Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


30. Die Reise ins Totenreich

Es lebte einmal ein armer Zigeunerbursche, dem Vater, Mutter und auch die Geliebte im Laufe einer Woche gestorben waren. Trüben Herzens begrub er sie, konnte aber kein Totenmahl abhalten; denn er war so arm, daß er kaum von einem Tag auf den anderen leben konnte. Eine Woche nach dem Leichenbegängnis erwachte er in der Nacht, und es war ihm, als ob jemand an seinem Zelte rüttelte. Er fragte: »Wer ist da?« Darauf hörte er seinen Vater sagen: »Du hast mich begraben und mir keine Milch gegeben!« Die darauf folgende Nacht erwachte der Bursche wieder, und es war ihm, als ob jemand an seinem Zelte rüttelte. Er fragte: »Wer ist da?« Darauf hörte er seine Mutter sagen: »Du hast mich begraben und mir keine Milch gegeben!« Die nächste Nacht hörte er wieder jemanden an seinem Zelte rütteln, und er fragte abermals: »Wer ist da?« Darauf hörte er seine Geliebte sagen: »Du hast mich begraben und mir keine Milch gegeben!« Da wurde ihm gar schwer ums Herz, und er trat vor sein Zelt hinaus. Die Nacht war dunkel, und er konnte gar nichts sehen; doch hörte er seines Geliebte also sprechen: »Wenn du uns zur Ruhe bringen willst, so gehe hinauf ins Gebirge, dort findest du in einer Höhle drei Eier, diese nimm und öffne sie, wenn du es kannst; doch schwer wirst du dahin gelangen!« Darauf verschwand die tote Maid. Am anderen Tage zeitig in der Frühe machte sich der arme Bursche auf den Weg. Hoch oben im Gebirge traf er eine alte Frau an, die einen großen Sack mühsam auf dem Rücken trug. Der Bursche bedauerte sie und sprach: »Gebt her den Sack, ich will ihn euch tragen!« Die alte Frau übergab ihm den Sack, der Bursche



Zigeuner Maerchern-129 Flip arpa

nahm ihn auf seine Schulter und fragte die Alte, was sie darin bewahre, da ihm der Sack so leicht vorkomme. »Die Seelen totgeborener Kinder«, sagte die Alte, »ich pflege dieselben hinauf in das Reich der Toten zu tragen.« Kaum daß sie einige Schritte getan hatten, blieb die Alte vor einer Höhle stehen und sagte: »Wir sind angelangt!« — »Wieso?« fragte der Bursche, »so schnell?« — »Dir scheint es schnell«, sagte das alte Mütterchen, »obwohl du den Sack bereits seit neun Jahren auf deiner Schulter trägst.« Darauf erschrak der Bursche, die Alte aber fuhr fort: »Im Reiche der Toten vergeht die Zeit gar schnell, und, Freundchen, da befinden wir uns! Wenn wir auch nicht im eigentlichen Reiche der Toten sind, so haben wir doch schon seine Grenze überschritten. Ich weiß auch, warum du dich herbegeben hast! Hier gebe ich dir ein Stück Fleisch, einen Krug voll Milch, einen Schlüssel und einen Strick; mit diesen Sachen kannst du deinen Weg fortsetzen, und bald wirst du die Höhle erreichen, in die du zu kommen wünschest!« Hierauf übergab ihm die Alte ein Säckchen und verschwand. Der Bursche setzte seinen Weg fort und erreichte gar bald den Schlund einer dunklen Höhle. Er trat ein, und kaum war er vorwärts geschritten, als es ringsum hell wurde und er ein großes Haus vor sich stehen sah. Er öffnete das Tor und trat in den Hof, aber neun weiße Hunde stürzten sich wütend auf ihn. Er nahm aus dem Säckchen das Fleisch hervor und warf es den Hunden hin. Darauf ging er vorwärts und sah einen Brunnen, aus dem eine Frau Wasser schöpfte, indem sie einen an ihre Zöpfe gebundenen Eimer heraufzog und wieder in den Brunnen hinabließ. Er warf ihr den Strick hin, damit sie den Eimer an denselben binde, und fragte sie, wozu sie das viele Wasser schöpfe. »Für die Toten«, antwortete das Weib, »die von ihren Verwandten ungewaschen begraben wurden.« Darauf ging er weiter und öffnete mit dem Schlüssel die Tür des Hauses und trat in ein Zimmer, wo er drei Eier fand. Er brach das eine auf. Da schwebte Nebel ins Zimmer, und sein Vater trat vor ihn und sprach:



Zigeuner Maerchern-130 Flip arpa

»0, ich bin hungrig und durstig!« — »Komm in den Hof«, sagte der Bursche, »vor der Tür steht ein Krug voll Milch!« — »Ich danke dir«, antwortete der Vater, »aber jetzt ist es schon zu spät; wenigstens habe ich jetzt Ruhe und kann weiter ins Reich der Toten gelangen!« Mit diesen Worten verschwand er. Der Bursche öffnete nun das zweite Ei, und nun trat seine Mutter hervor und sprach: »0, ich bin hungrig und durstig!« — »Komm in den Hof«, sagte der Bursche, »vor der Tür, da steht ein Krug voll Milch!« — »Ich danke dir«, antwortete die Mutter, »aber jetzt ist es schon zu spät; wenigstens habe ich jetzt Ruhe und kann weiter ins Reich der Toten gelangen!« Mit diesen Worten verschwand sie. Da nahm der Bursche das dritte Ei in die Hand und ging hinaus in den Hof, wo er es neben dem Kruge zerbrach. Jetzt erschien seine Geliebte und sprach: »0, ich bin hungrig und durstig!« — »Hier ist Milch, mein Lieb«, sagte der Bursche und überreichte ihr schnell den Krug. Die Maid trank und wurde so schön wie die schönste Tochter des Sonnenkönigs. Als sie die Milch ausgetrunken hatte, sprach sie also: »Geliebter, du hast mich vom Tod erlöst, nun kehre ich mit dir zurück ins Leben und werde dein!« Und so geschah's. Sie kehrten vom schrecklichen Gebirge heim und lebten nun in Glück und Zufriedenheit miteinander, bis auch sie für ewige Zeiten ins Reich der Toten übersiedeln mußten.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt