er weinte nun bitterlich, da er einsah, daß jeder weitere Versuch vergeblich wäre; er schien unrettbar verloren. Schon war die zwölfte Stunde herangekommen. Es war Mittagszeit. Der schwarze Kaiser hatte ihn aber nicht vergessen, er schickte ihm Essen; denn er sagte sich, wer arbeitet, der muß auch essen. Wer sollte dem Knaben aber das Essen hinbringen?



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Seine Töchter sollten gehen, sagte er. Aber welche von den beiden Mädchen, Sultana, die große, oder Dianetta, die kleine? Nun hatte bei der Taufe der kleinen Dianetta der Pate ihr einen Ring an den Finger gesteckt. Dieser Ring vollbrachte Wunder, sobald man ihn am Finger herumdrehte. Es war ein wunderkräftiger Ring, der alles erfüllte, was auch immer man von ihm verlangte. Dianetta wußte, was dem Kaisersohn bevorstand, deshalb hatte sie Mitleid mit ihm und wollte sich seiner erbarmen. Sie kam also Scarlat - so nannte sie den jungen Helden - zu Hilfe. Denn sie wußte, daß der Kaisersohn die Aufgabe, die man ihm gegeben hatte, nicht lösen konnte. Aber sie war ja in ihren Scarlat so verliebt. Die Mittagsstunde war gekommen, wer sollte dem Unglücklichen Essen bringen? Der schwarze Kaiser sagte zu Dianetta: »Dianetta, du bist meine Jüngste, bringe dem jungen Kaisersohn Essen, denn die Mittagszeit ist gekommen. Es geziemt sich nicht, einen Menschen, der schwer arbeitet, hungern zu lassen.« Das Mädchen aber sagte: »Nein, ich will nicht gehen, schicke doch meine ältere Schwester, doch sieh dich vor, Vater, sie ist in ihn verliebt!«

Sie erzählte ihrem Vater, der Kaisersohn sei so häßlich, sie ginge nicht, er solle doch Sultana schicken. Diese aber sagte: »Ich gehe, Vater.« Sie machte das Essen zurecht und war eben im Begriff zu gehen, als Dianetta sie erblickte. Schnell drehte sie den Ring an ihrem Finger. Die Folge war, daß es ihrer großen Schwester übel wurde. Sie wurde immer kränker, so daß sie dem Knaben das Essen nicht bringen konnte. Das sah ihr Vater und rief deshalb Dianetta zu sich. Da die Zeit nun immer mehr vorwärts schritt, drängte er, sie solle ihm doch den Gefallen tun und dem hungernden Kaisersohn das Essen bringen. »Nein, Vater, ich gehe nicht, Sultana soll gehen!« — »Weißt du denn nicht, daß sie krank ist? Gehe doch, meine Tochter, ich werde dich dann nie wieder nach etwas schicken.« — »Schön, Vater, ich will dir den Gefallen tun, aber es ist das erste und das letzte Mal!« — Sie machte sich auf den



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Weg. Nachdem sie sich ungefähr zwei Meilen von dem väterlichen Hause entfernt hatte, drehte sie ihren Ring am Finger und flog davon. Niemand durfte sehen, welche Kräfte der Ring in sich barg, deshalb schaute sie sich nach allen Seiten um, ob nicht irgendwo ein menschliches Wesen sie sehen könnte. Im Nu war sie bei dem Knaben angelangt. Sie fand ihn schlafend, mit Tränen auf den Wangen. Sie weckte ihn und fragte: »Warum weinst du, Knabe?« — »Wie soll ich nicht weinen, schau, was für eine Aufgabe mir dein Vater gestellt hat.« — »Ich will dir helfen, mein Vater soll dich schon nicht fressen, aber morgen werde ich nicht wieder das Essen zu dir bringen. Jetzt will ich dir den Wald umhauen. Iß und sei guter Dinge!« Er aß, was sie mitgebracht hatte. Das Mädchen fragte ihn: »Wirst du mich vergessen?« Er aber sagte: »Nie und nimmer!« — »So leg dich schlafen.« Den Knaben überkam auch wirklich der Schlaf. Als sie so den Knaben im tiefen Schlafe glaubte, drehte sie am Ring, der sie sofort fragte: »Was befiehlst du, Herrin? Was soll ich für dich tun?« Das Mädchen sagte: »Siehst du den Wald dort?« — »Ja, dort drüben, ich sehe ihn.« — »Alles mußt du niederschlagen, kein Baumstumpf darf stehenbleiben, sogar Holzscheite müssen bis heute abend aus den Bäumen gespalten sein. Stelle einen Mann neben dem Knaben als Wache auf, der ihn sofort weckt, wenn mein Vater kommt, um nach der geleisteten Arbeit zu schauen. Leg auch zwei oder drei Klötze neben ihn hin, damit mein Vater denkt, er habe wirklich gearbeitet.« — »Ich habe verstanden, Herrin, so wie du gesagt hast, soll es geschehen!« Kaum war die Kaisertochter fort, da hörte man ein Hauen, wie man es auf der ganzen Welt noch nicht gehört hatte. Die Bäume krachten und fielen. Unzählige Axte hieben die Bäume in Scheite. Gegen Abend kam der schwarze Kaiser an Ort und Stelle. Der Wächter sah ihn schon von weitem und weckte den Knaben. »Steh auf, es kommt der schwarze Kaiser, mach dir an zwei oder drei Klötzen zu schaffen, damit der Kaiser dich arbeiten sieht und



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nicht glaubt, du seiest müßig gewesen.« Der Knabe stand auf, und der Wächter verschwand. Ganz erschrocken blieb der Knabe zurück; er sah den Mann nicht mehr, der ihn geweckt hatte, sah jedoch, daß der ganze Wald umgehauen war. »Bravo, junger Held«, sagte der Kaiser und klopfte ihn auf den Rücken, »du bist dem Tode entronnen. Du hast aber noch zwei Aufgaben zu erfüllen. Ich hätte dir ja nur eine gestellt, aber meine Gemahlin, die Kaiserin, will, daß du drei Strafen erhältst.« Er nahm den Kaisersohn bei der Hand und führte ihn mit sich nach Hause. Er setzte ihn an den Tisch, und sie aßen zusammen. Die Kaiserin fragte: »Wie hast du ihn so schnell liebgewinnen können?« — »Wie sollte ich nicht, wenn er eine solche Tat vollführt hat, er hat vollbracht, was wir mit unseren Kräften nicht vermögen. Es ist erstaunlich, als wäre der liebe Gott mit ihm. Es muß auch so etwas mit ihm im Bunde sein, vielleicht ist er ein großer Held, der uns alle noch vernichten wird.« Die Kaiserin sagte: »Junge, leg dich hin, morgen in aller Frühe mußt du aufstehen, ich werde dir eine neue Aufgabe geben.« In aller Frühe erhoben sich der Kaiser und der junge Held. Sie brachen gemeinsam auf und machten nach langer Wanderung an einem Berge halt. Wieder hatte der junge Kaisersohn eine Axt in der Hand, und außerdem hatte man ihm diesmal einen Hammer mitgegeben. »Siehst du jenen Berg dort? Den sollst du bis heute abend zertrümmert haben, und aus den Trümmern mußt du eine Kirche mit allem, was darin ist, errichten, selbst die Glocke darf nicht fehlen. Wenn ich dann heute abend wieder zu dir komme, mußt du die Glocke läuten, damit sie mich von ferne begrüße.« — »Schön!« sagte der Knabe. Er war allein und fing, ermutigt durch die erste Arbeit, an, mit der Axt auf den Berg loszuschlagen. Aber schon beim ersten Hiebe zerbrachen das Beil und der Hammer. Da jammerte er. Wieder kam die Mittagszeit, der Knabe vertröstete sich, zum Mittag würde schon die helfende Hand wieder erscheinen. Wieder stritten sich beide Schwestern darum, welche dem Kaisersohn das



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Essen bringen sollte. Dianetta sagte: »Ich gehe nicht wieder, der Kaiser hat es mir versprochen, er wollte mich nicht wieder schicken.« — »Dann gehe eben ich jetzt«, sagte Sultana. Wieder schickte sich Sultana an zu gehen, sie war schon unterwegs, als sie plötzlich wieder krank wurde. Ihre jüngere Schwester Dianetta hatte wieder ihren Ring am Finger gedreht. Diese verstellte sich und tat so, als ob sie weine, und als ob es ihr sehr schwer würde, den Gang zum Knaben wieder zu machen. »Gehe du, Dianetta, deine Schwester ist krank geworden!« Mit vieler Mühe gelang es dem Kaiser, sie doch zu überreden. Viel Zeit brauchte sie, um aus dem Hause zu kommen. Kaum war sie aber außer Sehweite, da war sie auch schon so schnell wie der Gedanke zu dem Knaben geflogen. Er erkannte sie sofort wieder. »Was hast du denn jetzt für eine Strafe von meinem Vater bekommen?« — »Ich soll diesen Berg in Stücke hauen, aus den Trümmern eine Kirche bauen, und wenn dein Vater heute abend wiederkommt, soll ich die Glocken läuten.« Das Mädchen antwortete: »Das ist schwer, das ist ein sehr großes Stück Arbeit, ein sehr großes Wunder, doch laß es nur meine Sorge sein, iß und sei guter Dinge!« Der Knabe ließ es sich gut schmecken, danach sagte Dianetta zu ihm: »Leg dich schlafen!« und dabei kraulte sie ihm in den Haaren. Sie wartete, bis er fest schlief, denn niemand durfte sehen, was sie vermochte. Sie drehte den Ring herum, und während sie es tat, fragte der Ring sie schon: »Was befiehlst du, Herrin?« — »Siehst du jenen Berg?« — »Ich sehe ihn.« — »Bis heute abend mußt du aus ihm eine Kirche gebaut haben und bei der Ankunft des Kaisers die Glocken läuten. Laß einen Wächter beim Knaben und läute die Glocken ein wenig eher, damit der Knabe Zeit hat, aufzustehen, und er selbst die Glocken läuten kann, wenn der Kaiser kommt. Hast du verstanden?« — »Ich habe verstanden.« Die Kaisertochter ging fort, und während der Knabe schlief, war das Wunder geschehen. Der Knabe traute seinen Augen nicht, als er durch das Glockengeläute geweckt wurde.



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Der Berg war verschwunden, die Kirche stand in stolzer Pracht, und ein Mann stand neben ihm, der ihm sagte: »Steh schnell auf, der schwarze Kaiser kommt, steig auf den Kirchturm und läute die Glocken, damit er denkt, du habest alles gemacht.« Im gleichen Augenblick verschwand der Wächter. Der Kaisersohn stieg auf den Kirchturm und empfing den schwarzen Kaiser mit Glockengeläut. Vor Bewunderung küßte er den jungen Helden, nahm ihn bei der Hand und führte ihn nach Hause, wo sie zusammen speisten. »Schau, Gemahlin, auch diese Aufgabe hat er gelöst! Von mir aus ist er frei.« — »Nein«, sagte die Kaiserin, »von mir bekommt er noch eine Strafe, und diesmal wird er mir nicht entgehen. Ich freue mich schon auf den Braten.« In einer Ecke horchte Dianetta, und Tränen traten ihr bei diesen Worten ihrer Mutter in die Augen. »Los, du hast keine Zeit zu verlieren«, sagte die Kaiserin, »ruh dich aus, leg dich schlafen, morgen mußt du an die letzte harte Arbeit!« Er legte sich schlafen. Wieder in aller Frühe - die Hähne hatten noch nicht gekräht - stand er auf. Man gab ihm zwei Eierschalen in die Hand und führte ihn an die Donau. »Sieh, dieses große Wasser mußt du bis heute abend mit diesen Eierschalen ausgeschöpft haben, du mußt Korn säen, Backöfen bauen, das Korn ernten, mähen und mahlen und schließlich ganz warmes frisches Brot daraus machen und mir zu essen geben.« Der Kaiser ging wieder nach Hause. »Das ist mein Tod«, dachte der Knabe. Doch im stillen hoffte er auf Dianetta. »Nur habe ich Angst, daß sie diesmal nicht zu mir kommt und jemand anders zu mir geschickt wird, dann bin ich verloren.« Die Mittagszeit ging vorüber, niemand kam mit Essen. Nach angstvollem Warten kam endlich Dianetta und fand ihn weinend. »Was ist dir denn?« fragte sie und küßte ihn dabei. »Ach, mir war, als hättest du mich vergessen, denn ohne dich bin ich des Todes.« — »Niemals werde ich dich vergessen! Iß, leg dich schlafen und verlasse dich auf mich.« Sie drehte ihren Ring am Finger. Wieder fragte der Ring: »Was befiehlst du, Herrin?« —



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»Siehst du jenes große Wasser?« — »Ich sehe es.« — »Schöpfe bis heute abend dieses Wasser aus, säe und schneide das Korn, mache Mehl daraus, baue Backöfen und backe Brot. Wenn mein Vater heute abend kommt, laß schon frisches Brot im Backofen sein, wecke dann schnell den Knaben, damit er aufsteht und das Brot selber aus dem Backofen herausholt.« Und so geschah es. Der Wächter sah den Kaiser von ferne, weckte im selben Augenblick den Knaben, rief ihm zu: »Der Kaiser kommt!« und verschwand. Der Knabe erhob sich, holte schnell das Brot aus dem Backofen und gab dem Kaiser noch warmes Brot zu essen. Der Kaiser wollte seinen Augen nicht trauen. Das Wasser war ausgetrocknet. »Du sollst leben 1, junger Held. Nun bist du frei.« Als er mit ihm nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: »Gemahlin, auch dieses große Wunder ist vollbracht. Ich kann dir frisches Brot überreichen.« — »Mag er dir meinetwegen entronnen sein, ich lasse ihn nicht, ich fresse ihn.« Für die Nacht gab sie ihm ein Zimmer, wo er allein schlief. Dieses Zimmer lag aber neben dem Dianettas. Heimlich sagte sie zu ihm: »Heute nacht um zwölf werde ich dich wecken, du mußt mit mir von hier fliehen, denn meine Mutter will dich fressen.« — »Ich stehe schon auf, gutes Mädchen.

Dianetta erhob sich und klopfte leise an die Tür: »Schnell, schnell, denn jetzt kommt der Tod, los, wir fliehen!« Beim Weggehen spuckte sie ins Haus und gab dem Speichel den Befehl: »Speichel, antworte du für mich, wenn meine Mutter nach mir ruft!« Sie eilten, was sie konnten, in der Richtung jenes Loches, das den Kaisersohn verschlungen hatte. Sie gelangten endlich auf den Weg, der an jene Stelle führt, und Dianetta hob den Kaisersohn hinauf auf die andere Welt und stieg selbst nach. Jetzt durfte der junge Held mit den Füßen die Erde berühren, es geschah ihm nichts. So waren sie auf dem Wege zu seinem Vater, dem weißen Kaiser.

1 Zigeunerischer Gruß: »Te traïs!« — »Du sollst leben!« Derselbe Gruß findet sich in entsprechender Übertragung bei allen Völkern des Balkans.



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Bevor sie jedoch zum Erdloche kamen 1, hatte sich die Mutter Dianettas in der Nacht erhoben und rief nach ihrer Tochter. Der Speichel antwortete an ihrer Stelle: »Hier bin ich, Mutter«, obwohl sie in Wirklichkeit gar nicht da war. Dreimal rief sie nach ihrer Tochter. »Warum schläfst du denn gar nicht?« Und als es ihr verdächtig war, ging sie hinaus und schlich sich in die Kammer ihrer Tochter und sah zu ihrer großen Verwunderung, daß Dianetta gar nicht da war. »Aha, ihr Speichel hat an ihrer Stelle geantwortet«, sagte sie sogleich, und als sie bemerkte, daß der Kaisersohn auch verschwunden war, sagte sie: »Sie ist in ihn verliebt, und sie hat alle Arbeiten vollbracht, die doch für den Knaben Strafen sein sollten.« Sie eilte zu ihrem Gemahl und berichtete, daß Dianetta verschwunden sei und daß sie alle Aufgaben des Knaben gelöst habe. »Beeile dich, schicke Boten ihr nach, daß wir sie einholen!« Sofort wurden Boten ausgesandt, die die Spur der beiden ausfindig machen sollten. Sie fanden sie auch. Dianetta brannte es auf dem Rücken. »Mir brennt es wie von einem Sonnenstrahl auf dem Rücken, Scarlat«, sagte Dianetta, »schaue dich um, was da so sehr brennt.« Und siehe, es war ihr Vater, der solche Wirkung auf sie ausübte. Da sagte das Mädchen aus Furcht: »Ich kehre zu meinem Vater nach Haus zurück.« — »Warum willst du nach Haus?« — »Und ich frage dich, warum soll ich nicht, denn du vergißt mich ja doch.« — »Ich vergesse dich nie und nimmer.« — »Du sagst, daß du mich nicht vergißt, ich weiß es aber, daß du mich doch vergißt. Sag schnell, was soll ich dir noch zu Gefallen tun?« Während sie so fragte, nahm sie den Ring, drehte ihn am Finger, und sofort hörte man eine Stimme: »Was befiehlst du, Herrin?« — »Mache aus ihm einen Garten von Dornensträuchern und aus mir eine Rose zwischen lauter Dornen.« Der Vater hatte sie endlich eingeholt. Da stand er nun und



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schaute nach allen Richtungen und konnte sie nicht erblicken. Er sah zwar eine Rose zwischen bunten Dornen und einen Garten von Dornensträuchern. Aber er erkannte sie nicht. So sehr er auch suchte, er fand seine Tochter nicht. Da sagte er: »Ich sehe sie ja doch nicht, an ihrer Stelle will ich wenigstens Sultana eine Rose mitbringen.« Und als er die Hand nach der Rose ausstreckte, da stach er sich fürchterlich in die Hand und zog sie schnell zurück; sie war über und über mit Blut bedeckt. Ohne Dianetta und ohne Rose mußte er wieder heimkehren. »Wie, du hast nichts gesehen?« — »Nein, Gemahlin, ich habe nichts bemerkt, ich habe nur eine Rose und einen Garten von Dornensträuchern gesehen.« — »Ach Gott, warum hast du sie denn nicht gebrochen?« — »Ich wollte schon, ich wollte sie um jeden Preis, aber ich habe mich so an den Dornen gerissen, sieh, wie meine Hand aussieht!« — »Merkst du nicht, daß es deine Tochter war, die nicht mit dir wollte? Jetzt schicke gleich Sultana ihr nach!«

Sultana fand die Spur und erreichte die beiden. Wieder sagte Dianetta: »Mein Rücken brennt mir arg. Gucke dich einmal um, wer hinter uns kommt.« — »Nur eine Frau.« — »Das ist meine große Schwester Sultana, jetzt aber gehe ich mit ihr nach Haus.« — »Nein, meine Liebe, tue das nicht.« — »Und doch gehe ich, du vergißt mich ja doch; ich verlasse jetzt meine Eltern und gehe mit dir. Wen habe ich denn, wenn du nicht mehr bist und du mich doch vergessen hast?« — »Ich werde dich nie und nimmer vergessen, meine Liebe.« — »Nun gut, ich will es dir nochmals zu Gefallen tun und bei dir bleiben.« Bei diesen Worten drehte sie wieder an ihrem Ring, und siehe da, es entstand unter ihren Augen eine Kirche. Ganz einsam stand sie, und das war Dianetta. Scarlat aber wurde zu einem alten ehrwürdigen Popen, der wohl an die hundert Jahre alt sein mochte. Sein wallender Bart hing ihm bis an den Gürtel, seine Augenbrauen wurden mit Hirtenstäben offen gehalten, daß sie nicht herunterfielen. So alt war er. Er hatte schon die Hundert überschritten. Da kam



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auch gerade Sultana, die ältere Schwester, zu der Kirche daher. Sie fragte den Popen: »Ehrwürdiger Vater, habt Ihr nicht ein Mädchen und einen jungen Burschen hier gesehen?« Der Pope antwortete ihr: »Nein, Mädchen, ich habe niemand hier gesehen, ich bin an die hundert Jahre alt geworden, und auch die Kirche hat diese Zeit über niemand hier vorübergehen sehen. Geh nur nach Hause!« Sie kehrte nach Hause zurück und sagte ihrer Mutter, was ihr begegnet sei. »Wen hast du unterwegs getroffen?« — »Einen Popen und eine Kirche, der Pope war wohl an die hundert Jahre alt.« Da sagte ihre Mutter: »Warum hast du nicht Hand an den Popen gelegt; denn der Knabe war der Pope.« — »Ich habe das nicht gewußt.« — »Halt, jetzt will ich nun gehen, mir werden sie nicht entwischen«, sagte die schwarze Kaiserin. »Ich werde sie schon kriegen, alle beide werde ich sie zurückbringen!« Nun brach auch sie auf. Wieder fühlte Dianetta ein Brennen auf dem Rücken. »Es brennt mir gar arg auf dem Rücken, Scarlat. Guck dich einmal um! Das ist meine Mutter«, sagte Dianetta. »Jetzt aber kehre ich mit meiner Mutter zurück.« — »Nein, meine Liebe, bleib, du bist jetzt meine Frau.« — »Gut, ich werde, wenn's sein muß, die Mutter töten.« Sie befragte den Ring, der aus dem Knaben sofort einen großen Teich machte und sie selber in eine Ente verwandelte, die sich auf dem großen Teiche tummelte. Gerade kam die schwarze Kaiserin an das Wasser und erkannte die Ente als ihre Tochter und redete ihr gut zu: »Komm zu deiner Mutter, Dianetta!« Aber die Ente hörte nicht auf die gutgemeinten Lockrufe, sondern machte immer nur: »Quak, quak, quak.« Dreimal rief ihre Mutter, und vor Arger, daß die Ente nicht zu ihr kam, trank sie das ganze Wasser aus, es blieb nur ein ganz winzig kleines Fleckchen, aus dem die Ente gerade noch so heraus konnte. Als die Ente sah, daß ihre Mutter das ganze Wasser ausgetrunken hatte, überschlug sie sich einmal, wurde wieder zum Mädchen und drehte im selben Augenblick an ihrem Ring. Der fragte sie: »Was befiehlst du, Herrin?« —



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»Töte meine Mutter!« So tötete er denn ihre Mutter. Das ganze Wasser, das sie getrunken hatte, floß wieder aus ihrem Körper heraus. Nur so konnte sie wieder den jungen Helden zum Manne machen. Als Dianetta nun die schwarze Kaiserin tot liegen sah, sagte sie zu Scarlat: »Glaubst du nun, daß ich meine Mutter nur aus Liebe zu dir getötet habe, da ich zu dir halten will! Wirst du mich jemals vergessen?« Er sagte: »Nein.« — »Nun dann gehe ich immer mit dir, was auch immer uns treffen werde. Zurück kann ich nun nicht mehr; denn ich habe meine Mutter umgebracht.« Sie gelangten zu dem Loche, wo der Erdboden den Knaben verschlungen hatte. An jener Stelle sagte das Mädchen zu ihm: »Ich habe dich zu dem Loche geführt, wo dich der Erdboden verschlungen hat. Heidi, geh nach Hause, steige hinauf in die andere Welt.« — »Wie! nur ich allein? Heidi, auch du mit mir!« — »Ich komme in drei Tagen nach. In drei Tagen kannst du mich von hier holen. Geh du erst mal allein zu deinem Vater.« Er schlüpfte zum Loche hinaus und fand das Pferd an der Stelle noch vor und auch die Kappe. Jezt durfte er auf dem Erdboden gehen. Er gelangte wieder zu seinem Vater und zu seiner Mutter, der weißen Kaiserin. Als beide ihn sahen, gerieten sie außer sich vor Freude, sie küßten ihn und ließen ihn nicht wieder los. Er küßte die ganze Familie. Unter all der Freude des Wiedersehens vergaß er ganz, was er Dianetta versprochen hatte. Er hatte sie völlig vergessen. Drei Tage später wollte er sich verheiraten, vielmehr wollte sein Vater ihn verheiraten. Nun rate mal mit wem? Er wollte, daß sein Sohn die Tochter des roten Kaisers nähme, die eigentlich doch seine Schwester war! Bald darauf wurde nun die Verlobung angesetzt, bald danach die Hochzeit in der Kirche. Als gerade der Brautführer mit der Braut in die Kirche gegangen war, kam Dianetta ganz allein aus dem Loche, drehte den Ring am Finger herum und ließ ein großes Wasser entstehen, das sogar bis in die Kirche drang. Es stieg und stieg den Leuten bis zum Hals. Das Brautpaar konnte daher nicht getraut werden. Dianetta aber



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fuhr mit einem Karren, der mit Ochsen bespannt war, übers Wasser und fuhr mit dem Karren in die Kirche und führte die Braut mit dem Brautführer ungetraut von der Kirche nach Hause. Dann kehrte sie wieder um, band einen Kranz aus Blumen, schrieb ein paar Zeilen 1 und steckte sie in den Blumenstrauß, den sie Scarlat geben wollte. »So, Scarlat, so hast du dein Wort gehalten, du hast mich ganz vergessen und am Loche zurückgelassen. Warum hast du nicht zu mir gehalten, ich habe doch zu dir gehalten und habe meine Familie für dich geopfert!« Darauf gab sie ihm unerkannt und verkleidet den Strauß und einen anderen der Braut. Als er den Duft der Blumen einatmen wollte, fand er den Brief darin versteckt. Er nahm ihn, las ihn, und als er sah, daß er von Dianetta war, fiel er ohnmächtig zu Boden. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, spannte er Pferde vor den Wagen, und heidi ging's fort in rasender Eile. »Kommt alle mit mir zu dem Loche, wo die Erde mich verschlungen hat.« Er brach auf und fuhr lange und weit, um Dianetta von dort abzuholen 2. Er kniete vor ihr nieder und bat sie um Verzeihung. Sie sagte: »Von mir sei dir verziehen. Ich wußte ja, daß dich deine Familie nicht fortlassen und dich herzen und küssen würde, so daß du mich darüber ganz vergessen hast. Wie ich hier einsam und verlassen auf dich wartete! Nun ist es ja vorbei.« Er nahm sie, brachte sie mit nach Hause und machte mit ihr Hochzeit. Zu dieser Hochzeit waren alle Kaiser der Welt geladen. Was machte Dianetta? Sie ging zu Scarlats Vater, dem weißen Kaiser, der jetzt ihr Schwiegervater wurde, und sagte ihm alles, was sie wußte. »Das mußte so kommen; denn diese ist Scarlats Schwester, die der Amme, während sie mit ihr an der frischen Luft spazierenging, geraubt



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wurde. Eine Bande Zigeuner hat sie gestohlen und hat sie dem roten Kaiser gebracht, der keine Kinder hatte. Sie ist also deine Tochter und meine Schwägerin und Scarlats Schwester. Sie wuchs beim roten Kaiser auf bis zu dem Augenblick, wo Scarlat sie zur Hochzeit holte. Sie ist die Schwester meines Gatten. Wie durfte das geschehen, daß ein Bruder seine Schwester zur Gemahlin genommen hätte? Da habe ich alles wieder in das rechte Geleise gebracht. Ich habe verhindert, daß Scarlat seine Schwester heiratete.« Da fragte sie der weiße Kaiser, wie sie denn das gemacht habe. »Ich habe einfach ein großes Wasser kommen lassen, das bis in die Kirche drang, dann habe ich mir einen Wagen gebaut und habe euch alle nach Hause gefahren.« Der weiße Kaiser aber sagte zu ihr: »Nein, das kann ich nicht glauben; wenn du das kannst, zeig es uns. Laß Wasser bis in die Kirche dringen, laß den Wagen wieder übers Wasser fahren und lenke den Wagen wieder, daß wir alle dich sehen und uns überzeugen, daß es die volle Wahrheit ist. Kannst du das? Dann glaube ich dir auch, daß dieses meine Tochter ist«, und er zeigte bei den letzten Worten auf die angebliche Tochter des roten Kaisers. »Ihr sollt es alle sehen.« Der weiße Kaiser ging mit allen anderen Kaisern und allen Herrschaften hinaus. Dianetta drehte am Ring: siehe, da kam Wasser, und ein Karren mit Ochsen stand da. Sie setzte sich in den Karren und fuhr über das Wasser. Alle sahen das große Wunder, und niemand zweifelte mehr an der Wahrheit. So hatte der weiße Kaiser wirklich eine Tochter und einen Sohn. Er, der vorher nur einen Sohn hatte, den er verloren glaubte, hatte plötzlich drei Kinder. Aus einem waren drei geworden. Von wo ich hergekommen bin, habe ich erzählt. Ich bin wieder zum Anfang zurückgekehrt.


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